Samstag, 22. Juli 2017

Vive Le Tour!


Die Tour de France ist nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM das drittgrößte Sportereignis der Welt. Morgen geht sie zu Ende und es gibt vieles, das sich dagegen einwenden lässt. Dass das Ganze eine einzige, riesige, aufgeblasene Kommerzveranstaltung ist etwa. Dass die Unkenrufe, dem Großteil der Aktiven werde pharmazeutisch auf die Sprünge geholfen, wohl nicht ohne Grund ums Verrecken nicht verstummen wollen. Die oft schreiend bunte Aufmachung der Fahrer, die sie in lebende Litfasssäulen verwandelt. Das Sponsorentheater bei jeder Siegerehrung, der Filz, der sich mit der Zeit zwangsläufig in so einer Veranstaltung breitmacht wie Schimmel in altem Brot.

Gewiss ist niemand stolz darauf, jahrelang nolens, volens einem autoritären Schinder und notorischen Lügner wie Lance Armstrong gehuldigt zu haben. Oder wie vor allem öffentlich-rechtliche Kommentatoren sich in flammenden, im hohen Tone der moralischen Empörung vorgebrachten Plädoyers gegen Doping ergingen, derweil der zu seinen aktiven Zeiten auch 'rollende Apotheke' genannte Co-Kommentator Rudi Altig geradezu dröhnend schwieg. All das und noch mehr kann man sagen und man hat nicht unrecht. Dennoch will es mir einfach nicht gelingen, mich der Faszination für die Grande Boucle zu entziehen. Denn trotz allen Kommerzes und aller sonstigen unerfreulichen Begleiterscheinungen ist die Tour immer noch ganz großes Drama.

Nicht nur, weil binnen knapper drei Wochen zirka 4.000 Kilometer durch Flachland, Alpen, Pyrenäen zu radeln und zwischendurch noch diverse Zeitfahren runterzureißen, ganz großer Sport ist. Bei dem es im übrigen nicht nur ums Strampeln geht, sondern auch der Kopf gefordert ist. Für einen Spitzenrang in einer der Wertungen bedarf es Planung und ausgefeilter Taktik. Auf Flachetappen beginnen die Teams zuweilen schon 70, 80 Kilometer vor dem Ziel damit, ihre Sprinter für das Finish auf den letzten Metern in Position zu bugsieren. Das kann auch beim Zusehen höchst spannend sein. Bei den großen Bergetappen, bei denen das Feld zersprengt wird und sich entscheidet, wer am Ende in Gelb auf die Champs-Élysées einbiegt, müssen die Spitzenkandidaten bei der ganzen Plackerei noch permanent auf dem Schirm haben, welche Attacken sie parieren müssen und wie weit sie welchen Konkurrenten davonziehen lassen können.

Die Tour gebiert Tage wie den 18. Juli 1995. Auf der mörderisch schweren Pyrenäenetappe legte der ein paar Jahre später des Dopings überführte Richard Virenque den Ritt seines Lebens hin. Gleich zu Beginn war er ausgerissen und 180 von 210 Kilometern über fünf brutale Pässe dem jagenden Feld mutterseelenallein vorangefahren. Im Ziel jubelte er ausgelassen, nur hatte sein Team sich während der Etappe dagegen entschieden, ihm mitzuteilen, dass der Italiener Fabio Casatelli bei einer Abfahrt tödlich verunglückt war (auch die Tourleitung hatte die Etappe nicht abgebrochen). Als man es ihm kurz nach seinem Triumph mitteilte, brach er fast zusammen, wohl nicht nur wegen der körperlichen Strapazen. Ein zynisches Spiel? Unmoralisch? Möglich. Andererseits: Hätte man Virenque den mehr als verdienten Sieg nehmen sollen? An so einem Tag wird vieles auf einmal sehr unwichtig, das vergisst man nicht, auch wenn man 'nur' am Fernseher dabei war.

Überhaupt kann man durchaus demütig werden, wenn man mitbekommt, wo diese Sportler sich da eigentlich hochquälen. Vor einigen Jahren berichteten die ehemaligen Tourlegenden Laurent Fignon und Bernard Hinault für Eurosport im Frühjahr über Schlüsselstellen der kommenden Tour, die sie per Rad abfuhren. Bei der Hälfte des berüchtigten Anstiegs nach Alpe d'Huez mussten diese beiden gestandenen Ex-Profis, die sportlicher sein dürften als viele, aufgeben und den Rest der Strecke schieben. Ein Studienfreund und ehemaliger begeisterter Tourenfahrer erzählte einmal, wie er und ein paar Freunde eines Sommers den ebenfalls gefürchteten Col du Tourmalet in den Pyrenäen angehen wollten. Als sie die Route am Vortag mit dem Auto erkundeten, war man sich schnell einig: Das lassen wir mal lieber, wir sind doch nicht lebensmüde!

