Heute: Marina Hyde über die US-Präsidentschaftswahl 2020
"Da nun Zukunft und demokratische Reputation der Amerikanischen Republik am seidenen Faden hängen, ist das kein geeigneter Moment für Bombast. Eher ist es Zeit, demütig in die Dunkelheit zu schauen, auf der Suche nach geeigneten gemessenen Worten, die der immensen Würde dieses Moments gerecht werden könnten. Kurz: Ich denke, wir alle fühlen die Hand der Geschichte an unseren Muschis. [...]
Sollte Biden doch noch einen Sieg hinbekommen, dann stehen uns dank der Funktionsweise der selbst ernannten großartigsten Demokratie der Welt Monate bevor, in denen Trump wütende verbale Brandstiftungen verbreiten wird, dass die Wahl gestohlen worden sei. Oder, um es in Worte zu fassen, die der Rest der Welt auch versteht: Es ist, als sei man im November Weltmeister geworden und der unterlegene Mannschaftskapitän benutzt den Pokal drei Monate lang als Toilette. Bevor er ihn dann Ende Januar randvoll rausrückt. [...]
Doch man lasse sich nicht einreden, dass eine Demokratie, in der zwei Männer von Mitte bis Ende siebzig gegeneinander antreten, anfängt, ein wenig nekrotisch zu wirken. Klar, es wäre nett gewesen, wenn zumindest ein Kandidat dabei gewesen wäre, dem keine sexuellen Übergriffe vorgeworfen werden - aber man kann doch zutiefst beruhigt sein, weil einem der Kandidaten immer noch dutzende sexuelle Übergriffe mehr vorgeworfen werden als dem anderen.“ (The Guardian, 4. November 2020, Übers. S.R.)
Anmerkung: Da die US-Demokraten genauso wie die Republikaner abhängig sind von Millionenspenden aus der Industrie, sind sie, wie bereits gesagt, im Prinzip dieselben Erfüllungsgehilfen des Kapitals (in den USA passiert das ehrlicherweise offener als woanders). Sie haben eben nur ein paar sympathischere, will heißen: weniger hinterwäldlerische Ansichten. So sind sie mehrheitlich für eine allgemeine Krankenversicherung, Recht auf Abtreibung, schärfere Waffengesetze, eher offen für Klimaschutz, tendenziell für LGBTQ-Rechte, Ehe für alle, Cannabisfreigabe etc. (wobei einiges eh auf Ebene der Bundesstaaten verhandelt wird).
So sehr man den launigen Bemerkungen Marina Hydes (wo findet man einen ähnlich scharfzüngigen Kommentar im hiesigen Mainstream-Preßwesen?) zustimmen kann, fokussieren sie auch beim sonst so vorzüglichen Guardian sich vor allem auf das Rennen zwischen Trump und Biden. Das ist aber komplett zweitrangig, solange die republikanische Senatsmehrheit bestehen bleibt. Und genau danach sieht es momentan aus. Damit ist die Sache im Prinzip entschieden, egal, wer am Ende im Weißen Haus den Grüßonkel machen darf. Ein Präsident Biden könnte die großartigsten Reformpläne haben, der Senat würde sie alle genüsslich scheitern lassen.
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Orig.: "With the future and democratic reputation of the American republic hanging in the balance, this is not an occasion for bombast. Rather it is time to reach humbly in the darkness, seeking only to summon such measured words as convey the intense dignity of this moment. In short, I think we all feel the hand of history on our pussies. [...]
Should Biden edge a victory, thanks to the way the self-styled greatest democracy in the world works, we will have months of grimly incendiary Trump claims that it was stolen. Or, to put it in terms the rest of the planet would understand: this is like winning the World Cup in November, then having the losing captain use it as a toilet for three months before finally handing the brimming trophy over to you in late January. [...]
Still, let no one suggest a democracy contested by two men in their mid- to late-70s is in some ways beginning to look a little necrotic. Yes, it would have been nice to have had at least one candidate whom no one had accused of sexual assault – but you had to be deeply comforted that one of the candidates had been accused of literally dozens more sexual assaults than the other one."
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