Donnerstag, 23. Dezember 2021

Schmähkritik des Tages (54)


Heute: Joachim Schulz über die "fiesen Balladen" von Phil Collins

"Das ist klanggewordene Folter, der Soundtrack eines Jahrzehnts, in dem die Hoffnungen der Achtundsechziger gestorben sind und Kohl, Thatcher, Reagan der Menschheit den Neoliberalismus brachten! Musik für Mädchen mit Dauerwelle und Jungs in Sakkos mit Schulterpolstern, die heute in Reihenhäusern leben und feuchte Augen kriegen, wenn der Gute-Laune-Sender, den sie immer hören, 'We don’t need another hero' spielt, weil sie das an einen warmen Abend im August 85 erinnert, an dem sie mit ihrer Clique ins Freibad von Groß Deppenstedt eingestiegen sind und unerhörterweise nackt gebadet haben!" (taz, 7.12.2021)

Anmerkung: Wer Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger jung war, kennt dieses Gefühl: Irgendwo dudelt ein Radio vor sich hin. Oder, ganz crazy und modern, ein Fernseher mit MTV. Plötzlich: Sterile Synthi-Soße, digitale Drums wie bei den 'Flippers'. Und dann diese Stimme. Diese Stimme! Sponsored by Pfanni, hebt sie gequetschten Timbres an, Sozialkitsch zu knödeln:

"She calls out to the man on the street / »Sir, can you help me? / It's cold and I've nowhere to sleep / Is there somewhere you can tell me?«..."

Schlimmstenfalls morgens in der Küche oder im Bad. Auf nüchternem Magen.

Auf der Stelle war da nur noch dieser eine Gedanke: RAAAHHH!!! Wenn ich noch EIN EINZIGES MAL 'Another Day in Paradise' hören muss, dann... dann... passieren hier furchtbare Dinge. Grausame Dinge. Pumpgun. Rambo. Terminator. Und natürlich kam die Nummer noch einmal. Eine halbe Stunde später ungefähr. Spätestens. Weil ein taubes oder von Geschmack freies Subjekt beim Sender angerufen und sich die Ohrenfolter gewünscht hatte. 

Formatradio halt. Phil Collins, 'Simply The Best' von Tina Turner, die öde Spießer-Selbstfeierhymne schlechthin. Dazwischen Werbung. Und wieder von vorn. Gnadenlos. Wenn man Pech hatte, noch 'Mama' von Genesis. Wegen Kultur. Dann zur Abwechslung mal was von Phil Collins. Vielleicht was Fetzigeres wie 'You Can‘t Hurry Love'. Überdrehte Koksermucke von Whitney Houston. Wie viele Feingeistige sind darob schnöde dem Suff verfallen damals? Wer zählt die Kofferradios, die ihre irdische Existenz beendeten wegen der aus ihnen gesendeten Musik? Aus dem achten Stock gefallen, zerhackt, zerhämmert, in der Badewanne versenkt, mit der Pumpgun erledigt und was weiß ich.

Vielleicht waren es auch nicht die Songs selbst, sondern die schiere Dichte, in der sie genudelt wurden. Keine Ahnung.

Ausschalten? Abschalten? Umschalten? Netter Versuch! Nein, irgendeiner fand das immer toll und dullte das irgendwo. Es gab quasi kein Entkommen. Freund T. hatte richtig ins Klo gegriffen. War an eine Frau geraten, die am liebsten Phil Collins hörte, Kuschelrock-Platten sammelte, von 'Cats' in Hamburg und zwei Wochen Malle träumte. Dramen spielten sich da ab. Dra-men!

(Die Beziehung hielt übrigens nicht lang. War besser für alle.)

Nun kann man Phil Collins nur schwer einen Vorwurf machen. Solider Musiker, soll auch ein unprätentiöser Kerl sein. Dass er bei Genesis nach dem Weggang des genialen Peter Gabriel den Laden übernommen und gnadenlos auf kommerziellen Erfolg getrimmt hat, mag man als künstlerischen Verrat sehen, ist aber nichts Verbotenes. Ebenso wenig verboten wie solo mega-erfolgreich zu sein (der Mann hatte immerhin die eine oder andere teure Scheidung zu finanzieren). Weil man offenbar irgendeinen fiesen Zeitgeist ziemlich genau getroffen hatte.

"Do you like Phil Collins? I've been a big Genesis fan ever since the release of their 1980 album, Duke. Before that, I really didn't understand any of their work. Too artsy, too intellectual. It was on Duke where Phil Collins' presence became more apparent. I think Invisible Touch was the group's undisputed masterpiece." (Patrick Bateman in 'American Psycho')

Er machte die Radioprogramme und später die bei MTV schließlich nicht. Sein Publikum sucht man sich auch nicht unbedingt aus. Es war halt nur von allem ein Tick zu viel bei ihm. Wo andere sich ein paar solide Studiomusiker engagierten, waren es bei ihm auf dem Album '... But Seriously' u.a.: Eric Clapton, Steve Winwood, Pino Palladino, Nathan East, David Crosby. Auch das ist selbstverständlich nicht verboten. Im Gegenteil, eine solche Truppe mit teils gewaltigen künstlerischen Egos, alles keine Leute, die dringend jeden Dollar brauchten, zu gewinnen und zusammen zu halten, ist sicher keine Kleinigkeit. Hat aber eben auch was von "Seht mal, was ich mir alles leisten kann!" -- eine Besetzung wie eine im Ölscheich-Stil eingerichtete Villa.

