Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Samstag, 9. Dezember 2017
Immerhin konsequent
Eine kleine Preisfrage (weil, ich bin ja kein Arzt): Angenommen, ein Patient ist zwei Mal mit Anlauf, die Rübe voraus, ohne Helm und ungebremst vor eine stabile Wand gerannt. Beide Male war er überzeugt, als Sieger aus dem Duell hervorzugehen und die Wand einzureißen, ist aber beide Male mit einem Schädelbruch in der Klinik gelandet. Wenn dieser Patient, der hoch und heilig versprochen hat, das nie mehr wieder zu tun, nunmehr drauf und dran ist ist, das ein drittes Mal zu versuchen, wieder ohne Helm, und erklärt, dieses Mal würde es aber ganz bestimmt klappen, weil er jetzt mehr Anlauf nähme - wie nennt man so ein Krankheitsbild? Ich weiß, Ferndiagnosen sind gerade im Feld der psychischen Erkrankungen nicht unproblematisch, aber gesund ist das garantiert nicht. Aber konsequent, immerhin. So wie die SPD.
Das Problem an Martin Schulz und großen Teilen der SPD ist nicht, dass diese Leute dumm wären oder ungebildet, dass es ihnen an Engagement, Wissen und politischer Erfahrung mangelte. Im Gegenteil. Sie rackern sich blöde, engagieren sich, wissen durchaus viel und wollen wohl überwiegend auch Gutes bewirken. Und das ist das Tragische. Sie scheinen einfach nicht wahrhaben zu wollen, dass das politische Spiel im herrschenden System letztlich immer ein schmutziges, manchmal zynisches Ringen um faule Kompromisse ist, wenn nicht systembedingt sein muss. Sie scheinen nicht zu sehen, dass der, der in diesem, unter den Bedingungen eines freidrehenden Kapitalismus stattfindenden Spiel immer sauber und anständig bleiben und es möglichst vielen recht machen will, am Ende der Gelackmeierte ist. Und das macht alle ehrenwerten Bemühungen wieder zunichte.
Nehmen wir als Beispiel die Einführung der Ehe für alle. Das mag ein Feuilletonthema sein, doch gibt es in der Politik höchst selten solche Momente, in denen man das Gefühl hat, da agiere ein Parlament auf der Höhe der Zeit und bewege mit einer vergleichsweise simplen Entscheidung wirklich etwas zum Guten, Modernen und Zeitgemäßen. Angestoßen hat das, daran darf man durchaus erinnern, ein gewisser Martin Schulz. Vielleicht weniger aus humanistischem Impuls denn aus wahlkampftaktischem Kalkül. Und wenn schon, entscheidend ist nun einmal, wie's der raumgreifende Oggersheimer einst so richtig meinte, was hinten rauskommt. Und, hat Schulz politisch Kapital schlagen können daraus? Nö, die Ehe für alle wurde medial als Krönung des politischen Schaffens von Volker Beck verstanden und entsprechend gefeiert, Schulz konnte bloß danebenstehen und artig gratulieren. Und vielleicht im Stillen hoffen, dass sein Verdienst irgendwann einmal gewürdigt werde. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann hofft er noch heute.
Auch seine Ankündigung nach der Wahl, auf keinen Fall erneut in eine große Koalition einzutreten, war so ein Move. Natürlich ging es dabei nur vordergründig darum, die Partei in der Opposition zu erneuern, wie ventiliert wurde. In Wahrheit ging es darum, den korrekt als politischen Hauptgegner identifizierten Christian Lindner in eine Jamaika-Koalition zu drängen, in der dieses Mal er und die FDP sich an der Seite Angela Merkels kleinregieren sollten. Schlau gedacht, doch ist Lindner eben den einen Tick gerissener und skrupelloser. Sein überraschender Ausstieg aus den Sondierungen, für den er auch sinkende Umfragewerte in Kauf nahm, war, das haben viele, darunter ich, zunächst nicht erkannt, der Konter in Richtung SPD. Sollten die Sozis sich doch weiter im Regierungsalltag aufreiben, wenn jemand sich in der Opposition erneuert, dann die Liberalinskis. Weil in Zeiten einer Kanzlerin Merkel die Devise nicht lautet: "Opposition ist Mist" (Müntefering), sondern: Bleib bloß weg von der Regierungsbank! Lindners Kalkül geht offenbar auf. Der Vorwurf, qua Koalitionsverweigerung vaterlandslose Gesellen zu sein, trifft seither nicht ihn, sondern Schulz und die SPD.
