Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Mittwoch, 22. Februar 2017
Schmähkritik des Tages (5)
Heute, aus aktuellem Anlass: Deniz Yücel über das sich abschaffende Deutschland
"Endlich! Super! Wunderbar! Was im vergangenen Jahr noch als Gerücht die Runde machte, ist nun wissenschaftlich (so mit Zahlen und Daten) und amtlich (so mit Stempel und Siegel) erwiesen: Deutschland schafft sich ab! […]
Noch erfreulicher: Die Ossis schaffen sich als Erste ab. Während im Westen die Zahl der Minderjährigen in den vergangenen zehn Jahren um 10 Prozent gesunken ist, ging sie im Osten um 29 Prozent zurück. Die Sandys, Mandys und Jacquelines pfeifen auf das neue deutsche Mutterkreuz ("Elterngeld") und tragen nach Kräften dazu bei, dass den ostdeutschen Volkssportarten Jammern, Opfersein und Ausländerklatschen in absehbarer Zeit der Nachwuchs ausgehen wird.
Woran Sir Arthur Harris, Henry Morgenthau und Ilja Ehrenburg gescheitert sind, wovon George Grosz, Marlene Dietrich und Hans Krankl geträumt haben, übernehmen die Deutschen nun also selbst, weshalb man sich auch darauf verlassen kann, dass es wirklich passiert. Denn halbe Sachen waren nie deutsche Sachen ("totaler Krieg", "Vollkornbrot"); wegen ihrer Gründlichkeit werden die Deutschen in aller Welt ein wenig bewundert und noch mehr gefürchtet.
Nun ist schon so manches Volk ohne das gewalttätige Zutun anderer von der Bühne der Geschichte abgetreten: Die Etrusker wurden zu Bürgern Roms, die Hethiter gingen im anatolischen Völkergemisch auf, die Skythen verschwanden irgendwo in den Weiten der Steppe. […] Der baldige Abgang der Deutschen aber ist Völkersterben von seiner schönsten Seite. […]
Der Erhalt der deutschen Sprache übrigens ist kein Argument dafür, die deutsche Population am Leben zu erhalten. Denn der Deutsche und das Deutsche haben miteinander etwa so viel zu schaffen wie Astronomie und Astrologie. […]
Nun, da das Ende Deutschlands ausgemachte Sache ist, stellt sich die Frage, was mit dem Raum ohne Volk anzufangen ist, der bald in der Mitte Europas entstehen wird: Zwischen Polen und Frankreich aufteilen? Parzellieren und auf eBay versteigern? Palästinensern, Tuvaluern, Kabylen und anderen Bedürftigen schenken? Zu einem Naherholungsgebiet verwildern lassen? Oder lieber in einen Rübenacker verwandeln?" (taz, 4.8.2011)
Schwierige Zeiten - lange Zitate.
Deniz Yücel ist einer der begnadetsten Polemiker, die der deutsche Sprachraum kennt. Schon als taz-Kolumnist ist er mit Vorliebe dahin gegangen, wo es weh tut. Das Ausmaß des verbalen Drecks, den kleingeistige, doofrechte, hysterisch blökende Zimperliesen wegen taz-Kolumnen wie der oben zitierten über ihn gekübelt haben, weil es ihren bierdeckelgroßen Horizont überstieg, dass man sehr wohl in zwei Kulturen leben kann und selbstverständlich auch das Recht hat, ein ödes, furzgemütliches Erbsensuppenschland mit Helene-Fischer-Sondtrack doof zu finden, dürfte sogar mit Vierzigtonnern nur schwer transportabel sein.
"Deniz hier. Es knallt, ich muss hin. Ruf dich wieder an."
