Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Sonntag, 30. Dezember 2018
Beknallt
Es gibt durchaus gute Gründe, gegen die Silvesterknallerei zu sein. Mein Leben etwa wäre an Silvester definitiv angenehmer ohne, denn ich hatte bis weit in meine Jugend ziemlichen Schiss davor und fühle mich immer noch nicht wirklich wohl. Wenn ich an Silvester das Haus verlassen muss, habe ich zur Sicherheit auch heute noch Ohrenstöpsel in der Tasche. Sehe ich vor mir an der Kassenschlange im Supermarkt welche, die hunderte von Euros für Baller- und Flitterkram hinlegen, frage ich mich schon, ob die Deutschen in toto wirklich so wenig Geld haben wie oft kolportiert. Wenn ich erfahre, das Gelände eines führenden Herstellers von Feuerwerksartikeln im Rheinland gliche schon Tage vor dem alljährlichen Werksverkauf einem Heerlager, weil knallgeiles Volk in Legionsstärke dort kampiert, dann ertappe auch ich mich bei der Frage, ob die alle nichts wichtigeres zu tun haben (zwischen den Jahren alten Freunden auf die Nerven gehen etwa).
Da nun ein jeder sich zum Gemüse machen möge so gut er kann, könnte man sagen: Meine Güte, man stopft sich halt einmal im Jahr was in die Ohren und gut. Aber das reicht nicht mehr anno 2018. Leben wir schließlich in Zeiten, in denen nicht wenige ihren Lebensstil und ihre höchstpersönlichen Befindlichkeiten mindestens für der Nabel der Welt und deswegen einer Kampagne würdig erachten. Es scheint aber auch wirklich schlimm zu stehen um Deutschland. Glaubt man etwa Lorenz Maroldt, Chef=Redaktör des Berliner Tagesspiegel, dann verwandeln Teile der Hauptstadt sich in der Nacht zum 1.1. in ein Kriegsgebiet, gegen das Dresden 1945 ein Kindergeburtstag war. Sein Frontbericht:
"Gezielt wird auf alles, was sich bewegt, also auf Fahrzeuge, Fahrradfahrer, Fußgänger und Feuerwehrleute, aber auch auf offene Fenster, Balkone und Terrassen; es werden Briefkästen gesprengt, Mülltonnen abgefackelt, Busse beschossen, Haltestellen attackiert, Geschäfte angezündet. Ganze Gebiete sind über Stunden nicht sicher passierbar."
Der reinste G20-Gipfel also. Liest man dergleichen szenisch aufgerüschte Lingua Claasi Relotii und ist man damals in den frühen Achtzigern mit der Friedensbewegung sozialisiert worden, dann pflegen, eine gewisse Phantasiebegabung vorausgesetzt, vor dem geistigen Auge hysterische Teppichtaschenträger/innen zu erscheinen. Die dann im hohen, meist ungut schrillen Tonfall des moralisch höher stehenden ihre Angst vorm baldigen Tod durch Saurem Regen, Atomtod und Waldsterben an die Wand malen. Auf Wunsch stundenlang.
Ja, vermutlich würde ich anderes reden, wenn ich schon mal hätte mitansehen müssen, wie ein Kind durch einen unsachgemäß verwendeten Böller schwer verletzt worden wäre. Kann sein, will ich nicht ausschließen. Und was ich am liebsten mit welchen machen würde, die zufällig vorbeikommende mit Feuerwerkskörpern beschießen, verkneife ich mir hier lieber zu schreiben (Tipp: es kämen die Worte 'Polenböller', 'öffentlich' und 'Hose' darin vor). Das Dumme ist nur: Wenn wir alles kategorisch verböten, was gefährlich werden könnte, weil ein paar Blitzbirnen sich nicht benehmen können, dann blieben bald nicht mehr viele Aktivitäten übrig. Als erstes müssten wir dann nämlich dem motorisierten Individualverkehr ans Leder.
Wie gesagt: Es ginge mir nichts ab, wenn nicht geknallt würde. Wenn, ja wenn. Wenn diese Anti-Knall-Kampagne nicht so den Eindruck erweckte, hier holte sich einmal mehr eine privilegierte Minderheit auf Kosten des von ihr imaginierten Pöbels einen runter auf das eigene Vernünftigsein und träte an, die Welt per strafbewehrtem Verbot zu einem besseren Ort zu machen. Bzw. das, was sie dafür hält. Dieselbe autoritär-elitäre Pose, in der Ärmeren ihre ach so ungesunde Ernährung vorgehalten wird und ihnen Tipps über gesunde (damit teurere) Biokost (noch teurer) sowie Veggiedays und Zwangsgesportel aufgezwungen und Fett- und Zuckersteuern verhängt werden sollen. Auch Geböller wird gern mit zuchtloser Unterschicht assoziiert, die per Gesetz und Strafandrohung gefälligst davon abzubringen ist. Sie lernt es ja nicht anders.
Es ist diese breitärschige Selbstgerechtigkeit, die am meisten nervt. Und so löst der missionarische Eifer bei mir vor allem unbändige Lust aus, mich noch morgen mit Böllern und Raketen einzudecken und es tüchtig krachen zu lassen. Nicht aus Trotz, sondern aus Prinzip.