Dann wäre da der egalitäre Charakter des Ganzen. Eine Tour de France-Etappe live zu erleben muss man sich in etwa vorstellen wie eine Mischung aus Volksfest und Dauerwerbesendung. Lange vor den Fahrern kommt die Werbekolonne. Man wird beschallt, beworben und genervt. Dafür sollen die Werbetreibenden, wie man so hört, sehr großzügig mit diversen Gratisgaben sein. Zudem ist jenseits der letzten paar hundert Meter jeder Etappe und vor den großen Bergwertungen das Zugucken überall gratis (wie sollte es auch gehen, solche Strecken komplett abzusperren?). Auf den Flachetappen ist das mitunter ein eher kurzes Vergnügen, weil das Feld nach ein paar Sekunden vorbeigerauscht ist. Auf den Bergetappen muss man halt beizeiten vor Ort sein. Großer Sport für jedermann. Nirgendwo kommt man den Aktiven so nahe, ohne einen einzigen Cent Eintritt zu zahlen. Wo gibt’s das sonst? Bei den letzten beiden Olympischen Sommerspielen vielleicht, bei denen die Organisatoren sich verzockt hatten und verzweifelt versuchten, irgendwie die Tribünen vollzubekommen.

Und schließlich ist die Tour immer weit mehr als ein Radrennen. Jedes Jahr kann man aufs Neue die in jahrzehntelanger Erfahrung gewachsene Meisterschaft der französischen Fernsehleute bewundern, nicht nur das Rennen in Szene zu setzen (die Kameraleute auf den Motorrädern sind wahre Akrobaten), sondern auch die zig Schönheiten und Reize neben der Strecke. Die Landschaften, die Weinberge, die alten Gemäuer, die Kultur der Regionen, wozu natürlich auch Weine und Fressalien gehören. Ohne letzteres geht es ja in Frankreich sympathischerwese nicht. Am letzten Tag dann die große Schaufahrt durch Paris über Place de la Concorde und Champs-Élysées, mehr eine Abschlussfeier denn sportlicher Wettkampf, trotzdem großes Kino auch das. Man sagt, die Tour de France sei für viele Franzosen auch wichtiges Ritual, eine Art Einstimmung auf die kollektiv im August stattfindende Urlaubszeit.

Heuer haben sie es übrigens schon während der zweiten Etappe geschafft, dass mir das Herz aufging. Das Peloton strampelte zwischen Aachen und Lüttich durchs Flandrische Flachland, als plötzlich in den Feldern eine junge Reiterin erschien, die auf einem galoppierenden Schimmel versuchte, das Tempo des Rennens mitzugehen. Ihre Haare, Mähne und Schweif des Pferdes wehten um die Wette ihm Wind. Ein wunderschönes Bild, perfekt eingefangen. Die haben's einfach drauf. In diesem Sinne: Vive Le Tour, trotz allem!


3 Kommentare :

  1. Na ja, leider ist es Normalos wie durchtrrainiereten schnellen Hobbyfahreren und exzellenten Freizeitradrennfahrern nicht möglich an diesem Rennen teilzunehmen.

    Anders, als bei den großen Städtmarathons, die mehr Aktive auf die Beine bringen, als die TdF Zuschauer hat. Hier startet die afrikanische Weltelite - ich nenne sie die Bleistifte- zusammen mit den nach Feierabend laufenden Radiergummis. Zuschauen ist auch kostenlos.

    Ich selber hatte einmal Gelegenheit, als einer der rd. 300 Starter zusammen mit dem Weltmeister im Berglaufen, Jonathan Wyatt beim Karwendelberglauf in Mittenwald zu starten. Er lief die 1.400 Höhenmeter in 59 Minuten, ich brauchte fats eine Stunde länger - egal. So etwas wäre bei der TdF nicht denkbar.

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    1. So weit ich weiß, geht das bei den großen Rundfahrten generell nicht, ich erkläre mir das weniger mit bösem Wille, denn mit Logistik. Die Etappe muss halt zum Zeitpunkt x beendet sein, weil nicht der ganze Tross, aber doch so einiges weiterziehen muss. Da kann man nicht warten, bis die letzten Hobbyfahrer ins Ziel getrudelt kommen. Bei Ein-Tages-Veranstaltungen sollte das einfacher sein.
      Und umsonst ist teilnehmen auch nicht. Bei den großen Städtemarathons zahlen die Radiergummis m.W.n. Startgebühren im satten dreistelligen Bereich, auch die Teilnahme als Hobbyfahrer an Tagesklassikern wie Paris-Roubaix kostet.

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  2. Teilweise Zustimmung. Beim Ötztaler Radmarathon, ein Tagesrennen mit 238 km und 5.500 Höhenmetern starten 4.000 Biker. Die Zahl der Bewerber liegt bei ca. 20.000. Logistik ist top. Startpläze sind 1 Std. nach Einstellung ins Netz weg. Startgeld 149,--Euro.

    Hobbyfahrer bekommen auf der Abfahrt vom Timmelsjoch nach Sölden eine Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h drauf.

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