Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
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Montag, 24. Juni 2019
Jenseits der Blogroll - 06/2019
Die Fundstücke und Leseempfehlungen des Monats. Ohne Schlaubi-Einleitung dieses Mal. Die Hitze.
Politik. Allein schon wegen dieses Absatzes muss man Jörg Schneiders Essay über das Phänomen des Rezo-Videos einfach gern haben:
"Da verwundert es nur wenig, dass sich die allgemeine Beliebtheit der gerne pauschal über einen Kamm gescherten Politikerkaste momentan irgendwo zwischen Anders Breivik, dem Weißen Hai und Bauchspeicheldrüsenkrebs eingependelt hat. Und da sind die mit allerlei Fahnenfirlefanz und empathischen Minderleistungen unterhalb des sozialen Gefrierbrandes agierenden rechtspopulistischen Evolutionsverweigerer, die sich offenbar in einer Art von selbstauferlegtem Wissenszölibat für ein Leben in kollektiver intellektueller Askese entschieden haben, noch nicht mal mit eingerechnet."
Leo Fischer: Was Nationalismus mit Milka-Schokolade gemein hat.
Bernhard Torsch über Robert Habeck, den momentanen kleinsten gemeinsamen Nenner der hiesigen Mittelschicht:
"Der vom Hairstyling bis zum letzten Halbsatz auf Optimismus und »Yes, we can« gebürstete Habeck personifiziert die politische Hoffnung einer deutschen Mittelschicht, die zwar lieber tot als rot wäre, aber immerhin ahnt, was sich da gerade weltpolitisch zusammenbraut, und nach einer systemkompatiblen Alternative zum Rechtsruck sucht."
Noch einmal zum Mitschreiben von Frau Mühlstein: Es! Gibt! Keine! 'Tamponsteuer'! Für alle, die es länger mögen, auch von Herrn Fischer.
Gesellschaft und Bildung . Ein Interview mit Svenja Flaßpöhler über den "moralischen Totalitarismus" der Identitätspolitik und die "militante Intoleranz von dauerbeleidigten Identitätslinken". Möchte man das meiste von einrahmen. Flaßpöhlers grundlegender Hypothese, dass der momentan praktizierte #Metoo-Feminismus zutiefst autoritär sei und letztlich antiemanzipatorisch wirke, ist zuzustimmen.
Oliver Hauschke ist seit 20 Jahren Gymnasiallehrer und will die Schule abschaffen. Natürlich sind Schulen und Lehrer nicht überflüssig. Aber sie neigen dazu, sich zuweilen deutlich wichtiger zu nehmen als sie sind. Dass sich 2007 elf Freiburger Schüler von der Schule abmeldeten und ihr Abitur in Eigenregie vorbereiteten, das sie 2010 erfolgreich ablegten, kann da zu denken geben. Bei der Schule geht es um wesentlich mehr als den bloßen Erwerb von Wissen und Fähigkeiten bzw. 'Kompetenzen'. Es geht auch darum, sich in ein System aus Regeln und Vorgaben einzupassen, um soziale Distinktion und um Gatekeeping. Deswegen wird das deutsche Bildungsbürgertum sein Gymnasium mit Zähnen und Klauen verteidigen, mag die Welt ringsum auch in Trümmer gehen.
Dazu passt: Michael Feindler: Ansichten eines Gymnasiasten (danke, epikur!). Es fällt mir nicht leicht, aber da erkenne ich vieles von dem wieder, was ich einst auf dem Gymnasium erlebt habe. Exakt so was haben sie uns damals auch eingetrichtert. Nicht alle, nicht immer (ich hatte auch tolle Lehrer), aber doch genug, um sehr lange zu brauchen, gewisse Haltungen infrage zu stellen und über den Haufen zu werfen.
Wo wir gerade dabei sind: Philipp Mausshardt über Schloss Salem, das sich zwar mit dem Image des Eliteinternats schmückt, letztlich aber bloß Funktionierer heranzüchtet.
Sonja Thomaser über das stetige Fortleben des NS-Mutterkultes (der nicht selten am lautesten von Frauen propagiert wird).
Kultur. Dorit Kowitz über Liz Taylor und Richard Burton, das zeitweise berühmteste Paar der Welt und deren Beziehung. Die könnte man durchaus mit dem Modewort 'toxisch' versehen. Und zumindest dem zeitlebens verkannten Intellektuellen Burton hat sie definitiv nicht gut getan.
