Freitag, 26. Juli 2024

Sommerloch: Halbkritisches zu Olympia (3)


Meine früheste olympische Erinnerung datiert von 1972. Ich war als knapp Dreijähriger mit meinen Eltern und einer befreundeten Familie im Urlaub auf Texel. Mein Vater hatte extra den familieneigenen transportablen Telefunken-Schwarzweißfernseher mitgeschleppt. Also theoretisch war das Gerät transportabel. Das heißt, es hatte einen Griff. Aber man brauchte viel Kraft. Nachdem die Apparatur einige Minuten vorgeglüht hatte (nicht ausgeschlossen, dass die verbaute Bildröhre bereits zum Aufspüren feindlicher Bomberverbände gedient hatte), sah ich, wenn auch verschwommen, folgendes: Unter Trompetengeschmetter trugen junge Frauen in knielangen Dirndln Kissen mit Medaillen zu einem Siegerpodest. Die Medaillen wurden dann welchen für was umgehängt. Wenn ich fragte, hieß es: "Pscht!"

Mehr weiß ich nicht mehr. Natürlich entging mir auch das Attentat auf die israelische Mannschaft und die optimierungsbedürftige Performance der bayerischen Polizei.

1976 fanden die Spiele im kanadischen Montreal statt. Da war ich im Grundschulalter und interessierte mich nicht für Sport. Ich hätte eh immer dann, wenn es interessant wurde, Matratzenhorchdienst gehabt. So entging mir auch diese olympische Vorstellung der Herren Emerson (+), Lake (+) und Palmer:


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Moskau 1980 war aus westdeutscher Sicht ein Totalausfall. Denn die Spiele fanden 'Beim Russen'TM statt und Kanzler Schmidt hatte nicht nur beschlossen, Mittelstreckenraketen nachzurüsten, sondern sich auch dem Olympia-Boykott vieler westlicher Länder anzuschließen. Es gibt Athleten, die damals als sichere Medaillenkandidaten galten und daran noch lange knabberten. Ich hatte inzwischen begonnen, mich für Sport zu interessieren, hatte bereits die Winterspiele von Lake Placid größtenteils verpennt und war ehrlich gefrustet. Im Geiste haften geblieben sind mir nur die Bilder des Springreitturniers. Da wegen des Boykotts kaum qualifizierte Fachkräfte teilnahmen, wurden vor allem fleißig Hindernisse abgeräumt statt übersprungen, wie man im Westen süffisant reportierte.

Die Spiele von Los Angeles 1984 fielen in den letzten Familienurlaub, an dem ich teilnahm. Wir hatten uns mit Schulfreund G. und seiner verwitweten Mutter für drei Wochen in einem holländischen Seebad einquartiert. Und ich war endlich alt genug, um nachts Olympia zu gucken. Juhu! Dann der Schock: Unreif, wie wir waren, hatten wir irgendwie nicht mitbekommen, dass das IOC unter seinem neuen Supremo Juan Antonio Samaranch, einst Sportminister unter General Franco, die Spiele für Sponsoren geöffnet hatte und das ganz dicke Geld winkte. So nahmen wir fassungslos zur Kenntnis, wie die US-amerikanischen Gastgeber nicht nur die Eröffnungsfeier, sondern auch den Rest der Spiele in eine gruselige, bonbonbunte, voll durchkommerzialisierte Kitschorgie verwandelten, die Ohren und Augen weh tat.

Wie sich dort ein ganzes Land selbst feierte und man fand, dass die ganzen USA eine Goldmedaille verdient hätten, befremdete uns. Dass es Teil des von Ronald Reagan und seinen Beratern ins Werk gesetzten neoliberalen Programms war, soziale Verwerfungen mit dergleichen pathetischem Patriotismus zuzukleistern, war uns nicht bewusst. Weil die Sowjetunion, die DDR und andere ihr nahestehende Staaten sich für den Boykott des Westens vier Jahre zuvor revanchierten und der Veranstaltung fern blieben, holten die westdeutschen Athleten so viele Medaillen wie nie seit 1964, als man zuletzt gesamtdeutsch angetreten war. Störte aber nicht weiter. Wer nicht mitmachen wollte, fanden wir, hatte eben Pech gehabt.