Man muss die Spezialdemokraten sogar dafür in Schutz nehmen, dass sie zögern, sich wieder nach links zu öffnen. Diese Forderung scheint die einzig sinnvolle verbliebene, sollte man meinen. Doch sind sie, wie gesagt, nicht doof bei der SPD. Sie wissen genau, dass das leichter gefordert ist als getan. Man muss sich nur das massive rechtskonservativ-neoliberale Framing um den G20-Gipfel in Hamburg anschauen. Eine SPD auf Linkskurs würde das nicht lange überstehen. Wer immer in diesem Land vorgibt, linke Politik machen zu wollen, wird sofort in Verbindung gebracht mit Bombenlegern, Autobrandstiftern, Randalierern und vor allem Schuldenmachern. Und weil der politische Diskurs so verrottet ist wie er ist, wird der Michel das mehrheitlich artig glauben und sich sagen: Nein, also bevor ich die wähle, gebe ich doch lieber denen meine Stimme, die mich noch ärmer machen und mich so richtig übern Leisten ziehen, da weiß ich wenigstens, was ich habe, da habe ich Übung drin. Außerdem ging es uns schließlich noch nie so gut wie heute, und wenn nicht, dann geht es uns wenigstens immer noch besser als anderen.
"Martin Schulz hat in den letzten elf Monaten einige kühne Wendungen vollzogen. Erst war er Retter der SPD, dann der verzagte Kanzlerkandidat, der an Merkel verzweifelte. Er hat die Partei scheinbar nach links geschoben, dann die Agenda-Korrektur jäh abgebrochen. Nach der Wahl schwor er: »niemals Groko«, nun steuert der Kapitän, in rhetorische Nebelkerzen gehüllt, wohl den Hafen Große Koalition an. Das sind ziemlich viele Schwenks in kurzer Zeit." (Stefan Reinecke)
Und das ist noch sehr höflich formuliert. Manchmal könnte man auf die Idee kommen, die SPD habe nur deshalb immer noch 20 Prozent, weil viele einen Politikbetrieb ohne sie sich halt nicht vorstellen können oder viele Wähler - Segen des deutschen Wahlrechts - einfach nicht wissen, was sie mit ihrer Erststimme anfangen sollen. Wie diese Partei jetzt, unter dem Geschleime der Union, unter den Appellen an ihre große staatstragende Tradition, aufs Neue umschwenkt und sich wieder zum nützlichen Idioten machen lässt, das ist schon beinahe mitleiderregend.
Die SPD erinnert dabei an diesen Typen, den es in jedem Verein, jeder WG/Firma/Abteilung/Clique gibt. Der immer die zweite Geige spielt. Den Müll runterbringt, aus eigener Tasche den Kühlschrank vollmacht, die leergesoffenen Getränkevorräte auffüllt und die versiffte Küche putzt, weil sonst die Ratten sich Pfötchen gäben und einer es halt machen muss. Der am Wochenende die Überstunden macht, weil sonst das Projekt schließlich nicht fertig wird (derweil die anderen es sich gutgehen lassen). Der sich am Ende immer breitschlagen lässt, brav alles tut, aber garantiert niemals irgendwelche Lorbeeren einheimst. Weil's ja weitergehen muss und es ihm an jener Dreistigkeit mangelt, über die Alphatiere halt verfügen. Wenn so einer sich doch einmal wehrt und sagt: Stopp, jetzt reichts aber mal, bis hierher und nicht weiter, macht euren Dreck doch alleine weg! - dann sagen die Alphatiere kühl, derweil sie ihm die Freundin ausspannen: Nun ja, wenn dir Freundschaft denn so gar nichts bedeutet, gehab dich wohl. Diese Drohung ist die Atombombe, angesichts derer noch jeder entrückgratete Wasserträger eingeknickt ist. Weil er um jeden Preis dazugehören will.
Derlei Liebedienerei ist übrigens kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen. Es ist vielerorts gut eingeübte Praxis, dass Konservative, sobald sie an der Macht sind, zugunsten ihrer Klientel die Staatshaushalte zusammenstreichen, plündern, an die Wand fahren und die Schuldenquote in die Höhe treiben. Und wenn danach Sozialdemokraten (oder wie sie sich sonst nennen mögen) mal übernehmen dürfen und zuvörderst den Dreck wegmachen, die unvermeidlichen Sanierungsarbeiten übernehmen müssen, dann zeigt das konservative Pack mit dem Finger drauf und sagt: Haha, guckt mal, diese Defizit- und Schuldenkönige können ja gar nicht mit Geld umgehen! (Und das von entsprechenden Medien eingewickelte Volk pflegt das in ausreichender Menge zu glauben.)
Die deutsche Sozialdemokratie hat, von zwei rühmlichen Ausnahmen, 1933 und 1968, einmal abgesehen, konsequent die falsche Entscheidung getroffen. Am allerschlimmsten und nachhaltigsten 1914, als sie nicht einmal ein Jahr nach August Bebels Tod die Internationale verraten und entschieden hat, dass Proletarier nicht dem Klassenfeind, sondern sich gegenseitig an den Hals gehen sollen. Weil sie auch seitdem nie kapiert hat oder nie hat wahrhaben wollen, dass sowohl-als-auch, dass Sozialismus, Kapitalismus und Nationalismus gleichzeitig nicht geht. Weil Sozialdemokratie, wenn überhaupt, nur funktionieren kann, wenn sie als Fernziel anstrebt, Kapitalismus letztlich zu überwinden. Weil's ihr genügt, mitzureden bei den Großen und nicht merkt oder merken will, dass die sie fast alle verachten. Vielleicht glaubt man im Willy-Brandt-Haus ja auch, eine ordinäre Quasselbacke wie Andrea Nahles als Fraktionschefin sei Zugeständnis genug an proletarische Traditionen, wer weiß.
