Zwar ist der Nikolaustag schon ein paar Tage her, aber man kann durchaus einmal daran erinnern, dass es Zeiten gab, in denen der heilige Mann teils ein Exektutivorgan der schwarzen Pädagogik war. Es gab Familien, in denen den Kindern schon Monate im Voraus Angst gemacht wurde: Na warte, wenn der Nikolaus kommt! Der weiß alles über dich, der sieht im Himmel alles und schreibt das in sein goldenes Buch! Wenn der große Tag dann gekommen war, wurden unbraven Kindern ihre Verfehlungen in Coram publico unter die Nase gerieben und es setzte was mit der Rute. Zum Schluss mussten die Kinder noch ein Gedicht aufsagen. Als kleines Dankeschön für diese erzieherische Maßnahme, die schließlich nur zu ihrem Besten war.
Ich hatte den Nikolaus nur vom alljährlichen Nikolausumzug in der Stadt gekannt. Ein prunkvoll gekleideter Bischof, der von seinem Pferd aus uns Kindern freundlich zuwinkte und dessen Helfer fleißig Süßigkeiten verteilten. Fand ich nett. Dann aber sollte ich einen anderen Nikolaus kennen lernen. Eines Jahres, ich war wohl gerade in den Kindergarten gekommen, nahmen die Verursacher mich bei der Hand und gingen mit mir zur Gaststätte am Markt, wo sie zahlreiche freundschaftliche Kontakte pflegten. Dort käme nämlich heute der Nikolaus. Aha. Das Hinterzimmer war weihnachtlich hergerichtet, etliche andere Familien mit ihrem Nachwuchs waren bereits anwesend, die Kinder waren aufgeregt, die Erwachsenen qualmten mit den Räuchermännchen um die Wette und ich harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Ein Glöckchen ertöne, im Flur rumpelte es und ein rotgekleideter weißbärtiger Hüne betrat die Szenerie, gefolgt von einem schwarz gewandeten, schwarzgesichtigen Männlein, das einen Sack und eine Rute trug. Dann nahm das Drama seinen Lauf: Jedes der anwesenden Kinder musste eines nach dem anderen vortreten, der Nikolaus las mit drohendem Unterton in der Stimme aus einem goldenen Buch vor und rieb dem kleinen Missetäter alle Missetaten des fast verflossenen Jahres unter die Nase. Bei Mädchen drohte der dunkle Knecht nur mit dem knochigen Finger, bei Jungen gab es mit der Rute eins hintendrauf.
Natürlich schlug der finstere Geselle nicht wirklich zu -- die Zeiten waren zum Glück vorbei --, sondern mehr symbolisch, aber was ich sah, genügte offenbar, um mir einen maßlosen Schrecken einzujagen. Ich begann bitterlich zu weinen, als ich vor den Nikolaus zitiert wurde. Unter Tränen brachte ich den Satz heraus, ich würde alles nie mehr wieder tun. Sämtlichen eventuell drohenden Strafpredigten und Sanktionen auf diese Weise vorbeugend den Wind aus den Segeln zu nehmen, erschien mir eigentlich ganz clever, denn was sollte der Nikolaus da noch sagen?
Weit gefehlt. Ich sei kein echter Junge, wie mir hinterher mitgeteilt wurde. Als solcher hätte ich mir vermutlich eher eine rotglühende Messerklinge auf den Unterarm gedrückt, anstatt auch nur eine Träne zu vergießen wie ein Mädchen, hätte mannhaft gesagt, ich wüsste, dass ich Strafe verdient hätte und bäte um eine gehörige solche. Und darauf mein bereits vernarbtes Hinterteil zum Verdreschen hingehalten. Was ich natürlich auch mit stoischem Gleichmut erduldet hätte, ohne mit der Wimper zu zucken, selbst wenn der Knecht mit einer Nilpferdpeitsche zu Werke gegangen wäre. Weit unangenehmer, da mit Langzeitwirkung, war, dass mein Auftritt an diesem Abend und von da an unter den anwesenden Erwachsenen die Lachnummer des Jahres war.
