Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Samstag, 5. November 2016
The longer read: Literatur in Zeiten des Mega-Ich
Über dicke Bücher im Allgemeinen und den irrtierenden Erfolg des Norwegers Karl Ove Knausgård im Speziellen
Einen Hang zur Kürze pflege ich von jeher. Als Schüler hatte ich kein Verständnis dafür, wie man bei einer Oberstufenklausur Seite um Seite mit Geschwafel vollschmieren konnte, nur um der Quantität willen. Meine Klausuren waren in der Regel kurz und bündig und deswegen unterm Strich weder besser noch schlechter benotet als die der notorischen Vielschreiber. Seitdem ist es nicht besser geworden. Mit zunehmendem Alter reagiere ich unleidlicher, wenn ich das Gefühl habe, ein Redner, ein Regisseur oder eben ein Schreiber will mir mit endlos langem hohlem Geklapper die kostbarer werdende Zeit klauen. Wie an anderer Stelle erwähnt, sind mir Menschen höchst suspekt, die das Leistungsprinzip auf den Umfang ihrer Lektüre ausdehnen, will heißen: für die Bücher unter 500 Seiten bloß Prospekte sind. Bei mir verhält es sich umgekehrt. Ein Buch über 500 Seiten muss richtig gut sein, der Verfasser verdammt was draufhaben, damit ich nicht die Geduld verliere und es wieder beiseite lege.
Exakt ein einziges Buch von deutlich über tausend Seiten hat es in meinem an Lektüre nicht eben armem Leben gegeben, das ich in einem Rutsch gelesen und nur notgedrungen zum schlafen und essen aus der Hand gelegt habe. Ich war jung, hatte Ferien, die Tage schienen endlos, es waren die Zeiten des Ausverkaufs der abgewickelten DDR-Verlage. Ein paar Monate zuvor hatte ich von einem Wühltisch vor der Heinrich-Heine-Buchhandlung die dreibändige 'Volk und Welt'-Ausgabe von Victor Hugos 'Die Elenden' (Les Miserábles) für einen Spottpreis erstanden. 1.500 Seiten für zehn Märker, wenn's mich nicht täuscht. Auf recht grobem, an Toilettenpapier einfacherer Qualität gemahnendem Material gedruckt, aber der Preis schlug's eben. Drei, vier Tage las und las ich mit heißem Herzen und las immer weiter. Ich tauchte völlig ein in dieses Riesenpanorama der Welt des 19. Jahrhunderts, konnte nicht lassen von Hugos über hunderte Seiten sich entfaltenden Linien und Bögen, die sich irgendwo, irgendwann auf fatale Weise kreuzten oder verfehlten.
Der deutlich zu jung gegangene Roger Willemsen galt vor seiner Fernsehkarriere als Experte für Robert Musils Mehrtausendseitentrumm 'Der Mann ohne Eigenschaften'. Noch so ein Brikett, das sich nicht jedem spontan erschließt. Auch Willemsen, der noch in den Neunzigern, längst als Fernseh- und Medienmann, Seminare über Musil an der Ruhr-Uni Bochum gab, schien das zumindest geahnt zu haben. Es geht die Mär, er solle regelmäßig versucht haben, die wegschlummernde Stundentenschaft aufzumuntern mit den Worten: "Kommen Sie, meine Damen und Herren, der Verfasser ist während des Schreibens dieses Kapitels verstorben. Etwas mehr Respekt bitte."
Auch für einen weiteren Klotz der jüngeren Literaturgeschichte habe ich mich nie recht erwärmen können. Für Tolkiens 'Herr der Ringe'. Ich habe es ein paar Mal angefangen, weil liebe Menschen, auf deren Urteil ich etwas gebe, es wärmstens empfohlen haben, habe es aber jedes Mal schnell wieder weggelegt, weil ich Kopfschmerzen bekam. Das Gereime und Geraune wollte mich einfach nicht erreichen. Berührte mich kein Stück. Es war mir komplett egal, ob da in unvordenklichen Zeiten irgendwelche Elben irgendwelchen Orks eins auf die Mütze gegeben haben sollen oder umgekehrt, oder ob ein finsterer Zauberer einen Ring geschmiedet haben soll, der den Träger zu einer Art Superman macht und die Chakren des Universums in die Binsen haut. Juckte mich alles nicht. Was übrigens mein grundsätzliches Problem mit Fantasy ist, die in weitgehend geschlossenen Gegenwelten spielt.
