Dienstag, 16. September 2025

Kommunalwahlen NRW - 10 Thesen


1. Die Koalition in Berlin kann sich bestätigt fühlen.
CDU und SPD, die in Berlin die Regierungskoalition bilden, haben nur leichte Verluste gegenüber der letzten Wahl 2020 hinnehmen müssen (CDU -1,0 %, SPD -2,2 %). Das ist alles andere als eine Klatsche. Wenn diese Kommunalwahlen ein Stimmungstest für die Bundesregierung gewesen sein sollen, dann hat Schwarzrot ihn wohl bestanden.

"Die Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler war keine normale Wahl und seine Regierung mit der SPD ist keine normale Regierung; und eines der Probleme dieser Regierung ist, dass sie so tut, als sei die gegenwärtige Ausnahmesituation mit den bestehenden politischen Werkzeugen, mit dem alten Denken, mit den Leuten zu meistern, die ihre Karrieren gemacht haben in einer politischen Logik, die sich immer mehr als Ballast für demokratische Erneuerung erweist." (Georg Diez)


2. Migration war nicht das Thema Nummer eins. 
Oft heißt es, wenn die Regierungen mal härter bei Migration durchgriffen, dann erledigte sich das mit der 'A'fD auch schnell wieder. Das ist Unsinn. Nordrhein-Westfalen gehört zu den Bundesländern mit dem größten Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Die 'A'fD konnte hier zwar erhebliche Zugewinne verzeichnen, blieb aber insgesamt um die 10 Prozent hinter den aktuellen Umfrageergebnissen im Bund zurück. Ein blauer Durchmarsch sieht anders aus. Zumal die Blaunen nach dieser Logik umgekehrt in Bundesländern mit sehr geringer Migrationsquote kaum eine Chance haben dürften. Das ist in den neuen Ländern definitiv nicht der Fall. Die Zugewinne der 'A'fD dürften sich vor allem aus der Gruppe der Nichtwähler:innen rekrutiert haben, denn die Verluste von CDU und SPD waren, wie gesagt, gering, und es ist nicht davon auszugehen, dass sonderlich viele von den Grünen und den Linken gekommen sind.

3. Gelsenkirchen ist nicht NRW. Oder: Wer Gelsenkirchen sagt, sollte auch Bochum sagen.
Es ist eine beliebte Propagandatechnik, ein Extrembeispiel herauszugreifen und das als repräsentativ fürs Ganze auszugeben. Gelsenkirchen muss immer wieder dafür herhalten, wenn es gilt, Untergangsszenarien in besonders grellen Farben zu illustrieren. Nur ist das aber auch so, dass auch dort, wo es natürlich schlimme Ecken gibt, wie in der Dortmunder Nordstadt und anderen Problembezirken, die Arbeitslosigkeit, die in den Nullern und frühen Zehnern mal bis zu 25 Prozent betrug, sich inzwischen mehr als halbiert hat. Im benachbarten Bochum lief es anders. Dort sind 2006 und 2016 bei Nokia und Opel tausende Jobs weggebrochen. Inzwischen wurde das mehr als kompensiert und auf dem Gelände des ehemaligen Opel-Werks arbeiten mehr Menschen als 2016. Das hohe 'A'fD-Ergebnis in Gelsenkirchen zum landesweiten Menetekel hochzujazzen, ist ungefähr so sinnvoll, wie aus der Tatsache, dass München seit Jahrzehnten von SPD-Bürgermeistern regiert wird, abzuleiten, dass die Sozis bald schon ganz Bayern übernehmen werden.