Gefreut habe ich mich damals für die Hochspringerin Ulrike Meyfarth, die es schaffte, nach 1972 noch einmal Gold zu holen. Und über Elke Heidenreich. Die war in ihrer Rolle als Wanne-Eickeler Metzgersgattin Else Stratmann vom ZDF als Comic relief angeheuert worden und verballhornte Giorgio Moroders zahnarztbohrerhaften Themensong 'Reach Out For The Medal' in breitem Ruhrpöttisch mal eben zu 'Richard und datt Mädel'.

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'Meine' Spiele hätten eigentlich die in Seoul 1988 sein müssen. Wie die Winterspiele von Calgary einige Monate zuvor die waren, die ich, wohl altersbedingt, mit der größten Begeisterung von allen verfolgte. Waren es aber nicht. Ich hatte gerade meinen Zivildienst angetreten, musste tagsüber arbeiten, mitten in der Nacht aufstehen und kam daher wenn überhaupt nur am Wochenende mal zum gucken. In Erinnerung ist mir nur geblieben, dass Ben Johnson, ein kanadischer Sprinter mit der Statur eines Möbelpackers, des Dopings überführt, disqualifiziert und gesperrt wurde. Und dass Anja Fichtel Gold im Florettfechten gewann. Hilfreich beim Erinnern war übrigens, dass Frau Fichtel einige Zeit später ein paar Fotos ohne Fechtanzug von sich anfertigen ließ.

1992 war der Ostblock nicht mehr, die Annexion der DDR vollzogen und die westdeutsch dominierte Journaille übte sich in dem Spagat, sich patriotisch an den Medaillen zu berauschen, die die übernommenen Strukturen Ost lieferten, und gleichzeitig den DDR-Sport in toto als einziges staatlich gefördertes Dopinglabor zu diskreditieren. Das mag sogar nicht völlig falsch gewesen sein, doch blendete man ein wenig zu konsequent aus, dass auch die Leistungen pharmazeutisch vermeintlich blitzsauberer westdeutscher Athleten nicht allein von Disziplin, Müsli, Frühaufstehen und Waldlauf kamen. Und wenn doch einmal, dann war die Zahnpasta manipuliert.

Zum Fremdschämen ferner das penetrante Verhören von Athleten aus den neuen Ländern. Ob sie denn die Hymne auch schön fänden, ob sie sich denn auch schon gebührend gesamtdeutsch fühlten, wieso ihnen denn jetzt bitteschön nicht die Tränen kämen vor Glück und wie sie's denn mit dem Doping hielten. Die deutschen Medaillen wurden seither deutlich weniger, geblieben ist das übergriffige verbale Betatschen der Aktiven ("Was geht jetzt gerade in Ihnen vor? Was ist das für ein Gefühl? Was denkt man in so einem Moment?"). Das waren die Neunziger. Da war ich Student und hatte meist Besseres zu tun.

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Und heute so? Dass eine Stadt wie München mit zirka einer Million Einwohner Olympische Sommerspiele ausrichtet, ist kaum mehr denkbar. Die Anzahl der Wettkämpfe und der teilnehmenden Länder hat sich seit 1972 fast verdoppelt, die der Athleten ist um die Hälfte gestiegen. Trainer, Tross, Medienvertreter, Funktionäre dürften auch nicht weniger geworden sein. 2024 finden die nächsten Spiele in Paris statt und schon das dürfte interessant werden. Das Interesse der Öffentlichkeit scheint sich in Grenzen zu halten. Schon 2012 in London, immerhin die größte Stadt Westeuropas, hatte man Probleme, die Tribünen voll zu kriegen, weil kaum jemand sich interessierte oder sich das leisten konnte oder wollte.