2015 wechselte er ausgerechnet, meinten nicht wenige, darunter ich, zu Springers 'Welt'. Dort hatte man wohl seine Berichterstattung aus dem Gezi-Park mit Interesse verfolgt und sich bemüht, ihn als Türkei-Korrespondent zu gewinnen. Seither geht er dahin, wo es nicht nur verbal weh tut. Er war mit Kurden im Schützengraben, bekam auf dem Taksim-Platz das Tränengas der Polizei ab, begleitete die einzige christliche Bürgermeisterin der Türkei, schlich sich verkleidet über die syrische Grenze und jetzt, sitzt er seit einer Woche in Istanbul in Haft. Offiziell wegen Terrorverdachts, aber wohl eher, weil in den Augen der türkischen Regierung jeder, der zu sehr aufmuckt, "wahlweise ein PKK-Anhänger, ein Gülenist, ein Kemalist, ein Alkoholiker, ein Herumlungerer, ein Dieb, ein Vaterlandsverräter oder ein Terrorist" (Hasnain Kazim) ist.
Definitiv ist er ein Besessener, im Austeilen wie im Einstecken, immer voll drauf auf die Zwölf. Solche Reportertypen fehlen. Auch bei der 'Welt' scheinen sie diesen Berserker innig lieb gewonnen zu haben. Ich habe jedenfalls noch niemals in dem Blatt einen so warmherzigen Beitrag gelesen wie den von Silke Mühlherr. Dem schließe ich mich an, Springer oder nicht. Mehr kann unsereins leider kaum tun zur Zeit.
Uğramak, Deniz! Seni özledim.
3 Kommentare :
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AntwortenLöschenVorbehaltlos.
Was machen Deutsche Botschaft Ankara, Auswärtiges Amt, Bundeskanzleramt? Nichts? Statements, verbales Bedauern und Besorgnis bemühen, beobachten?
Sicher, was ist ein kritischer Journalist gegen einen Daimler-Manager?
Manager würden auch nie auf die Idee kommen, für individuelle menschliche Freiheiten einzustehen. Dort kennt man nur das Recht auf Profite
Deniz gibt den unzähligen anderen Journalisten ein Gesicht. Ich hatte ihn nie in der Welt gelesen, sondern bisher nur seine Kolumnen in der TAZ (mag sein, weil ich die Welt nicht lese).
AntwortenLöschenEinem Free-Deniz-Aufruf kann ich mich vorbehaltlos anschließen.
ABER: Da gibt es auch noch unzählige andere Journalisten, die vielleicht keine deutsche Staatsbürgerschaft (neben der türkischen) haben, die ebenfalls inhaftiert sind. Und deren Inhaftierung ist genau so inakzeptabel. Des weiteren gibt es Lehrer, Richter, und so weiter und sofort.
Deniz steht einem näher, weil man ihn kennt und vielleicht auch, weil er u.A. Deutscher ist. Das ist nur all zu menschlich, und ich möchte das auch nicht kritisieren.
Ich möchte nur hinzufügen:
Jeder politsch Inhaftierte in der Türkei ist einer zuviel. Und die meisten Anderen verdienen es genauso, frei gelassen zu werden. Wir kennen Deniz Yücel, aber es gibt darüber hinaus hunderte, tausende andere Namenlose die ebenso dort unrechtmäßig einsitzen.
Das sollte in dem Kontext zumindest nicht unerwähnt bleiben.
Und der merkelschen Türkei-Deal (dem außenpolitischen pragmatischen Kalkül des Abwägens) sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben.
Es gibt meiner Meinung nach durchaus Parallelen zu Böhmermann und Yücel, auch wenn sie sich nicht unmittelbar aufdrängen.
Deniz Yücel ist nicht nur ein begnadeter Journalist in politischer Haft.
Man täte ihm unrecht, wenn man sein Schicksal isolliert betrachtet.
Ich hoffe, er kommt unbeschadet wieder frei, um seine eigenen Gedanken dazu zu äußern.
Bis dahin:
#FreeMoreThanDeniz
LG
Duderich
Unbedingt! Sehr wichtige Ergänzung. Vielen Dank dafür.
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