"Was für ein Quatsch das mit den Identitäten ist, lässt sich sehr schön am Beispiel meines heimatlichen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erkennen. Das ist ein komplettes Kunstgebilde, in dem man 1948 so grundverschiedene Menschenschläge wie barock-lebenslustige Rheinländer, erzkatholische Münsterländer, halbpolnische Pottis, steife Westfalen, stockprotestantische Ostwestfalen, dorfige Sauer-, Lipper- und Siegerländer und noch ein paar andere ohne Diskussion einfach zusammengepfercht hat, ohne dass die Welt darob untergegangen wäre. Hält. Funktioniert irgendwie, bis heute." (Myself)

4. Die CDU kann sich vor allem bei Hendrik Wüst bedanken.
Dass die CDU stabil geblieben ist, hat sie vor allem dem im Land Nordrhein-Westfalen weitgehend geräuschlos und ohne großes Aufhebens regierenden Hendrik Wüst zu verdanken, der einen wohltuenden Kontrast bildet zu Grünen und Wurst fressenden Kulturkämpfern und dem politischen Leichtmatrosen Merz.

5. Was kann die SPD auch groß tun?
Wenn man der SPD vorwirft, sie vernachlässige ihre Kernklientel, die (organisierten) Arbeiter:innen nämlich, und mache damit die Rechten stark, dann muss man fragen: Welche Arbeiter:innen denn bitte? Gerade noch etwas mehr als 20 Prozent der Arbeitnehmer:innen in NRW arbeiten im produzierenden Gewerbe. Die Montanindustrie ist bis auf Ausnahmen wie ThyssenKrupp (Duisburg) weitgehend abgeräumt, Chemie- und Automobilindustrie (Ford in Köln) bauen permanent Stellen ab. Die Zeiten, in denen ein knallrotes Ruhrgebiet sicher jede Landtagswahl gewann, sind definitiv vorbei. Klar, man könnte sich mit sozialeren Reformen bei Bürgergeld und Arbeitsvermittlung hervortun, nur hat man das in der Ampelregierung getan und ist damit vor die Wand gelaufen. Nicht nur wegen der obstruktiven FDP, sondern auch, weil eine große Mehrheit der Bevölkerung schärfere Sanktionen beim Bürgergeld durchaus befürwortet. Schwierig, da Wahlen zu gewinnen. Zukunftsträchtige Jobs generiert man zudem in den Bereichen Forschung und grüne Technologie. Schwierig in Zeiten, in denen man einen Shitstorm auslöst, wenn man das Wort 'grün' bloß in den Mund nimmt.

6. Apropos: Die Grünen haben ein gutes Ergebnis erzielt.
Nordrhein-Westfalen war nie eine grüne Hochburg. Die Grünen sind vor allem eine Partei der urbanen Zentren, wie die Ergebnisse in Köln und Münster zeigen. Das aktuelle Ergebnis von 13,5 % stellt zwar einen herben Verlust gegenüber 2020 dar, als man 20 % erzielte, ist jedoch das zweitbeste Ergebnis bei Kommunalwahlen überhaupt. Es spricht einiges dafür, dass die Grünen wieder auf ihre Kernklientel von 10-15 % geschrumpft wurden. Das mag schmerzen, ist aber nicht die befürchtete Katastrophe.

7. Apropos: Auch die 'A'fD konnte vor allem mal ihre Kernklientel mobilisieren. Aber...
Die 'A'fD kam landesweit auf etwa 15 Prozent der Stimmen. Das entspricht etwa den Prognosen und sollte keinen ernsthaft überrascht haben. Schon die erste SINUS-Studie 1981 hat gezeigt, dass 13 Prozent der Westdeutschen damals ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild" hatten. Nur waren rechtsextreme Parteien da meist ziemlich armselige Veranstaltungen, die rhetorisch wie ästhetisch allzu unverhohlen an die NS-Zeit anknüpften und sich auch meist wegen der mönströsen Egos diverser Protagonisten nach kurzer Zeit wieder selbst aus dem Spiel nahmen. Das ist bei der 'A'fD anders. Die in Teilen gesichert rechtsextreme Partei ist für entsprechende Milieus wählbar und bemüht sich gleichzeitig mit Erfolg um Anschlussfähigkeit im bürgerlichen Lager. Dass die 'A'fD in NRW deutlich unter dem Bundesdurchschnitt geblieben ist und auch keinen Bürgermeister:innen- oder Landratsposten gewinnen konnte (die Stichwahlen dürften die jeweiligen Kandidat:innen verlieren), ist allerdings kein Grund zur Entwarnung: Die 'A'fD ist in einem Drittel der Kommunen mangels Kandidaten und Strukturen (noch) gar nicht erst angetreten. Da kann sich noch einiges ändern.

