Die Panik, die gerade um die bevorstehenden Abiturprüfungen unter Lockdown-Bedingungen medial verbreitet wird, ist vor allem mal verräterisch. Ogogottogottogott, lernen unsere Nachwuchsakademiker in spe auch genug? Werden sie ausreichend betreut bei ihrer zukunftsentscheidenden Akkumulation von Wissen? Wie sollen unsere Kinder sich gesund entwickeln ohne die so wichtigen Erfahrungen einer Abifahrt und eines Abi-Balls? Die baden-württembergische Kultusministerin Eisenmann (dieser Name!) wird zitiert, vor einem "Puddingabitur" gewarnt zu haben.
(Man könnte übrigens mal nachforschen, wer alles vor einem "Puddingabitur" gewarnt hat, als 1870, 1914 bis 1918 und 1939 bis 1944 hunderttausende deutsche Jungmänner äußerst großzügig durchs 'Notabitur' gewunken wurden. Weil in Kriegszeiten Offiziersnachwuchs gebraucht wird, und Offiziere in Deutschland nun einmal Abitur haben müssen. Mein alter Hausarzt meinte immer, ohne das kriegsbedingte Notabi hätte er nie Medizin studieren können, wegen zu faul. Aber das darf man vermutlich nicht so sehen, weil etwas ganz anderes. Kann man gar nicht vergleichen.)
Das Gebarme wäre weit weniger ein Problem, wenn mit zumindest vergleichbarer Vehemenz auch nach jenen gefragt würde, die Bildung noch nötiger haben als der gymnasiale Nachwuchs, aber weit weniger Resonanz in bildungsbürgerlichen Medien genießen. Den Jugendlichen auf den Haupt-, Real- und Sekundarschulen, die mit 16 nicht nur ihren Schulabschuss brauchen, sondern auch eine Ausbildungsstelle.
Vor der Pandemie fragte ich mal einen befreundeten, an einer Gesamtschule tätigen Lehrer halb im Scherz, mit wie vielen er sich einen Computer teilen müsste. Der gab zur Antwort, da er stellvertretender Abteilungsleiter sei, brauche er sich nur mit der einen Kollegin in seinem Büro den Rechner zu teilen. Die Frage, ob der noch einen Röhrenmonitor hatte, verkniff ich mir lieber.
Man verstehe mich nicht falsch: Natürlich hat es die situierte Mittelschicht, die ihre Kinder mehrheitlich an die Gymnasien schickt, auch nicht leicht, keine Frage. Über einen längeren Zeitraum, sagen wir, zwei schulpflichtige Kinder im Homeoffice noch schulisch betreuen, ist keine Kleinigkeit.
Nur ist das eben noch einmal etwas anderes, als die Kinder notgedrungen zu Hause sich selbst überlassen zu müssen, weil beide Elternteile, so vorhanden, in Berufen unterwegs sind, die kein Homeoffice ermöglichen und auch nicht über das nötige Kleingeld zu verfügen, mal eben geeignetes Equipment zum Homeschooling anzuschaffen. Keine finanziell potenten Eltern- und Fördervereine da sind, die willens und in der Lage sind, die Folgen der beschämenden Unterfinanzierung des Bildungssektors und des skandalösen Verschlafens jeglicher technischen und digitalen Entwicklung der letzten Jahrzehnte durch private Initiative auszugleichen. Und die auch nicht in einer gediegenen Einfamilienhaussiedlung leben, in denen ein weitgehend homogenes Milieu sich unkompliziert in Schul- und Betreuungsdingen helfen kann.