Endgültig gekillt für mich hat es übrigens die dreiteilige Verfilmung von Peter Jackson, auch so ein Meister der Überlänge, er. Am Ende frug ich mich: Wieso latschen diese Witzfiguren ewig lang zu Fuß durch einen ganzen Kontinent, um einen Ring in einen Vulkan zu schmeißen und ertragen dabei die ganze Zeit das dämliche Gelaber vom diesem Gollum, wo sie doch gleich mit den Adlern hätten hinfliegen können? Überflüssig zu sagen, dass ich dankend ablehnte, als ich einmal das Angebot bekam, ein Wochenende lang die Bonus-ultra-extended-XXXXXXL-Version zu schauen, die mit allen Extras 58 Stunden oder so dauert. Zurück zum Medium Buch.
Die drei oben genannten Beispiele haben eines gemeinsam: Ob sie sich mir nun erschlossen haben oder nicht, sind sie allein schon wegen ihrer Vielschichtigkeit verdammt große Kunst. Hugos erzählerisches Genie, die Souveränität, mit der er ganz große Bögen spannt, oder Tolkiens stupendes Wissen um Mythologie, Theologie, Geschichte, alte Sprachen und Narratologie - das sind zwar keine Voraussetzungen für große Literatur, nötigen einem aber höchsten Respekt ab. Fiktionale Literatur bedeutete und bedeutet, es denkt sich jemand irgendetwas aus. Figuren, Settings, Welten, ob real, halbreal oder scheißegal. ('Realistisch' ist übrigens ein Deppenattribut, wenn's um Literatur geht, was zählt, ist Glaubwürdigkeit.) Und diese Figuren geraten dann normalerweise irgendwie mit anderen Figuren, Settings und Welten aneinander. Günstigstenfalls kommt dabei etwas ganz Großes heraus, das größer ist als die Urheber, manchmal weniger, allzuoft Müll, und letztlich ist alles immer noch Geschmackssache. Auf jeden Fall aber ist Literatur, ob nun direkt oder indirekt, eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart, in der sie entstanden ist.
Ein weiterer wuchtiger Wälzer, der seit einigen Jahren heftig gefeiert wird, ist Karl Ove Knausgårds sechsbändiges Opus Magnum 'Mein Kampf' (huiii, der Mann traut sich aber was, ein Wahnsinn!), und der Riesenerfolg, den das hat, ist mir ein Rätsel. Der Typ scheint sich darin nämlich mit nichts anderem zu beschäftigen als mit sich selbst. Über sein Schreiben meint er: "Tatsächlich hatte ich überhaupt keine Fantasie, alles, was ich schrieb, war eng mit der Realität und meinen Erlebnissen darin verbunden." Aha. Und über dies uninspirierte Schreiben sagt er in Interviews, "er habe mit Absicht schlecht und nachlässig geschrieben, simpel und spontan, in der Hoffnung, mit diesem Nicht-Stil auf eine höhere Stufe der existenziellen Wahrhaftigkeit zu gelangen." Soso, im Zweifel war das Absicht und muss so. Kann man sich immer drauf rausreden.
Nun habe ich das Buch nicht gelesen, was ja spätestens seit Thilo Sarrazin eine Todsünde ist und jeden potenziellen Kritiker auf der Stelle komplett disqualifiziert. Trotzdem wage ich, leise Zweifel anzumelden. Was soll so toll daran sein, einem am Rande des Wahnsinns und der Alkoholsucht balancierenden Möchtegern, der sich in den Kopf gesetzt hat, Schriftsteller zu sein, vielleicht aber besser Schreiner geworden wäre, beim Leben zuzugucken? Bei seinen Räuschen, seinen Problemen mit Frauen und mit seiner Familie? Was soll das bringen? Man verstehe mich nicht falsch. Innenwelten können hoch spannend sein, aber immer nur ich, ich, ich, ich und nochmals ich? Tausende Seiten lang? Vielleicht bin ich ja bloß ein Kleingeist, der ein Problem mit großen Persönlichkeiten hat oder einfach neidisch, aber mein spontaner Gedanke war: Da scheint einer sich selbst aber unendlich wichtig zu finden. Es gibt Leute, die veröffentlichen am Ende eines langen, erfüllten Lebens, wie man so sagt, ihre Tagebücher in ein, zwei Bänden. Knausgård war noch keine vierzig, da hatte er schon sechs Bände voll. Ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Wie dem auch sein, es fahren offenbar eine Menge Leute darauf ab. Und das bringt uns zur Rezeption. Die ist ja immer Teil des Problems.
