Samstag, 16. März 2013

Der Agenda zum Zehnten


Man kann nicht pauschal sagen, dass die Agenda 2010 kein Erfolg gewesen sei, denn ein paar Gewinner gibt es schon: Die deutsche Exportwirtschaft und die Branche der Leiharbeitsfirmen wären da als erste zu nennen. Auch bei den Sozialgerichten braucht sich so schnell niemand Sorgen zu machen, dass die Auftragslage einbricht. Insgesamt aber gibt es eine Menge Verlierer. Viele stehen seit 2003 schlechter da als vorher: Wer arbeitslos wird, ist seitdem nur noch zwölf Monate entfernt vom Abstieg in die Armut. Wer einmal drinsteckt, sieht sich von vielen Seiten marginalisiert und als parasitärer Faulenzer diffamiert. Zu den Verlierern gehören auch, vergessen wir das nicht, Mitarbeiter der Jobcenter. Oft mangelhaft geschult und selbst prekär beschäftigt, müssen sie ein kompliziertes, lückenhaftes Gesetzeswerk voller Grauzonen auf Menschen anwenden, von denen sich viele in einer Krisensituation befinden. Die Kollateralschäden sind manchmal tödlich.

Dem Hartz-IV-Gesetzespaket lag unter anderem die Annahme zugrunde, dass Arbeitslose durch ihre von der Allgemeinheit alimentierte Existenz in eine Art Teufelskreis aus Untätigkeit und Passivität geraten, es also dringend geboten sei, sie nötigenfalls mit Druck dazu zu bewegen, überhaupt irgendeine Arbeit anzunehmen, alles weitere würde sich dann finden. Das wurde damals verkauft mit Slogans wie: Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit. Sozial ist, was Arbeit schafft. Die ganze Sache hatte nur einen Schönheitsfehler: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war und ist weniger eine Frage von Vermittlung und Qualifizierung. Denn die Jobs, in man die, die seitdem so nett Kunden geheißen werden, so effizient vermitteln wollte, gab es nie und es gibt sie bis heute nicht. Wie sollten sie auch? Wie sollen zum Beispiel neue Jobs im Dienstleistungssektor entstehen, wenn die Reallöhne eines Großteils der potenziellen Kundschaft kontinuierlich sinken? Aber das war auch gar nicht der Sinn der Sache. Es ging nie um etwas anderes als darum, einen Niedriglohnsektor zu schaffen, den Faktor Arbeit zu entwerten, den Sozialstaat auszuhöhlen, die Gesellschaft zu entsolidarisieren, en passant die Gewerkschaften zu schwächen und die soziale Balance des Landes in Richtung der Arbeitgeberseite zu verschieben.

Die Agenda 2010 war kein alleiniges Projekt der Schröder-Regierung. Die war nur der nützliche Idiot, den es brauchte, sie dem Volk mithilfe sozialdemokratischer Rhetorik unterzujubeln. Was 2003 letztlich ins Werk gesetzt wurde, war lange vorbereitet. Angefangen vom Lambsdorff-Papier, zog sich spätestens ab den 90er-Jahren die Litanei vom Reformstau, einem roten Faden gleich, durch alle Medien. Wo man hinsah und hinlas, wurden soziale Überversorgung, das Hochlohn- und Hochsteuerland Deutschland, die zu hohen Lohnnebenkosten und der in Fesseln liegende Arbeitsmarkt bejammert. Was man noch brauchte, war jemand, der in der Lage war, das unter den Bedingungen einer Demokratie auch durchzusetzen.