Irgendwann fing das auch an, dass jeder Austragungsort aufs Neue die nachhaltigsten und grünsten Spiele aller Zeiten verspricht. Weil der Aufwand aber immer größer wird, beschränkt sich das meist darauf, den Beton mit Holz zu verkleiden und dass Sponsoren wie Mäckes und Coca Cola Recyclingbesteck und -becher ausgeben. Ironischerweise dürften die Spiele von Tokio 2020/21 die grünsten aller Zeiten gewesen sein, weil sie seuchenbedingt fast ohne Zuschauer stattfinden mussten. Das sollte eine Menge Autokilometer und Flugmeilen gespart haben. Interessant übrigens, wie wenig mir das weitgehende Fehlen von Zuschauern aufgefallen ist.

2028 ist noch einmal Los Angeles dran, 2032 zieht der Zirkus dann ins australische Brisbane. Wenn das Wetter mitmacht. Schon im klimatisch eigentlich gemäßigten Tokio war es im August so heiß, dass die Langstreckenwettbewerbe ins nördlichere Sapporo verlegt werden mussten. Immerhin: Spiele in einem arabischen Emirat oder einer Diktatur dräuen bis auf weiteres nicht.

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Jetzt also Paris. Werde ich gucken. Bei Gelegenheit. Klar, rechte Begeisterung bekomme ich nicht mehr hin für das große Gesportel. Aber einer gewissen Sympathie kann ich mich auch nicht erwehren. Allem Kommerz, Medientrubel und Doping, allen Safteleien national besoffener Kommentatoren zum Trotze, nehmen nämlich immer noch zu viele Athleten teil, deren Sportarten nur einmal alle vier Jahre kurz im Lichte der Öffentlichkeit stehen. Die sich nicht des Geldes wegen schinden, weil sie von ihrem Sport nicht leben können und erst recht nicht reich werden damit. Um die fände ich's durchaus schade. Und mich packt immer noch der Gedanke, dass es möglich ist, möglich sein muss, dass die Welt wenigstens für zwei Wochen mal friedlich zusammenkommen kann. Eine Illusion, gewiss. Denn während der Spiele wird überall auf der Welt munter weiter gemordet, unterdrückt und ausgebeutet. Aber auch eine schöne Illusion. Ohne die macht doch alles keinen Sinn.

Alle zwei bis vier Jahre wieder erscheinen auch irre schlaue Kolumnen und Glossen superkritischer Geister mit Forderungen, den ganzen Kram einfach abzuschaffen. Wie die ebenso zuverlässig am Ende jeden Jahres erscheinenden Weihnachtshass-Kolumnen. Je weiter man die Dreißig überschritten hat, desto unorigineller und vorhersehbarer erscheint mir's. Ersatzloses Abschaffen der Olympischen Spiele wäre eine dieser symbolischen Gesten, die kein einziges Menschenleben auf der Welt auch nur einen Deut besser machte. Wäre das so, ich forderte heißen Herzens mit.

Olympia, das ist eben wie dieser alte, von Oma geerbte Teppich. Er passt längst nicht mehr wirklich zur Einrichtung, mufft schon ein wenig, ist fadenscheinig und stellenweise ausgelatscht bis durchsichtig. Seit Ewigkeiten nimmt man sich vor, das Ding zu entsorgen und vergisst es dann wieder. Meist liegt er einfach so rum und stört nicht weiter, alle paar Jahre fällt einem auf, dass er immer noch da ist. Und dann bringt man's doch nicht übers Herz.



Dieser Beitrag erschien hier zuerst am 5. August 2021 und wurde am Ende aktualisiert.









2 Kommentare:

  1. Und die Reiter fallen momentan schon vor Olympia durch einen Skandal nach dem anderen auf - was mich ärgert, da man sich schon als Freizeitreiter anhören muß, daß man Tierquäler ist! Aber ansonsten denke ich wie bei der EM - hoffentlich ist es bald vorbei. Ansehen werde ich nichts - auch nicht das Reiten.

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  2. München 1972: Ich bekomm immer noch Gänsehaut, wenn ich das sehe. https://www.youtube.com/watch?v=Ezx74WoS0AI

    Dietrich war zu der Zeit 39, Taylor 21 Jahre alt.

    Und diese alte traditionell olympische Sportart wollten sie wegen niedriger Zuschauerzahlen abschaffen.
    (Ringerfan.)

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