Christian Schachinger nimmt Abschied von der Band Kiss - und damit endgültig vom Kinderfasching.
"Das sind Lieder, die man als Kind unter Bundeskanzler Bruno Kreisky geliebt hat, wenn einem damals AC/DC zu derb oder die Rolling Stones zu alt und die Ramones zu schnell waren."
Essen und Kulinarik. Wenn einem nach strapaziösem Frühwerk nach einem zweiten Frühstück ist oder in feuchtfröhlicher Runde zu vorgerückter Stunde irgendwann der Appetit auf Herzhaftes und Pikantes sich meldet, einem eine kalte Frikadelle aus der Metro mit Sempf* oder ein Solei aber zu wenig ist, dann kann man in Münsterländer Gaststätten seit jeher als warmen Imbiss ein Töttchen ordern. Dabei handelt es sich um ein Kalbsragout in einer hellen Sauce, das traditionell mit einer dicken Scheibe Brot gereicht wird. (So wie zu einem ebenfalls gern zum Gabelfrühstück oder als Mitternachtsimbiss genommenen Wiener Saftgulasch eine rösche Handsemmel gehört und nichts anderes.)
Töttchen war ursprünglich ein Arme-Leute-Essen. Wenn früher geschlachtet wurde, war es Brauch, den Kopf des Tieres nebst ein paar Knochen mit Fleischresten dran armen Leuten zu geben. Die schmorten das dann lange weich, futzelten alles irgendwie noch Essbare herunter, hackten es klein, damit die ekligeren Sachen nicht so auffielen, machten aus der Brühe eine Sauce und würzten kräftig. Und weil beim Garen Knochen und Bindegewebe im Spiel gewesen waren, schmeckte das auch richtig gut. So weit der Mythos der Entstehung.
Heute wird Töttchen meist aus schierem Fleisch gemacht und jeder macht‘s ein wenig anders. Mit der/den Ursprungsvariante/n dürfte das aber nur noch wenig zu tun haben, denn arme Leute werden in früheren Jahrhunderten kaum Gewürze wie Pfeffer, Nelken, Lorbeer und Kapern zur Hand gehabt haben. Egal. Lecker ist‘s trotzdem. Und so geht‘s.
Das ist Ihnen zu wenig sommerlich? Na, dann lesen's halt, wie Severin Corti sich durch das gastronomische Angebot diverser Wiener Freibäder testet. Interessant, wie man sich dort souverän am eigenen kulinarischen Anspruch verhebt. In dem Freibad, in dem ich sommers zum Schwimmen verkehre, steht an den Tagen im Jahr, an denen es ausreichend voll ist, ein Pommeswagen. Da gibt es Pommes mit Majo und/oder Ketchup sowie kalte Frikadellen aus der Metro mit Sempf. Ein Sommertag im Freibad ohne die Duftkombination aus Sonnencreme, Chlorwasser und Frittenfett ist keiner. Außerdem sind Pommes mit Ketchup vegan.
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* Nein, kein Schreibfehler. 'Sempf' ist etwas anderes als Senf. Der ist eine Delikatesse. Moutarde de Dijon von Edmond Fallot. Guido Breuers Monschauer. Händelmaiers Süßer (der einzig Wahre zu Weißwurst und Leberkäs). Colman's Mustard. Düsseldorfer ABB-Senf. Bautz'ner. Kremser. Die mittelscharfe, säuerliche, oft gefärbte Spachtelmasse hingegen, die tonnenweise aus Eimern auf Würste, Frikadellen und anderes geklatscht und aus Gewohntheit mitgegessen wird, ist eine Nummer für sich. Sempf eben.
2 Kommentare:
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"Es gibt ein demokratisches Recht darauf, rechts zu sein oder deutschnational. Sogar ein Recht, Dummheiten zu verbreiten wie die angebliche Islamisierung Deutschlands."
AntwortenLöschenDamaliger Vizekanzler und SPD-Chef Gabriel 2015 im STERN.
https://www.stern.de/politik/deutschland/spd-chef-gabriel-im-stern-interview-zu-pegida---es-gibt-ein-recht-darauf--deutschnational-zu-sein--3974978.html
Natürlich gibt es das Recht. Und das, das blöd zu finden.
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