Aaaaaaaaber, so das ultimative Totschlagargument, Böllern macht doch Feinstaub! Und da hört sich bekanntlich der Spaß auf. Feinstaub geht gar nicht. Mag sein, das Problem ist nun, dass unter denen, die vehement ein Knallverbot zu Silvester fordern, sich etliche befinden dürften, die ihrerseits mit anderen Mitteln gehörig feinstauben, und das nicht nur zu Silvester. Mittels ihrer mit Betrügersoftware ausgerüsteten Heizölferraris oder den ebenfalls meist dieselnden SUV-Klötzen diverser Gemahlinnen. (Ja, ich weiß, alles bloß Opfer, betrogen von ruchlosen Autokonzernen.) Vor allem aber mit all den lustig knisternden Holzöfen in den Wohnzimmern. Kein Witz:
"Früher hatten arme Menschen die dreckigste Luft, heute ist das umgekehrt. In vielen Wohngegenden hat der Holzofen-Boom eine katastrophale Feinstaubbelastung gebracht. Die gesundheitlichen Folgen sind unabsehbar und im Vergleich dazu sind die lustigen Diskussionen um Stickoxid-Grenzwerte und den Diesel eine Bagatelle. Das Experiment mit der Gesundheit von zig Millionen Deutschen wird durch Steuergelder gefördert, obwohl die Folgen des Feinstaub-Booms bekannt und furchtbar sind. […] Noch vor wenigen Jahren war das Verbrennen von Holz vor allem ärmeren Menschen und landwirtschaftlichen Siedlungen vorbehalten und gesamthaft von geringer Zahl. Das hat sich sehr verändert, die Zahl der Holzfeuerstellen hat sich inzwischen vervielfacht. Vor allem der gehobene Mittelstand hat das Verbrennen von Holz als Lifestyle-Gadget entdeckt und erzeugt dadurch Feinstaub-Immissionen in seit vielen Jahren nicht gekannter Rekordhöhe." (Jörg Kachelmann)
So eine unsichtbar vor sich hin werkelnde Zentralheizung ist eben voll unromantisch. Also wird ein Kaminofen angeschafft. Wegen Romantik. Und ursprünglich. Einklang mit der Natur. Natürlich einer mit Glasscheibe, ganz offene dürfen ja längst nicht mehr verbaut werden. Es existieren übrigens durchaus Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Holzverfeuern und höheren Raten von Demenz und Brustkrebs zumindest nahelegen. Ich bin, wie gesagt, da kein Experte und würde mir daher eher die Finger abhacken als hier irgendwas von ‚wissenschaftlich erwiesen‘ zu faseln, aber viel weniger an den Haaren herbeigezogen scheinen mir Superargumente gegen die einmal jährliche Knallerei auch nicht zu sein.
Wir können gern übers Knallen zu Silvester reden. Dann aber genauso auch über unverzichtbare Dieselmotoren und kuschelige Kamine. Wer dazu nicht bereit ist, halte die Klappe und tue sich was in die Ohren. Oder gehe Silvester nicht aus dem Haus. Oder übernachte woanders. Oder rufe ein Taxi. Heilige sind wir alle nicht.
6 Kommentare :
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Kommentare zum Post
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Mit dem Knallkram wird viel zu viel Geld verdient und ein Verbot ließe sich -zumindest in Berlin- ohnehin nicht durchsetzen. Aus.
AntwortenLöschenGibt andersherum auch Sachen, die sind verboten und gehören legalisiert...
AntwortenLöschenhttps://www.youtube.com/watch?v=GCwoOHlQLlA
Komisch, obwohl das auch irgendwie mit Knallen zu tun hat...
LöschenFür mich ist die Silvesternacht die einzige Gelegenheit, die mir immer weder gern als fehlende Tugend unterstellte Toleranz zu zeigen. Danach bin ich dann gern wieder dogmatisch. (Ironie aus.) In meinen Augen sind derartige Veranstaltungen genau so wie Osterfeuer und das kalendarische Humordiktat namens Karneval einfach überflüssig.
AntwortenLöschenWer in einem Verbot der Böllerei seine Handlungs- bzw. Entscheidungsfreiheit bedroht sieht, ist eigentlich angesichts seiner vermutlich erlebnisarmen Welt nur zu bedauern.
Laut SPON gab es jetzt schon erste Verletzte und schwerverletzte Böllerfans.
REWE macht für den Feuerwerksverkauf sogar teure Fernsehwerbung. Kann mich nicht erinnern, das früher schon mal gesehen zu haben. Na ja, die 150 Mio Umsatz in .de müssen ja irgendwo herkommen. Früher gab es Plakate "Brot statt Böller". Leider wollten die Brote nicht explodieren. Für leidenschaftliche Pyromanen ein Flop.
Vor wenigen Tagen las ich die Meldung, dass in Deutschland 27 Mio Weihnachtsbäume gekauft wurde, davon nur 10 % zum Wiedereinpflanzen. Das entspricht 511 mal der Fläche des Hambacher Forstet.
AntwortenLöschenAlles verbieten, sonst geht die Welt unter. Das Thema Avocados lass ich mal lieber aus.
Schön, "breitärschige Selbstgerechtigkeit"! Aber in einem muss ich widersprechen: gesunde Ernährung muss nicht teurer sein als beschissene bzw. ist eigentlich wesentlich billiger.
AntwortenLöschenBestimmte Gemüsesorten gibt es frisch oder gefroren fast immer günstig, selbst Vollkornkram ist in jedem Supermarkt billig zu kriegen, inzwischen.
Wenn ich mir einen Topf Kartoffeln koche und dazu Kräuterquark mache, kostet mich das halb so viel wie eine TK-Pizza.
Zugegeben: ein Kilosack Fritten für den Backofen kostet noch weniger ...
Trotzdem: das Argument kaufe ich keinem ab.
Wohl schon eher, wenn einer aufgewachsen ist, ohne zu lernen selbst die einfachsten Dinge zu kochen. Ob das aber wirklich Schichtspezifisch ist? Ich kenne sehr wohl Bildungsbürgerkinder, die keinen Topf Spaghetti ohne Fertigpackung kochen können.