Die von mir nicht unbedingt verehrte Julie Zeh hat in einem Punkt meine volle Unterstützung und mein volles Mitgefühl: Ihr ist das ewige Schnüffeln ihrer Leser, was an dem von ihr geschriebenen denn nun irgendwie autobiographisch sei, zutiefst zuwider. Wäre ich Autor, die Vorstellung, auf meinen Lesungen säßen spitzmündige Bildungsbürgerinnen, die ihre Lesebrillen an Ketten um die Hälse tragen, und/oder rüstige pensionierte Deutschlehrer ("im 'Un-'Ruhestand", hahaha), die beim abschließenden Frage-Antwort-Spiel die Köpfe schief legten und raunten: "Literatur ist ja immer ein Stück weit autobiographisch, daher frage ich mich, ob es bei dem, was wir da gerade gehört haben, Bezüge zu ihrer eigenen Kindheit..." - brrr! Ich glaube, nach dem fünften Mal müsste ich gegen Phantasien ankämpfen, in denen Pumpguns, Flammenwerfer und Handgranaten vorkommen. Nicht, weil ich ein Problem damit hätte, in gewissem Rahmen öffentlich über mein Leben zu plaudern, sondern weil es so unsäglich hohl ist.
Wiewohl es sicher spannende, witzige, erhellende, gut geschriebene und auch historisch bedeutsame Autobiographien gibt, sollte man immer bedenken, dass autobiographisch halt immer geht. Ist der kleinste gemeinsame Nenner. Weil's noch der letzte Depp irgendwie kapiert. Und weil es verführerisch einfach ist, den Dingen ex post facto irgendeinen Sinn zu verleihen, meist im eigenen Sinne, obwohl das gar nicht so gewesen sein muss. Es ist kein Zufall, dass auf dem Feld der Autobiographie noch der letzte, von jeglichem Schreibtalent freie Promi-Honk dereinst auf dem Sterbebette von sich sagen kann: Sehet, ich habe ein Buch veröffentlicht! (Wenn auch meist mit professioneller Hilfe.) Ich habe Spuren hinterlassen. Mein Leben war nicht vergebens. Eitelkeit kann viele Gesichter haben.
(Wilde diesbezügliche Unterstellungen in Richtung Ihres freundlichen Bloggers bitte: Jetzt.)
Literatur hat unendlich viel Interessantes, Sinnstifendes, Anregendes zu bieten. Man kann staunen oder streiten über handwerkliche Aspekte, über Rhythmus, Metaphorik, Form, Poesie. Über Imagination, spielen mit oder brechen von Konventionen. Oder darüber, wie ein Buch die eigene Sicht auf Dinge, manchmal ein ganzes Leben verändern kann. Herrlich lässt sich räsonnieren darüber, ob und inwieweit Literatur den jeweiligen Zeitgeist, die Zeitläufte spiegelt, man kann Bezüge zu anderem Geschriebenen, zu Vorbildern und Inspirationen entdecken und und und. Und ja, selbstverständlich ist es auch völlig okay, sich der puren Magie, dem Sog einer Geschichte, eines Erzählstroms einfach nur hinzugeben und sich wegtragen zu lassen.
Autor zu sein kann unendlich frustrierend sein. Ich meine, du gibst dir Mühe, steckst massig Herzblut hinein, du leidest, ringst um Glaubwürdigkeit, durchlebst Schreibblockaden und Krisen - und dann kommt so ein größenwahnsinniger, schmerzfreier, versoffener Norweger mit exhibitionistischer Ader und Sexualneurose des Weges. Der hat immer irgendwie Schriftsteller sein wollen, aber mangels Talent kaum je was gerissen. Daher hat er sich darauf verlegt, auf einem halben Regalmeter stumpf sein Leben auszubreiten (früher hieß das 'Memoiren' und der Betreffende starb dann beizeiten). Und, was passiert? Die Leute feiern's als Offenbarung und reißen's ihm millionenfach aus der Hand. Weil sie sich ja so darin wiedererkennen! Ohhh, das könnte ja ich sein! Wie gut, dass ich das nicht und da ganz anders bin! Ich fände das höchst ärgerlich. Bauchspiegelung mit quasi therapeutischer Wirkung als gefeierter Höhepunkt der abendländischen Literatur in Zeiten von Facebook - wahrlich, es scheint weit gekommen.