5 Kommentare :
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Meine Ferndiagnose: Morbus Bahlsen, schwer einen an der Waffel. Erneuerung havben sie schon oft an die Wand gemalt. Ich erinnere nur an die Merkelsteuer: CDU 2 % Mehrwertsteuererhöhung, SPD Null. Kompromiss: 3 %.
AntwortenLöschen"Und morgen gibts was in die Fresse" - Nahles und ihre Parteispitzenfunktionäre können eigentlich nur tief in sich gespaltene Persönlichkeiten mit einem fulminanten Egoproblem sein. Das macht mir eher Angst, als dass ich diese Bande als politisch Ausgebeutete nützliche Idioten der CDU beschreiben würde (siehe oben!).
Stefan: Deine G20-Keule gegen linke Politik zieht m. E. nicht. Eine wirkliche Reform müsste ausgehen von der Rücknahme der Agenda 2010. Die Arm-Reich-Schere, die sich so weit geöffnet hat, wäre an beiden Enden auf- und anzugreifen, gegen Hartz IV auf der einen Seite und mit einer die großen Unternehmenl radikal in die Pflicht nehmenden Steuerpolitik, auf der anderen. Dazu käme konsequente ökologische Politik, von der die SPD weit entfernt ist – Sozialdemokraten, gerade in den Bundesländern, kämpfen offen für den Erhalt der Kohlekraftwerke. Genossen: Ihr zerstört unsere Lebensgrundlagen - das hat mit Verantwortung übernehmen nichts zu tun. Hauptsache Arbeit!!! Kenn ich noch aus Anti-AKW-Zeiten.
Bei der "Neuen Sozialdemokratie" ist es egal, ob man in einer GroKo mitregiert, die Ergebnisse würden so oder so das Projekt 18 anstreben, siehe andere Länder, wo es keine Madame Merkel gibt.
AntwortenLöschenNur eine SPD auf Linkskurs würde das überstehen, was interessiert da irgendein abgefucktes Framing? Außerdem geht es um einen relativen Linkskurs, der eine Rückbesinnung auf sozialdemokratische Grundwerte bedeuten würde und auch nicht zwingend den Kapitalismus überwinden muß, die aktuelle Form natürlich schon.
Der "Linkskurs" der SPD ist nicht aufzuhalten, schon in den 90ern waren es die angelsächsischen Länder, die vorangingen in Richtung sozialdemokratischer Neoliberalismus, gefolgt sind ohne Ausnahme alle sozialdemokratischen Parteien des Westens.
Das wird sich wiederholen, nur in die andere Richtung, abermals ausgehend von England und den USA.
Dieser Weg ist auch vielversprechend gegen rechts, letztes Wahlergebnis England:
Labour 40%, UKIP 1,9 % !!
Oder um es mit den Worten eines englischen Gewerkschafters zu sagen:
"It`s not like the minors. Cause we`ll win."
Dafür brauchts aber auch das entsprechende Personal. Das ist in D-Land im Ggs. zu UK teils bei den Linken gelandet und steht der SPD daher nicht mehr zur Verfügung.
Löschen@altautonomer: Langsam, ich sage doch nicht, dass ich gegen linke Politik bin und kann all deine Vorschläge unterschreiben. Nur sind wir in Deutschland und da passiert nach wie vor kein Politikwexel ohne Mithilfe der Springerpresse und ihr nahestehender Sender.
@Stefan
AntwortenLöschenJein. Einerseits sehe ich auch Keinen, ders machen könnte, andererseits, wer hat schon mit den "alten Säcken" in England und den USA gerechnet?
Historische Entwicklungen suchen sich ihr Personal, irgendwie, ich hab den Eindruck, es handelt sich um eine solche.
Deutschland wird aber länger brauchen als andere Länder, war ja auch umgekehrt so, die "Neue SD" kam erst mit Verspätung bei uns an.
Vielleicht gibts aber auch eine Überraschung, ein/e Kanzler/in der Linkspartei, wär doch mal spannend. Der aktuelle Zustand der Partei aber läßt das eher nicht vermuten.
Wie man so ein Krankheitsbild nennt?
AntwortenLöschenKatatonie!
Es handelt sich um ein totales Anspannen des Patienten von Kopf bis zu dem Fuß.
Und deshalb muss die Wand auch ganz dringend zu einem Arzt gebracht werden, bevor sie noch mehr Menschen verletzt!
Alles Im Niedergang, man
Markus(https://der-5-minuten-blog.de)