Was für ein Herdentier der moderne
Mensch ist, lässt sich sehr schön an Dingen sehen von denen, niemand je geglaubt hat, dass sie jemals in Mode kommen würden. Zum Beispiel Biathlon. Früher war das eine Veranstaltung, die fast unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattfand, abgesehen von ein paar angeglühten
Einheimischen, die ihren Kater vom Vorabend auslüfteten. Aktiv wurde
das betrieben von knorzigen Naturburschen mit seltsamen Namen wie
Peter Angerer und Eirik Kvalfoss, die, wenn sie denn redeten,
unverständliches Idiom sprachen und auf Langlaufskiern einsam durch
verschneite Wälder ächzten. Alle paar Kilometer wurde angehalten,
der auf dem Rücken mitgeführte Schießprügel zur Hand genommen und
auf schwarze Scheiben geschossen, die bei dichtem Schneetreiben in
der Ferne kaum auszumachen waren. Es wirkte alles so skurril und auf
so rührende Weise altmodisch, dass es mich nicht überrascht hätte,
wenn da mit Vorderladermusketen rumgeballert worden wäre.
Ein kurzes sonntägliches Zappen durch
die Kanäle offenbarte es mal wieder: Gegen das, was heutzutage beim
Biathlon abgeht, ist das Dortmunder Westfalenstadion an einem
Heimspieltag geradezu eine Oase der Ruhe. Biathlon ist offenbar hip
bzw. angesagt. Das bedeutet, es zieht ein junges, erlebnishungriges
Publikum der werberelevanten Zielgruppe an. Das wiederum bedeutet,
dass eben dieses Publikum es zu einer Jubel-, Kreisch- und Brüllhölle
degeneriert hat. Und wenn mal zwischendurch zwei Sekunden Ruhe
herrscht, dann bölkt ein eigens angemieteter Anheizer mit Mikrofon
die Menge an, gefälligst mal etwas lauter zu sein.
Dieses Schicksal teilt Biathlon mit
anderen Sportarten, wie etwa dem Skispringen. Dort stürzten sich bis
in die Achtziger leichtgewichtige Bubis, von denen die meisten
aussahen, als dürften sie noch nicht Auto fahren und die von dem,
was sie da taten, nicht leben konnten, unter höflichem Applaus des
Publikums halsbrecherisch steile Hänge hinunter. Bei der
Vierschanzentournee wurde es mal lauter, weil zur Anfeuerung
traditionell die landestypischen Kuhglocken geschwungen wurden. Die
Sieger kamen normalerweise entweder aus der DDR und redeten Sächsisch
oder aus Finnland und hatten ein Alkoholproblem. In den späten
Neunzigern kamen auf einmal ein paar Deutsche zu Erfolgen und
plötzlich erkannte werbetreibende Industrie und Veranstalterbranche,
welches Vermarktungspotenzial dort begraben lag. Dann kam RTL und
kaufte die Übertragungsrechte, was alles noch schlimmer machte. Das
Neujahrsskispringen in Garmisch, einstmals ein hervorragendes, auf
der Couch liegend einzunehmendes Sedativum gegen den Neujahrskater,
war zum Event hochgejazzt worden. Was so viel heißt wie: lang, laut,
bunt und rummtata. Das Volk will schließlich was erleben. Mit einem
schnöden Sportereignis ganz ohne Showblöcke, Feuerwerk und dicken
Lautsprechern ist heute niemand mehr vom Sofa zu bewegen.
Etwas erleben, das heißt in diesen
Zeiten: Krach schlagen und die Umwelt behelligen. Im Rudel, noch
lieber in Massen. Denn der moderne Mensch hält es nicht aus mit sich
selbst und leise kann er auch nicht. Sie nennen es: Party machen und
Spaß haben. In der Praxis bedeutet das: Die Bierpulle im Anschlag
irgendwas vollgrölen. Wenn kein Rudel da ist und die Lärmbolzen
tatsächlich einmal allein sein müssen, zum Beispiel im Auto, dann
ballern sie sich die Birnen mit dämlicher Bummsmusik voll. Noch
nicht einmal Kinos sind vor ihnen sicher. Musste man sich früher nur
mit Quasselstrippen und Chipstütenraschlern herumärgern, hat man es
jetzt auch noch mit Hunderten im Dunkeln aufleuchtenden
Smartphone-Bildschirmen zu tun. Deren Besitzer, die zudem nicht in
der Lage zu sein scheinen, die Teile wenigstens auf lautlos zu
stellen, müssen schließlich ihre komplette
Facebook-Knalldeppenliste über das weltbewegende Ereignis, gerade in
einem Kino zu sitzen, auf dem Laufenden halten.
Auch den stillen November, den Monat
des Totengedenkens, halten sie nicht aus. Das ist ihnen nicht
zuzumuten. Allerheiligen ist bei vielen abgeschafft und durch
Helloween ersetzt, einen weiteren Vorwand, geräuschvoll die Sau
rauszulassen. Vielerorts haben die Kirchen ihren Widerstand, gegen
die Eröffnung der Weihnachtsmärkte vor dem letzten Sonntag des
Novembers, älteren Generationen als Totensonntag bekannt, resigniert
aufgegeben. Weil auch Gastronomie und Einzelhandel hervorragend an
den konsumfreudigen Partymachern verdienen, ließ sich eine so wenig
gewinnbringende Tradition kaum noch halten.
Zurück zum Sport: Tennis zum Beispiel
war mir immer unsympathisch. Nicht der Sport selbst - eigentlich habe
ich eine Schwäche für Sportarten, bei denen es gilt, einen Ball
möglichst kunstvoll über ein Netz zu befördern - sondern wegen der
Leute, die es spielten. Tennis war zu meiner Jugend etwas für
bornierte Oberschichtbälger und die Mitgliedschaft im Tennisclub
hatte für deren Familien oft weniger was mit Sport zu tun, sondern
es war in erster Linie ein Mittel, dem normal verdienenden Pöbel
unmissverständlich klarzumachen, dass man es geschafft hatte. Ab den
Neunzigern begann das Profitennis den Tatbestand der
Kindesmisshandlung zu streifen: Raffgierige Elternmonster drillten
nach dem Vorbild osteuropäischer Kunstturn- und Eiskunstlauftrainer
ihren Nachwuchs im Akkord zu hochgezüchteten, willenlosen
Balldreschmaschinen, von denen die viele inzwischen
verständlicherweise schwer einen an der Waffel haben. Eines aber ist
mir beim Tennis immer sympathisch gewesen: Dass der Schiedsrichter
ein zu ungebührlich sich benehmendes Publikum von Zeit zu Zeit zum
Fressehalten auffordert.