Ich mag dem ja überhaupt nicht den Status Literatur absprechen. Literatur ist im Zweifel vieles, und wer bin ich, da zu urteilen? Erst recht will ich keinem ausreden, das irre spannend zu finden. Trotzdem: Entweder sind Knausgårds Tagebücher unsäglicher, selbstverliebter Müll, dessen Erfolg eine Menge Beunruhigendes über das aussagt, zu dem der ach so aufgeklärte Westen inzwischen herabgesunken ist, oder es ist ganz große Kunst, eine grandiose Eulenspiegelei. Marcel Duchamp stellte einst der Welt seine alten Flaschentrockner und benutzten Klobürsten ins Museum, gab das für Kunst aus und lachte sich einen Ast, wie bierernst das kunstbeseelte Publikum das nahm. Analog dazu säße vermutlich Karl-Ove Knausgård jeden Tag tiefenentspannt beim Angeln vor seiner Hütte am See und lachte sich einen Ast darüber, dass die Leute ihm seine gebundenen Kladdeninhalte abkaufen wie geschnitten Brot. Und schenkte sich noch einen ein.
Es spricht nur einiges dafür, dass der Mann für die letztere Variante zu humorlos ist.
(Wer diesen Beitrag zu lang findet oder Autobiographisches darin, darf es behalten.)
tl;dr: Dicke Bücher sind nicht zwangsläufig gute Bücher. Bestseller auch nicht. Und Literatur zu verengen auf autobiographische Ausflüsse, ist nicht nur doof und denkfaul, sondern bringt sie am Ende auf den Hund.
8 Kommentare :
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Kommentare zum Post
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Mir ging's mit Knausgard ähnlich. Ich kaufte etwas übermütig gleich zwei Bände, "Lieben" und "Sterben". Als Hypochonder begann ich mit "Sterben" und soweit ich mich erinnere, hatten es die ersten drei Seiten (oder waren es Sätze?) in sich. Ich war elektrisiert. Quälte mich 100 Seiten, bis ich entnervt aufgab und "Lieben" zu einem Geburtstag verschenkte, nicht mal einen Blick wollte ich da mehr reinwerfen. Aus Knausgard und mir, das wird nix, war mir klar.
AntwortenLöschenKennst du "Die Korrekturen" von Jonathan Franzen? Ein lohnender Wälzer, auch wenn die ersten 100 Seiten sperrig sind, aber dann...
Knausgård? Da lobe ich mir Charles Bukowski – DER ist
AntwortenLöschenauthentisch!
Vor allem hat der nicht gelangweilt.
Löschen@Annika. Gleich zwei Bände gekauft - mutig, mutig! Jedenfalls ein schönes Geschenk für verhasste Menschen. 'Die Korrekturen' ist mir bekannt und steht auch hier rum, leider bin ich bisher an besagten 100 Seiten gescheitert.
Es lohnt sich unbedingt. Bis heute eins meiner Lieblingsbücher.
LöschenIst doch überraschend lang, was du dazu notierst (tl;dr – bei Gelegenheit werd ich ...)
AntwortenLöschen(Aber natürlich hast du Recht. Überlange Texte sind mir auch suspekt. In der Kürze und so weiter.)
Wenn es nur das eigene Leben wäre, was die Promi-Blase da literarisch aufbereitet, wäre die Sache noch in Ordnung.
AntwortenLöschenAber mittlerweile wird ja alles verwurstet: Krankheiten, Alter, Familiengründung, kleine Lebenskrisen. Es ist nicht zum Aushalten und man kriegt Sympathien für Bücherverbrennungen. Ob es der Prostata-Krebs der völlig zu Recht in Vergessenheit geratenen Brüder Roth oder die mickrige Lebenskrise einer Miriam Meckel ist oder die Tatsache, dass die Nachrichtensprecherin Gerster fünfzig geworden ist und sie niemand mehr für einen One-Night-Stand abschleppt: es gibt keine Hämorrhoide mehr in Deutschland, die literarisch unbesprochen bleiben darf.
Wenn ich wissen will, was drin steht, bin ich ein durchaus beharrlicher leser. Ich habe sogar »Atlas Shrugged« in voller länge gelesen.
AntwortenLöschenWer hingegen etwas zu melden hat, faßt sich kurz.
>Cloud Atlas< ist mir lieber :D
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