Samstag, 5. Dezember 2015

Orientalischer Adventskalender


Hier am Ort gibt es eine Kirche, in der eine Gruppe Ehrenamtlicher alle Jahre wieder eine riesige Krippe aufbaut. Obwohl agnostisch unterwegs, rührt mich solches Engagement, das keinen anderen Nutzen hat, als Menschen Freude zu machen, schon ein wenig an, das muss ich zugeben. Sie bemühen sich, der liebevoll gestalteten Landschaft einen orientalischen Touch zu verleihen. Weil Bethlehem ja irgendwie im Orient liegt. Auch kümmern sie sich darum, den drei Königen ein dezidiert orientalisches Aussehen zu verpassen, handelte es sich doch, der einschlägigen Überlieferung zufolge, um Weise aus dem Morgenland. Wo heute die Moslems sitzen. Kein Problem also, alles roger. Sollte man jedenfalls meinen.

Doch Obacht! Müssten wir da nicht alle viel wachsamer sein? Gerade in diesen Zeiten? Ich meine, das Ganze könnte in Wahrheit ja auch eine False Flag-Aktion von Gevatter Islamist sein, oder? Sollten die Buchhändler des Landes, so noch existent und nicht am Bettelstab wegen Amazon, ihre Ausgaben von 'Märchen aus 1001 Nacht' sicherheitshalber aus dem Sortiment nehmen? Damit niemand indoktriniert wird? Wer solche Überlegungen für einen Scherz hält, sollte sich anschauen, was den braven Chocolatiers von Lindt diese Woche widerfahren ist.

Solange Shitstorms keine schlimmen Folgen für irgendjemanden haben, können sie direkt amüsant sein. Bei so einigen Besorgten BürgernTM scheint ja inzwischen ein geistiges Stadium erreicht zu sein, in dem ihnen, wie einst bei Pawlow, der Schaum vor dem Mund steht und die Sicherungen durchbrennen, wenn sie von weitem etwas sehen, was ihnen einen Furz quer sitzen lässt. Dummerweise haben Internet bzw. soziale Netze bzw. die dadurch entstehenden Filterblasen bei einigen Menschen zu der Überzeugung geführt, ihre quersitzenden Pfürze seien das Maß aller Dinge und niemand habe das Recht, ihnen zu widersprechen. Das bekam jetzt eben jene Firma Lindt zu spüren. Die hat nämlich seit zehn Jahren einen Adventskalender im Programm, auf dem ein stilisierter orientalischer Palast zu sehen ist.

Nachdem diese rasend aktuelle Neuigkeit sich in einschlägigen Online-Medien herumgesprochen hatte, konnten sie sich bei Lindt aber warm anziehen. Aber so was von! Unter anderem bekamen sie folgendes zu lesen:

"Sie haben einen Adventskalender kreiert mit einer Moschee, in die man durch Türchen gelangt. Das finde ich mehr als seltsam. Aus meiner Kindheit kenne ich Adventskalender mit Häusern und Kirchen - und zu Heiligabend schaute man durch die Kirchentür auf eine Krippe. Das finde ich angemessen. Eine Moschee nicht." Jemand anders sah darin ganz klar "Werbung für eine archaische Gesellschaftsordnung ISLAM!", was er geschmacklos fand und andere Kunden aufforderte, sich seinem Lindt-Boykott anzuschließen. Eine andere stellte gar fest: "Wir sind in Europa und was wir ganz sicher nicht brauchen, ist ein Adventskalender vom Islam." (Ein islamischer Adventskalender! Wer denkt sich solche Klopper immer aus?) Und ein offenbar psychiatrisch Qualifizierter meinte: "Islam und Weihnachten zusammen in den Handel bringen... Ihr habt doch einen an der Waffel."

Besonders originell fand ich auch Spekulationen darüber, dass der Kalender wohl eigens für die "neue Zielgruppe" im Land produziert werde. Also für zugewanderte bzw. geflüchtete Muslime. Vermutlich. Die kaufen ja bekanntlich nicht nur weil sie Geld wie Heu haben, sondern auch qua Religion von jeher besonders eifrig Adventskalender. Meine Güte, wenn Atmen kein Reflex wäre!