Die alte Tante SPD kann auf eine beeindruckende Tradition zurückblicken, sich von den wahrhaft Regierenden über den Tisch ziehen zu lassen. Geblendet von ihrem Wahlerfolg 1998 und dem leuchtenden Vorbild Tony Blairs, waren die Sozis allzu bereit, den neoliberalen Einflüsterungen auf den Leim zu gehen. So wurde die Agenda 2010 zu den größten Fehlern, die die SPD in ihrer jüngeren Vergangenheit gemacht hat. Zehn Jahre später ist klar, dass die Agenda in keiner Weise die Erwartungen erfüllt hat, die damals in sie gesetzt bzw. die geschürt wurden. Wer sagt, dank ihr ginge es Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern doch vergleichsweise prima, klammert bewusst aus, dass das angebliche deutsche Jobwunder nicht nur vor allem im Niedriglohnsektor, sondern auch auf dem Rücken eben jener europäischen Länder stattfindet. 

Nun ist Fehler machen menschlich. Jeder, der sich ehrlich und aufrichtig auseinandersetzt mit dem Mist, den er gebaut hat, verdient eine zweite Chance. Der erste Schritt wäre aber, einzugestehen, dass man überhaupt einen Fehler gemacht hat. Genau das aber passiert nicht in der SPD. Statt dessen benimmt sie sich wie ein Siebenjähriger, der dabei erwischt wurde, eine Scheibe zerschossen zu haben: Wie? Nicht gut jetzt? Okay, aber ich war's nicht. Weil sich bei den etablierten Parteien das fatale Credo durchgesetzt hat, dem deutschen Wahlvolk sei nichts so wichtig wie Geschlossenheit, innerparteiliche Auseinandersetzungen seien ihm daher unter keinen Umständen zuzumuten, macht man in Doppelzüngigkeit: Hier die alten Agendaritter, die trotzig und bar jeder Selbstkritk die Folgen ihres damaligen Tuns rühmen, dort ein Kanzlerkandidat, den man auf sozial umlackiert, weil das Präsidium zu der Erkenntnis gelangt ist, dem Wähler sei aus unerfindlichen Gründen soziale Gerechtigkeit plötzlich wieder wichtig. Und weil man es sich auch mit der Wirtschaft auf keinen Fall verderben will, wird auch die Linke nach wie vor brav auf Distanz gehalten. Es gibt Menschen, die sind wegen weit milderer Formen von Schizophrenie in der Psychiatrie gelandet.

Übrigens: Wenn die Agenda 2010 so viele Menschen in diesem Land so viel gebracht hat, wo sind dann die ganzen Erfolgsgeschichten? Wieso bekommen wir statt dessen seit zehn Jahren immer nur die Mär von den antriebslosen Schmarotzern serviert? Die immer noch von der segensreichen Wirkung der Agenda 2010 faseln, hätten doch, wenn dem so wäre, ein wunderbares Mittel zur Hand, ihrer These Nachdruck zu verleihen. Ein bewährter Werbetrick ist, es menscheln zu lassen, Erfolge anhand von Einzelschicksalen zu zeigen. Wo also sind sie, all die glücklichen Ex-Arbeitslosen, die dank des propagierten Förderns und Forderns, dank effizienter Beratung und Betreuung besser dastehen als zuvor? Es müssten sich doch irgendwo, irgendwie ein paar Leutchen finden, die bereit sind, vor eine Kamera zu treten und zu sagen: Jawohl, vor ein paar Jahren hatte ich echt ein Problem. Ich war arbeitslos und sah keine Perspektive. Sicher, die Zeit auf Hartz IV war hart, aber mein Jobcenter hat mir sehr gut geholfen und jetzt geht es mir wieder topsupergut.

Überhaupt ist auffallend, dass die Agenda 2010 ausschließlich von Menschen gelobt wird, die selbst nicht von ihren Folgen betroffen sind oder die diejenigen, die davon betroffen sind, nicht weiter interessieren: Bestens verdienende Manager, Ökonomen, Journalisten, Lobbyisten und andere Experten überschlagen sich mit Lobhudeleien über die historische Tat Gerhard Schröders und der SPD. Ich würde der heutigen SPD ihren Linksschwenk nur zu gern abnehmen, aber so lange noch der leiseste Verdacht besteht, sie könnte solchen Sirenengesängen aufs Neue erliegen, werd' ich mich hüten.



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