Kommerz hin oder her, geht leicht unter, dass Collins musikalisch schon verdammt was kann. Einen Song wie 'I Wish It Would Rain Down' muss man erstmal hinkriegen. Trotzdem, die fiesen Balladen gehen wirklich nicht, auch nach 30 Jahren.





3 Kommentare :

  1. American Psycho von Ellis. Das Buch, was in der deutschen Übersetzung übrigens deutlich gewinnt, war 1992 auf dem deutschen Markt zu haben und die ersten 100 Seiten gaben schön Aufschluss über Lifestyle und Mode und wie die für den Konformismus genutzt werden können. Ergänzend daher immer die Kommentare von Bateman bzgl. Mode, Musik und Trendideen. Alles sehr übertragbar auf Deutschland. Wenn man sich halbwegs an der beschriebenen Mode orientiert hat, konnte man damals in der Werkshalle eines beliebigen Unternehmens fast jeden Gag bringen. Alle haben Dich zunächst für ein wichtiges Mitglied der Chefetage gehalten.

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  2. „Wir löschen jetzt erst mal den Phil-Collins-Mist, und dann behandeln wir die arme Seele mit einer doppelten Dosis Zappa. Vielleicht können wir unseren Freund noch retten.“

    So endet dieser Waffelbruch von Text. Frank Zappa: Civilization Phaze III, Yellow Shark oder wenigstens Jazz from Hell wird es wohl kaum gewesen sein. Ob es für 200 Motels gereicht hat, ist auch mehr als fraglich. Wohl eher der »gute, alte Zappa« aus einer Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Floh und Eddy. Captain Beefhart. Bobby Brown. Verständnisvolles gegenseitiges Zunicken und irgend etwas mit 4 Takten. Chester Thomson hat zwar auch bei Zappa gespielt, aber das zählt vermutlich nicht.

    Das Verständnis von Weiterentwicklung in der Popmusik ist ja eher ein unterentwickeltes. Alles, was nicht so klingt wie die letzte Platte, gibt ja erst mal zu Bedenken Anlass. Wird er/sie /es nun kommerziell oder hebt in Kunstsphären ab? Bestenfalls noch als »kurzzeitiger Ausflug« geduldet und mit Mißtrauen verfolgt - Musiker haben (gewohntes) zu liefern und was genau, bestimmt das Publikum. Und das ist eben fürchterlich.

    »Wenn ich noch EIN EINZIGES MAL 'Another Day in Paradise' hören muss, dann... dann...«

    Ja, Ihr da! Ihr hättest es verhindern können! Aber es war eben nicht eine militante Minderheit, die Collins oder Turner wünschte und hörte, sondern die überwiegende Mehrheit. Daher der Name Popmusik. Von populus; Gemeinde, Bürgerschaft, Volk. Hätte die sich entschlossen, der progressiven Abteilung des Rock'n'Roll treu zu bleiben (was niemals im Gespräch war), wäre »Simply the Best« niemals mehr als eine Randnotiz gewesen und Tina Turner wäre durch die Spelunken getourt.
    Und komme mir niemand mit »zu kompliziert, zu intellektuell«. Musik aus dem arabischen Raum oder die Indische ist bei weitem komplizierter und hält sich trotzdem schon ein paar Jahrhunderte. Auch der westliche Jazz ist alles andere als eine Eintagsfliege. Mein Gott – sie wollten es eben nicht! Es sollte schlicht und leicht verständlich sein. Und so ist es eben geworden! Sehr schlicht!

    Die Hits der Sechziger, Siebziger und Achtziger… Musik aus einer Zeit, als Sie sich noch für Musik interessiert haben! Das Altherren-Genöle, wie verkommen doch die Welt geworden ist, seit nicht mehr Sympathie for the Devil rauf- und runtergenudelt wird.

    »„Bist du irre?! Die Sachen sind schrecklich! Die Einzigen, die in den Achtzigern gute Musik gemacht haben, waren die Talking Heads!“«

    »Wie viele Feingeistige sind darob schnöde dem Suff verfallen damals?« Oder haben Heinz-Rudolf Kunze gekauft, Pat Benatar oder Lessons in Love von Level42? Dann doch lieber saufen. Die Leute hörten eben auf, Musik zu hören, also wurde es ihnen mit Bratpfannen links und rechts in die Ohren gedroschen. Man war gerade so schön am Geldverdienen und wollte davon nicht ablassen. Daß nebenbei noch Perlen wie die von Phil Collins, ZZ-Top oder Prince herauskamen, ist das eigentliche Wunder.

    Jetzt wird in der TAZ über Phil Collins schwadroniert. Tiefer kann die Rockmusic nicht sinken.

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  3. Eure Generation jammert da auf hohem Niveau. Silbermond und Mark Forster haben nicht mal progressive Wurzeln. Die haben die neoliberale Verwertungsmaschinerie schon mit der veganen Sojamuttermilch aufgesogen!
    Popmusik war schon immer Mist, keine Frage. Aber die heutige Generation schämt sich nicht einmal dafür, dass sie gecastete Medienopfer aus der Adult-Contemporary-Retortenfabrik sind. Tina Turner konnte wenigstens noch ohne Autotune singen, ohne dass man sich windet als hätte man ein Stück Alufolie auf die Zahnfüllung gedrückt.
    Vielleicht war Rock schon damals tot. Sagt Opa immer, wenn er vom Popper-Punkkrieg erzählt. Die Zombies sind vielleicht nur gut parfümiert, dass man den Muff aus der Trivialschundhölle nicht mehr riecht...

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