8. Die FDP spielt bis auf weiteres keine Rolle mehr.
Und das hat sie sich ehrlich erarbeitet. Indem man 'liberal', allen Warnsignalen zum Trotze, vor allem mit 'neoliberal' übersetzte, bevor man kurz vor der Bundestagswahl noch hastig auf den 'Hau den Migranten!'-Zug aufsprang, hat man so lange einen Vibe Shift verpennt, bis es zu spät war.

9. BSW und Linke -- eine Art Symbiose. Im Bund.

Auf Bundesebene agiert die Linke spätestens seit dem Bundestagswahlkampf sehr klug. Besetzt wichtige Themen wie Wohnen/Mieten, soziale Gerechtigkeit etc., erweist sich, wenn es drauf ankommt, als absolut staatstragend und hat das Glück, dass sie es bequem dem BSW überlassen kann, sich mit allzu derber 'Israelkritik' oder Putin-Kuschelei den Mund zu verbrennen. Nur hat das BSW in Nordrhein-Westfalen halt keinen Blumentopf geholt. Was für sich genommen auch nicht wirklich eine schlechte Nachricht ist. 

10. Satire nutzt sich ab und ist allein kein auf Dauer tragfähiges politisches Konzept.
Okay, die PARTEI hat auch in meinem Heimatsprengel ein paar echt witzige Plakate gemacht. Und sonst so? Sitzen im Stadtrat und machen politische Arbeit. Was auch sonst? Politik ist eben keine Spaßveranstaltung, sondern hat etwas mit dem realen Leben sehr realer Menschen zu tun. Nirgends wird das deutlicher als in der Kommunalpolitik. Da mögen Sibylle Berg und Martin Sonneborn im Raumschiff Brüssel/Straßburg noch so luzide entlarven, was für eine korrupte Nonsensveranstaltung diese EU doch ist. Auf die ich übrigens trotz allem nicht verzichten mag.








4 Kommentare :

  1. Gute Analyse, danke dafür. Und Georg Diez ist ein kluger Mann, danke auch fürs Zitat.

    PS.
    Wenn die gruseligen Galionsfiguren von CDU/CSU und SPD eins fürchten, dann ist das eine demokratische Erneuerung. Die könnte sie nämlich ihre Jobs kosten.

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  2. Der Hang zum Extremen ist leider Dauererscheinung in den Medien. Voyeuristisches eher negativer Coleur klickt und verkauft sich eben anscheinend besser und irgendetwas mit den Affen für Deutschland triggert eh vermeintlich. Die Bild hat nie anders funktioniert und andere Medien machen m.E. und subjektiv ebenfalls schon länger den Kniefall vor dem, was politisch kommen könnte oder es dringt vielleicht auch die Sicht der Schreibenden selber mit durch. Da bin ich nach wie vor der Ansicht, dass das vorzeitige Ende der letzten Regierung zu einem Gutteil auch dieser medialen Negativschreibe vor allem gegen die Grünen geschuldet war.

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  3. "die (organisierten) Arbeiter:innen"
    ... ich weiß aus gut unterrichteter Quelle, dass alle drei brav SPD gewählt haben.
    Zur "SPD-Herzkammer-Fabel" empfehle ich allen Interessierten, bei Wikipedia mal nach den NRW-Regierungen zu fragen. Bis auf die Ära Heinz Kühn sieht es meines Erachtens nach "komplettem Parteienspektrum" aus.
    Gruß Jens

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    1. Da liegen mir andere Quellen vor... ;-)
      @Siewurdengelesen. Das vorzeitige Ende der Regierung geht sicher zu Teilen auf das Konto von Springer. Zunmindest wenn ich mir die Schlagzeilen der Vierbuchstabengazette ansehe, die immer im Supermarkt an der Kasse platziert ist und vergleiche.
      @dndp: Ich bin auch sehr froh und dankbar, auf die Seite gestoßen zu sein.

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