Montag, 12. Dezember 2011

Die zunehmende Verlärmung der Welt


Was für ein Herdentier der moderne Mensch ist, lässt sich sehr schön an Dingen sehen von denen, niemand je geglaubt hat, dass sie jemals in Mode kommen würden. Zum Beispiel Biathlon. Früher war das eine Veranstaltung, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, abgesehen von ein paar angeglühten Einheimischen, die ihren Kater vom Vorabend auslüfteten. Aktiv wurde das betrieben von knorzigen Naturburschen mit seltsamen Namen wie Peter Angerer und Eirik Kvalfoss, die, wenn sie denn redeten, unverständliches Idiom sprachen und auf Langlaufskiern einsam durch verschneite Wälder ächzten. Alle paar Kilometer wurde angehalten, der auf dem Rücken mitgeführte Schießprügel zur Hand genommen und auf schwarze Scheiben geschossen, die bei dichtem Schneetreiben in der Ferne kaum auszumachen waren. Es wirkte alles so skurril und auf so rührende Weise altmodisch, dass es mich nicht überrascht hätte, wenn da mit Vorderladermusketen rumgeballert worden wäre.

Ein kurzes sonntägliches Zappen durch die Kanäle offenbarte es mal wieder: Gegen das, was heutzutage beim Biathlon abgeht, ist das Dortmunder Westfalenstadion an einem Heimspieltag geradezu eine Oase der Ruhe. Biathlon ist offenbar hip bzw. angesagt. Das bedeutet, es zieht ein junges, erlebnishungriges Publikum der werberelevanten Zielgruppe an. Das wiederum bedeutet, dass eben dieses Publikum es zu einer Jubel-, Kreisch- und Brüllhölle degeneriert hat. Und wenn mal zwischendurch zwei Sekunden Ruhe herrscht, dann bölkt ein eigens angemieteter Anheizer mit Mikrofon die Menge an, gefälligst mal etwas lauter zu sein.

Dieses Schicksal teilt Biathlon mit anderen Sportarten, wie etwa dem Skispringen. Dort stürzten sich bis in die Achtziger leichtgewichtige Bubis, von denen die meisten aussahen, als dürften sie noch nicht Auto fahren und die von dem, was sie da taten, nicht leben konnten, unter höflichem Applaus des Publikums halsbrecherisch steile Hänge hinunter. Bei der Vierschanzentournee wurde es mal lauter, weil zur Anfeuerung traditionell die landestypischen Kuhglocken geschwungen wurden. Die Sieger kamen normalerweise entweder aus der DDR und redeten Sächsisch oder aus Finnland und hatten ein Alkoholproblem. In den späten Neunzigern kamen auf einmal ein paar Deutsche zu Erfolgen und plötzlich erkannte werbetreibende Industrie und Veranstalterbranche, welches Vermarktungspotenzial dort begraben lag. Dann kam RTL und kaufte die Übertragungsrechte, was alles noch schlimmer machte. Das Neujahrsskispringen in Garmisch, einstmals ein hervorragendes, auf der Couch liegend einzunehmendes Sedativum gegen den Neujahrskater, war zum Event hochgejazzt worden. Was so viel heißt wie: lang, laut, bunt und rummtata. Das Volk will schließlich was erleben. Mit einem schnöden Sportereignis ganz ohne Showblöcke, Feuerwerk und dicken Lautsprechern ist heute niemand mehr vom Sofa zu bewegen.

Etwas erleben, das heißt in diesen Zeiten: Krach schlagen und die Umwelt behelligen. Im Rudel, noch lieber in Massen. Denn der moderne Mensch hält es nicht aus mit sich selbst und leise kann er auch nicht. Sie nennen es: Party machen und Spaß haben. In der Praxis bedeutet das: Die Bierpulle im Anschlag irgendwas vollgrölen. Wenn kein Rudel da ist und die Lärmbolzen tatsächlich einmal allein sein müssen, zum Beispiel im Auto, dann ballern sie sich die Birnen mit dämlicher Bummsmusik voll. Noch nicht einmal Kinos sind vor ihnen sicher. Musste man sich früher nur mit Quasselstrippen und Chipstütenraschlern herumärgern, hat man es jetzt auch noch mit Hunderten im Dunkeln aufleuchtenden Smartphone-Bildschirmen zu tun. Deren Besitzer, die zudem nicht in der Lage zu sein scheinen, die Teile wenigstens auf lautlos zu stellen, müssen schließlich ihre komplette Facebook-Knalldeppenliste über das weltbewegende Ereignis, gerade in einem Kino zu sitzen, auf dem Laufenden halten.

Auch den stillen November, den Monat des Totengedenkens, halten sie nicht aus. Das ist ihnen nicht zuzumuten. Allerheiligen ist bei vielen abgeschafft und durch Helloween ersetzt, einen weiteren Vorwand, geräuschvoll die Sau rauszulassen. Vielerorts haben die Kirchen ihren Widerstand, gegen die Eröffnung der Weihnachtsmärkte vor dem letzten Sonntag des Novembers, älteren Generationen als Totensonntag bekannt, resigniert aufgegeben. Weil auch Gastronomie und Einzelhandel hervorragend an den konsumfreudigen Partymachern verdienen, ließ sich eine so wenig gewinnbringende Tradition kaum noch halten.

Zurück zum Sport: Tennis zum Beispiel war mir immer unsympathisch. Nicht der Sport selbst - eigentlich habe ich eine Schwäche für Sportarten, bei denen es gilt, einen Ball möglichst kunstvoll über ein Netz zu befördern - sondern wegen der Leute, die es spielten. Tennis war zu meiner Jugend etwas für bornierte Oberschichtbälger und die Mitgliedschaft im Tennisclub hatte für deren Familien oft weniger was mit Sport zu tun, sondern es war in erster Linie ein Mittel, dem normal verdienenden Pöbel unmissverständlich klarzumachen, dass man es geschafft hatte. Ab den Neunzigern begann das Profitennis den Tatbestand der Kindesmisshandlung zu streifen: Raffgierige Elternmonster drillten nach dem Vorbild osteuropäischer Kunstturn- und Eiskunstlauftrainer ihren Nachwuchs im Akkord zu hochgezüchteten, willenlosen Balldreschmaschinen, von denen die viele inzwischen verständlicherweise schwer einen an der Waffel haben. Eines aber ist mir beim Tennis immer sympathisch gewesen: Dass der Schiedsrichter ein zu ungebührlich sich benehmendes Publikum von Zeit zu Zeit zum Fressehalten auffordert.