Noch viele Jahre später bekam ich von damals Anwesenden die Story aufgetischt und musste mir anhören, wie lustig das gewesen sei. Der Wirt und damalige Juniorchef des Etablissements erzählt das immer noch gern herum. Hahaha! "Ich will alles nie mehr wieder tun!", hohoho! Ja, witzig. Ich lache morgen, wenn meine Sekretärin einen Termin freigeschaufelkt kriegt. Der, der damals den Nikolaus gespielt hatte und mit der Situation komplett überfordert war, fand das auch Jahrzehnte später noch brüllkomisch. Daran, dass da ein Kind wirklich schlimme Ängste ausstand sowie daran, dass das eventuell auch ein Problem, zumindest aber nicht ausschließlich witzig sein oder dass ich für die Show vielleicht ein Jahr zu jung gewesen sein könnte -- in der kindlichen Entwicklung eine Ewigkeit --, verschwendete niemand einen Gedanken.
Ein generelles Nikolaus-Trauma habe ich aber wohl nicht davongetragen, denn mit anderen Nikoläusen, etwa dem netten Bischof auf dem Pferd oder dem, der uns in Kindergarten und Grundschule besuchte und vom örtlichen Pfarrer gespielt wurde, hatte ich nie ein Problem.
Jahrzehnte später stellte ich gegen Jahresende einmal fest, dass mein studentisches Budget für die anstehende Weihnachtszeit deutlich zu knapp bemessen war und suchte nach einer Möglichkeit, ein paar Stunden was zu arbeiten. Der Mann von der Minijobzentrale des Arbeitsamtes fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, den Nikolaus zu spielen. Fünf oder sechs Termine, die Bezahlung ginge dann direkt in bar. Ich bekam einen roten Kapuzenmantel und einen weißen Bart zum umhängen. Jetzt war ich der Nikolaus. Ich hatte mir vorab einen Ausschnitt von 'Von drauß vom Walde komm’ ich her...' zurechtgelegt, den ich mit sonorer Stimme vortrug und das funktionierte wirklich gut. Ich sah in viele leuchtende Kinderaugen, von gülden gebundenen Sündenregistern oder gar einer Zuchtrute keine Spur. Ich traf wohl den richtigen Ton.
Der letzte Termin des Tages fand in einer Bergarbeitersiedlung statt. Die Großfamilie hatte sich im festlich dekorierten Wohnzimmer versammelt und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Und dann sah ich Anna*, das jüngste der anwesenden Kinder. Die Kleine hatte deutlich sichtbar eine Heidenangst vor mir und war wohl auch noch zu jung. Was tun? Ich wollte es ja besser machen als mein Amtsvorgänger damals bei mir. Ich dachte: Wenn du dich diesem Kind jetzt irgendwie noch näherst oder auf sie eingehst, wird sie noch mehr Angst bekommen. Also beschloss ich spontan, mich zu verharmlosen, indem ich den gebrechlichen alten Mann gab, der sich kaum noch bewegen konnte. Als ich mich unter großem Weh und Ach umständlich auf den bereit stehenden Stuhl setzte, meinte die Großmutter im breitesten Ruhrpöttisch und mit dem Schalldruck eines startenden Airbus: "Boah kumma Anna, der Nikolaus hattat genauso im Kreuz wie die Omma!"**
Situation gerettet, alles lachte, sogar Anna schien keine Angst mehr zu haben. Der herbe Charme des Ruhrgebiets eben. Ich aber war froh, dass ich von früher her Messdienerhintergrund hatte: Da lernt man nämlich, sich unter allen Umständen das Lachen zu verkneifen, und auch dann noch ein feierliches Gesicht zu machen, wenn es einen innerlich schier zerreißt. Gelernt ist eben gelernt.
=====
*Name von der Redaktion geändert.
** "Hui, schau einmal Anna, der Nikolaus ist im Lendenwirbelbereich ebenso von Schmerzen geplagt, wie ich, deine Großmutter."
** "Hui, schau einmal Anna, der Nikolaus ist im Lendenwirbelbereich ebenso von Schmerzen geplagt, wie ich, deine Großmutter."
Keine Kommentare :
Kommentar veröffentlichen
Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.