Dienstag, 15. Mai 2018

Incelbegabungen


Seit einiger Zeit wissen wir nun also, dass der Amokfahrer von Toronto, der 10 Menschen tötete und etliche weitere verletzte, ein 'Incel' war. Das ist die Abkürzung für 'involuntary celibate', also etwa 'unfreiwillig zölibatär'. Obwohl die Bezeichung von einer Frau stammt, werden damit neuerdings Männer bezeichnet, die gern Beziehungen zu und Sex mit Frauen hätten, aus irgendwelchen Gründen aber immer wieder scheitern und mit ihren Wünschen und Sehnsüchten auf der Strecke bleiben. Und weil wir im Zeitalter der Echokammern leben, verbittern diese Menschen nicht selten unter ihresgleichen und entwickeln, sich gegenseitig bestätigend darin, eine Opferhaltung. Sie sehen sich als Opfer einer Gesellschaft, in der außer den finanziell Potenten noch diejenigen zum Zuge kommen, die oberflächlichen Kriterien an Hotness entsprechen und werfen Frauen vor, nur noch darauf zu schauen. 

Es ist natürlich leicht, diese Menschen für Spinner zu halten, für gefährliche zumal. So geht’s eben zu, könnte man sagen, in Zeiten, in denen bratärschige onlinesüchtige Pöbler sich zu Helden stilisieren und uns nicht nur Copyright-Anwälte weismachen, illegales Runterladen von Pornos mache einen schon zum Piraten. Piraten und andere Rebellen sind schließlich crazy/sexy/cool. Zumal es in diesen Pornos ja meist darum geht, dass Frauen vom bloßen Anblick eines beliebigen männlichen Gemächts derart todesgeil werden, dass sie auf der Stelle ohne Umschweife zur Fellatio schreiten (manchmal genügt sogar die Frage nach herumliegendem Stroh). Wer heute zwischen 20 und 30 ist, gehört zur ersten Generation, die einigermaßen flächendeckend mit so was groß geworden ist. Man fragt sicher nicht zu Unrecht, was das mit Männer- und Frauenbildern macht.

Das Dumme ist nun, dass die Harvey Weinsteins und Gebhard Henkes dieser Welt mit der GVZ-Nummer ja lange Zeit hervorragend gefahren sind. Weil sie im Gegensatz zum Durchschnittsincel Geld hatten und Macht, zumindest aber Jobs zu vergeben und weil Sex auch eine Währung ist. Sind Incels wirklich neidisch auf solche Typen, möchten sie Beziehungen haben mit Frauen, die auf so was abfahren? Entgeht ferner denen, die den Objekten ihrer Begierde Oberflächlichkeit andichten, da diese in Paarungsdingen angeblich nur auf Looks und Kohle kuckten, nicht, wie oberflächlich sie selbst sind? Weil sie, wie ihre es noch doller nötig habenden Pendants aus der Pick up-Szene, ihrerseits eben auch alles auf Sex reduzieren?

Auch die feministische Sphäre hat in den als 'Beta-Männer' bezeichneten 'Incels' eine weitere Todesgefahr ausgemacht, die exklusiv Frauen bedroht. Was soll's, auch das mag sein oder nicht, folgt schön bequem dem Schema vom Mann, dem defizitären Wesen, das mit der modernen Welt ums Verrecken (no pun intended) nicht klarkommen will. Exklusiv männliche Todesgefahren, die sich nicht nur daraus ergeben, dass Männer ohne segensreichen femininen Einfluss zu doof sind, auf ihre Gesundheit zu achten, sondern daraus, dass Männer fast alle gesundheitsgefährdenden potenziell tödlichen Jobs machen, zählen dabei so wenig wie lästige Pfennigfuchserei beim Gender Pay Gap. Aber ich schweife ab.

Warum aber, frage ich mich bei all dem, zitiert bei dieser Gelegenheit eigentlich niemand Michel Houellebecq, obwohl das so naheliegend wäre? Der meinte nämlich schon vor knapp zwanzig Jahren in seinem Debut, dem 1999 auf deutsch erschienenen Thesenroman 'Ausweitung der Kampfzone':

"Der Sex, sagte ich mir, stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise. Auch die Wirkungen dieser beiden Systeme sind genau gleichartig. Wie der Wirtschaftsliberalismus – und aus analogen Gründen – erzeugt der sexuelle Liberalismus Phänomene absoluter Pauperisierung. Manche haben täglich Geschlechtsverkehr; andere fünf oder sechs Mal in ihrem Leben, oder überhaupt nie. Manche treiben es mit hundert Frauen, andere mit keiner. Das nennt man das 'Marktgesetz'. In einem Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen Platz. In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen. In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt." (Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, S. 99)

Kurz gesagt: Überall dort, wo die große Freiheit Einzug hält, folgt der Wettbewerb aller gegen alle unvermeidlich auf dem Fuße. Und der macht nun einmal das, was er immer tut: Gewinner und Verlierer hervorbringen nämlich. In der Wirtschaft heißt das 'soziale Schere'. Im Feld der Sexualität ist es nicht anders. Das ist sicher nicht lückenlos und auch nicht völlig stringent, da nicht auf alle Milieus anwendbar. Reiche und Mächtige haben es schon immer krachen lassen, unabhängig vom Sexualsystem. Für jene Teile der Gesellschaft aber, die dem allgemeinen Rattenrennen unterworfen sind, kommt das schon hin. 'Incels' sind demnach ein Kollateralschaden einer vom bis ins Intimste reichenden Selbstoptimierungswahn besessenen Gesellschaft, die nur den verpaarten, sexuell aktiven Menschen als vollständig erachtet und in der eben längst nicht mehr jedes Töpfchen irgendwie sein Deckelchen findet.

Ist das so schwierig zu durchschauen? Houellebecq übrigens sah sich damals unter anderem mit dem Vorwurf konfrontiert, ein "wild gewordener Kleinbürger" zu sein. Wird so was wie der Vorgänger des 'Alten Weißen Mannes' gewesen sein. Mag daran gelegen haben, dass in dem Buch häufiger das böse N-Wort vorkommt. Literaturexperten, die ein Erzähler-Ich nicht von einem Autoren-Ich zu unterscheiden vermögen, können da natürlich auf falsche Gedanken kommen.




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