Freitag, 22. Mai 2020

Hungernde Kinder


Leider ist ein wenig untergegangen, dass der zu recht heftig kritisierte Tübinger OB Palmer in einem SAT 1-Interview nicht nur meinte, man solle sich überlegen, ob es sich wirklich lohne, Menschen zu behandeln, die ein halbes Jahr später sowieso tot seien. Palmer verwies weiters darauf, dass die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft nach Einschätzung der Vereinten Nationen allein dieses Jahr zusätzlich eine Million Kinder das Leben kosteten. Woher er diese Zahl genau nahm bzw. wie sie zustande gekommen ist, ließ er offen. Ist aber nicht wichtig, denn wer die Karte mit den hungernden Kindern ins Spiel bringt, hat den Moral high ground inne.

Ein klassischer deutscher Topos. Man kennt das. Am besten eigneten sich da immer hungernde Kinder in Afrika. Seit den Sechzigern, als Hilfsorganisationen begannen, anlässlich der verheerenden Hungersnot in Biafra ihre Spendenkampagnen mit Bildern ausgemergelter afrikanischer Kinder zu illustrieren und so Herzen und Portemonnaies zahlloser Wirtschaftswunderlinge öffneten, darunter nicht wenige NS-Kriegsverbrecher a.D. Mochten sie ansonsten prügelnde Haustyrannen sein, bei hungernden Kindern in Afrika, da hörte sich alles auf.

Wollte man als Kind irgendwas nicht essen bzw. aufessen, sei es, weil man keinen Hunger hatte, oder etwas schlicht nicht mochte, fiel an vielen bundesdeutschen Esstischen ungefähr folgender Satz:

Die hungernden Kinder in Afrika würden sich freuen, wenn sie das hätten.

(Ich bekam das übrigens von meiner seligen Oma zu hören, wenn ich ihre furchtbare Erbsensuppe nicht runterbekam.) Da schwingt vieles mit, schlechtes Gewissen vor allem, aber auch der Vorwurf der Undankbarkeit. Perfid natürlich, Kindern damit ganz nebenbei auch beizubringen, Dankbarkeit ließe sich ermessen an dem Ausmaß, in dem man bereit ist, Dinge zu tun, die einem widerstreben. Verbiesterung und schmallippige Genussfeindlichkeit kann man schließlich nicht früh genug trainieren. Kann es da wundern, wenn diese Kinder, groß geworden, den Aufruf "Brot für die Welt" später konterten mit: "Aber die Wurst bleibt hier!"?

Natürlich sollte man auf dem sehr realen Leiden von Kindern nicht mit schalen Witzen herumtrampeln, nur ging es dabei verlogenerweise ja nie wirklich um das Wohl afrikanischer Kinder. Das wäre auch unlogisch gewesen, denn kein einziges hungerndes Kind in Afrika hätte auch nur einen Bissen mehr zu essen gehabt, bloß weil ein renitentes westdeutsches Wohlstandskind brav seinen Iglorahmspinat mit dem Blubb runterwürgte. Das mit dem Hunger hätte sich am ehesten bewerkstelligen lassen (und täte es noch heute), indem man das herrschende, auf Ausbeutung beruhende System abgeschafft hätte. Dann aber wäre man ein Kommunist gewesen, enterbt worden und hätte gleich nach drüben gehen sollen, anstatt die Füße unter Vaterns Tisch zu stellen.

Komisch eigentlich, fragt sich da, wieso werden heutige Kinder nicht mehr zum Spargelessen genötigt mit dem Hinweis darauf, dass die rumänischen Erntehelfer sich freuen würden über derartiges Luxusessen? Oder zum Billigschnitzelfressen mit dem auf die von Sub-Sub-Sub-Unternehmern ausgebeuteten osteuropäischen Fleischfabrikarbeiter? Vermutlich, weil sich das mit den hungernden Kindern in Afrika inzwischen schon ein wenig abgenutzt hat. Inzwischen bekommt man eher Sprüche zu hören wie: Armut in Deutschland? Ich bitte Sie! Schauen Sie mal nach Bangladesh, dann wissen Sie, was Armut ist.





4 Kommentare :

  1. Haben wir in milderer Form ja auch täglich hier zuhause: die 'Maßnahmen' würden ja in erster Linie die Armen treffen, die doch ohnehin schon nicht wie sie denn den Monat. Aber wo die alle herkommen, und warum es sie doch wohl so zahlreich gibt - kein Gedanke.

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  2. Hier wird gelassen ausgesprochen, was in den westlichen, bürgerlichen Wohlstandsgesellschaften bisher gut geübte Tradition ist: Der Verweis auf Gesellschaften und Verhältnisse in denen alles noch wesentlich schlechter ist als in den eigenen.

    Noch in der Ost-West-Konfrontation aufgewachsen, war ein beliebter Spruch: Dann geh doch nach drüben! Wer wollte von uns Jugendlichen denn schon in den miefigen Arbeiter-und Bauernstaat, wo doch gerade die Rock&Roll-Pest aus den USA herüberflutete.
    Ein paar Jahre später, als die Beatles mit ihrer Musik und ihren langen Haaren an Einfluss gewannen, da wurde ich zweimal hintereinander zum Friseur geschickt für einen anständigen deutschen Kurzhaarschnitt.
    Und wie ist das heute? Da gibt es wieder Empfehlungen doch nach Nordkorea auszuwandern, wenn man den allgemeinen Konsens nicht teilen mag.
    Oft ist es so, dass ich gar nicht mehr folgen kann, wieviele Anglizismen in den Blogs verwendet werden und das, obwohl gegen die Herkunftsländer oft eine tiefe Abneigung besteht.

    Jedenfalls hat mir noch niemand geraten doch nach GB oder in die USA auszuwandern.


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  3. Ich finde Palmer als zu Unrecht gescholten, er provoziert gerne, will auch Widerspruch. Und es scheint mir nicht so, als würden die alten Menschen wirklich wertschätzend behandelt: schlecht bezahlte Hilfen, keine Grundrente, oft ein Leben außerhalb der Gesellschaft.
    Es gibt auch eine Agentur für die Vorsorge bei Pandemien: https://europa.eu/european-union/about-eu/agencies/ecdc_de
    Die haben es wohl geschafft, weitgehend im Verborgenen zu arbeiten.

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  4. 1. Zum Nordkorea-Satire-Text:
    https://www.der-postillon.com/2020/05/corona-diktatur.html

    2. Das Thema will ich mal in eine andere Dimension heben, ohne Deutschland zu verlassen. 18 Mio. Tonnen Lebensmittel werden jährlich im Normalbetrieb der Produktion vernichtet, das meiste davon noch, bevor es auf den Markt kommt (z. B. wegen fehlender EU-Norm). Ob das Kind und den Teller brav leer isst, oder nicht, die deutsche Leitkultur des Überflusses und der Verschwendung hat dann bereits ihr vernichtendes Werk vollbracht.

    Ursache des Welthungers ist die globale Triage, ideologisch unterstützt von den Apologeten der angeblichen Bevölkerungsexplosion: Industrieländer, Schwellenländer, wehrlose Armutsregionen.

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