Seit Jahren bekommt das deutsche Bildungswesen in nationalen wie internationalen Studien vorgerechnet, dass in keinem anderen Land der Welt Bildungserfolg und damit auch sozialer Aufstieg durch Bildung derart eng korreliert mit sozialer Herkunft wie in Deutschland. Konservativ-rechtsbürgerliche (westdeutsche) Justemilieus haben es über die Nachkriegsjahrzehnte verstanden, nicht nur das dreigliedrige Schulsystem vor den Modernisierungsabsichten der Westalliierten zu retten, sondern auch das Gymnasium als von ihnen exklusiv kontrollierten Flaschenhals für höhere Bildungsabschlüsse gegen Gesamtschulambitionen zu verteidigen.
"[Gegen] die angeordnete Restrukturierung des Schulsystems hatte sich eine breite Gegenbewegung aus konservativen Parteien, Kirchen, Universitäten, Philologen und bildungsbürgerlichen Schichten formiert, die öffentlichkeitswirksam gegen die geplante Reform argumentierten. Die Schule habe in erster Linie pädagogische Aufgaben zu erfüllen und dürfe nicht mit sozialpolitischen Aufgaben überbürdet werden. Demokratische Gleichheitsforderungen dürften jedenfalls nicht auf Kosten einer Absenkung der Leistungsanforderungen in der höheren Bildung verwirklicht werden." (Benjamin Edelstein)
Zirka 25 Prozent der Bevölkerung hatten 2019 einen Migrationshintergrund. Im Schuljahr 2019/20 betrug der Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund an Gymnasien gerade mal 5,2 Prozent. Geht noch weiter. "Nur 8,7 % der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten wuchsen in Familien auf, in denen die Eltern einen Hauptschulabschluss als höchsten Schulabschluss oder keinen allgemeinbildenden Schulabschluss besaßen." (Schulz, 2018) Eine katastrophale Krise wie die Corona-Pandemie könnte eine Chance sein, nicht nur über die Nöte von Gymnasiasten zu debattieren, sondern grundsätzlich über Bildungsgerechtigkeit. Genutzt wird sie nicht. Noch immer sind Sätze wie "Also, ich bitte Sie, muss denn jetzt wirklich jeder unbedingt…" viel zu häufig zu hören.
Das ist nicht nur in menschlicher Hinsicht schäbig, sondern auch politisch dumm. Schon jetzt ist dem grassierenden Lehrermangel nur noch mit Maßnahmen beizukommen, über die sich jeder Bildungspolitiker noch vor 20 Jahren kaputtgelacht hätte. Auch der Justiz droht ein massiver Nachwuchsmangel. Herzlichen Glückwunsch den Lordsiegelbewahrern des deutschen Abiturs! Kleiner Tipp: Es bringt wenig, den Menschen fortwährend was von Leistungsgesellschaft zu erzählen, wenn ganze Bevölkerungsgruppen a priori davon ausgenommen sind. Kann sogar kontraproduktiv sein auf lange Sicht.
Übrigens: Schüler, die ernsthaft Sorgen geäußert hätten, inwieweit reduzierter Lernstoff im Abitur ihre weitere Lebensplanung gefährden könnte, hätte unsereins damals ‚Streber‘ genannt. Aber das war lange vor Corona.
Ich kann mich noch gut an Grundschulklassen mit 45 Kindern erinnern
AntwortenLöschenund die Kurzschuljahre. Lehrer waren auch damals nicht genug vorhanden und Quereinsteiger beliebt. Alles nix neues.
Ältere Einwohner Nordrhein-Westfalens erinnern sich vielleicht noch an die 'Mikätzchen' (es gab auch ein paar 'Mikater'.
LöschenAbifahrt und Abi-Ball, seit wann gibt es sowas eigentlich? Wahrscheinlich zeitgleich mit dem bekloppten Halloween...
AntwortenLöschenAbi-Ball hieß bei uns noch 'Abi-Fete' und fand in der Aula statt. Mit dem Ergebnis, dass die Aula fürderhin nicht mehr für solche Festivitäten zur Verfügung stand. Abi-Fahrt gabs bei uns nicht. Wir hatten ja nichts. Die schweren Zeiten!
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