Was machen diese Leute eigentlich zwei Mal im Monat, wenn Halbmond ist? Gegen das Weltall demonstrieren? Oder doch erst das Rad erfinden? Wie wenig, fragst du dich unwillkürlich, muss im öden, verpfuschten, lieblosen Leben solcher Menschen los sein? Weil inquisitorische Naturen, die ihren Lebensinhalt darauf heruntergedimmt haben, ihre Umwelt in einer Tour auf Islamisches, Unveganes, Politisch Korrektes bzw. Unkorrektes, auf sexistische Kackscheiße und andere Ketzereien zu scannen, um dann jedes Mal hysterisch "Skandal!" zu keifen und genervt bis herrisch Verbote zu fordern, ideale Spitzenfunktionäre in Diktaturen sind, ist der Zivilisationsgrad eines Gemeinwesens unter anderem daran ablesbar, in wie hohe Positionen es solche Würste gelangen lässt. Ups, Fleischcontent. #NOTVEGAN!EIN!SELF!

Sosehr das noch durchaus Unterhaltungswert hat, hasse ich, wie schon woanders mal gesagt, Shitstorms und beteilige mich auch nicht daran, mag es mir im einzelnen auch gerechtfertigt erscheinen. Was soll diese virtuelle verbale Klassenkeile bringen, bei der schlimmstenfalls eine Horde selbstgerechter, moralisch sich überlegen dünkender Pöbler mit in jeder Hinsicht maßloser Rhetorik über einzelne Personen herfällt? So was hilft niemandem, hat nichts mit Fairness, dafür alles mit Willkür zu tun, schadet vielen und ist exakt für eines gut: Für die stetige Absenkung zivilisatorischer Standards. Davon wiederum profitieren gewisse Leute durchaus.

Es ist nämlich - steile Hypothese jetzt - vielleicht kein Zufall, dass gerade Rechte und Konservative das Spiel mit Provokation und Empörung besonders gekonnt beherrschen. Eine Gesellschaft, der die Maßstäbe weitgehend abhanden gekommen sind, weil sie so desensibilisiert ist, dass sie noch den kleinsten Ausrutscher zum Kapitalverbrechen hochjazzt, muckt eben nicht mehr auf, wenn wirklich Schlimmes passiert. Vielleicht auch dann nicht mehr, wenn etwa das Parlament des Landes fast unwidersprochen entscheidet, die Armee in Marsch zu setzen.

Und das wäre dann alles andere als lustig.



3 Kommentare :

  1. Danke! Dann wissen wir ja warum der „Schatz des Zaren“ (oder ähnlich), den Lindt jahrelang im Programm hatte, unter anderem als Adventskalender in Matroschka-Puppen-Form, verschwunden ist. Der war bestimmt vom Vladimir gesponsert… Abgesehen davon, dass der orientalische Kalender in seinem Motiv dem „ursprünglichen“ Weihnachtsfest doch um einiges näher kommt. Denke ich, als jemand, der vor über zwanzig Jahren mit 14 aus der Kirche austrat.

    Sie sind doch aus dem Ruhrgebiet, es ist lange her, aber gab es nicht in Essen um die Jahrtausendwende auch mal Proteste wegen einer Krippe auf dem Markt wo die Figuren nicht historisch sondern als Bauarbeiter(?), Müllmänner etc. gekleidet war. Ich war damals Touristin und sah das, vielleicht, wenn Sie damals schon im Ruhrgebiet wohnten, haben Sie das auch gesehen oder davon erfahren. Was würden die heute machen, die Stadt shitstormen (blödes Wort), Massenwegzug?

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    1. Gern, an das Essener Krippenskandälchen kann ich mich nicht wirklich erinnern. Muss daran liegen, dass die Weihachtsmärkte von Essen, Dortmund und Oberhausen eine Art Karneval in Köln mit Weihnachtsdeko sind und daher von mir nach Möglichkeit gemieden werden.

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  2. Der Gerechtigkeit halber sollte freilich nicht unerwähnt bleiben, dass sich derlei Gehirnfurzler & Skandalhysteriker auch im entgegengesetzten Gesinnungslager ebenso tummeln und die Welt mit ihrem Troll-Unwesen behelligen. Deppen gibt es in jedem Dorf, manchmal auch mehrere, wie Jörg Kachelmann treffend feststellte.

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