Vercoacht
Der 2:1-Sieg (2:0) Italiens war
verdient und ging völlig in Ordnung. Auf deutscher Seite hätte man
sich auch über eine 0:3- oder 0:4-Klatsche nicht beschweren dürfen.
Das wiegt umso schwerer, als dass Prandelli taktisch nichts anders
gemacht hat als in den Spielen zuvor und die italienische Mannschaft
daher im Vorfeld eigentlich gut auszurechnen gewesen ist. Sollten
sich beim DFB ein paar Leute mit Ahnung vom Fußball befinden, dann
wird Löw sich für seine taktische Einstellung und seine
Mannschaftsaufstellung zu Recht einige unangenehme Fragen gefallen
lassen müssen. Man bedenke, dass Roy Hodgson mit der spielerisch und taktisch
weitgehend überforderten englischen Elf Italien immerhin eine
Verlängerung abverlangt hat, indem er ganz simpel eine
4-4-2-Formation gegen eine 4-4-2-Formation hat spielen lassen. Wenn Löw unbedingt mit seiner Aufstellung überraschen wollte, warum nicht von
Anfang an mit zwei Spitzen, Reus und Klose, auflaufen? Warum keine
Mittelfeldraute mit Özil und Khedira als Vertikalachse? Wieso musste
unbedingt der sichtlich nicht fitte Schweinsteiger spielen?
Tiefer gehende taktische Reflexionen
mögen Interessierte bei den Kollegen von Zonal Marking,
Spielverlagerung, ballverliebt oder The Hard Tackle nachlesen, die
können das weitaus besser.
Die deutsche Mannschaft hat in den vier
vorangegangenen Spielen jeweils zwei mal zehn Minuten guten Fußball gespielt.
Gegen Griechenland zwei mal fünfzehn, weil der Gegner es zuließ. Portugal
steckte noch in der Vorbereitung, die Niederländer hatten nach
zwanzig Minuten aufgegeben und die Dänen bewegten sich, wie die
Griechen, bei allem Respekt vor ihrer Unverzagtheit und Kondition, an
der Grenze zur Zweitklassigkeit. Gegen Italien wären mindestens
siebzig, achtzig Minuten sehr guter Fußball nötig gewesen. Man
zeigte aber auch hier nur zwanzig Minuten einigermaßen guten Fußball und das
reichte nicht gegen einen echten Gegner.
Gefährlicher Tiki-Taka-Mythos
Dass Spanien das große Vorbild für
Joachim Löw war, ist verständlich. Seine Idee vom Fußball ist ein
fast körperloses, auf akribischer Planung basierendes Rasenschach,
bei dem jeder Gegner mit rasantem Kurzpassspiel und No-Look-Pässen
schwindlig gespielt wird und Schönheit durch Perfektion entsteht. In seiner Zeit als Trainer des VfB
Stuttgart hat er mit seinem magischen Mittelfelddreieck, bestehend
aus Fredi Bobic, Chassimir Balakov und Giovane Elber, eine Zeit lang
so etwas zuwege gebracht. Die spektakulären Testspielerfolge gegen
die Niederlande und Brasilien haben ihn vermutlich glauben lassen,
auf dem richtigen Weg zu sein.
Wer nun mit einem Nationalteam, das nur
wenige Wochen im Jahr Gelegenheit hat, miteinander zu trainieren,
versucht, Spaniens Spielweise zu kopieren, darf eines nicht
vergessen: Bei den Spaniern hat das in den letzten Jahren nur
funktioniert, weil bei dort fast das komplette Mittelfeld des FC
Barcelona auf dem Platz stand, das seit Jugendtagen aufeinander
eingespielt und über viele Jahre zusammengewachsen ist. Kann es
sein, dass Löw so auf Spanien fixiert war und deren Spielweise, dass
er einen Gegner wie Italien nicht so ernst nahm, wie es nötig
gewesen wäre?
Sowieso wird das von einfallslosen
Reportern gern verbreitete Bild von den virtuosen
Tiki-Taka-Ballschiebern dem spanischen Team der letzten Jahre
keineswegs gerecht. Die spanische Mannschaft verdankte ihren
Finaleinzug 2010 letztlich dem rustikalen Abräumer Charles Puyol:
Als alle exquisite Spielkultur nicht mehr weiter half, schob der nach
einer Ecke die deutschen Innenverteidiger beiseite und semmelte die
Pille so kunstlos wie simpel mit einem wuchtigen Kopfball einfach
hinein und fertig.
Das Elend der 'Goldenen Generationen'
Eine einzigartige Ansammlung
großartiger Talente und Ausnahmekönner beisammen zu haben, ist
keine Garantie für Erfolge. Die Beispiele im Fußball sind
zahlreich: Wunderteams wie das brasillanische von 1982 und 1986 um Zico, Falcao
und Sócrates oder das portugiesische der 1990er um Luis
Figo, Rui Costa und Joao Pinto sind von Experten vor Turnieren immer
als Topfavoriten gehandelt worden und immer sind sie gescheitert. Wenn
man beim DFB nicht in sich geht und weiter einfach darauf beharrt,
noch nie so einen hervorragenden Kader gehabt und auch sonst alles
richtig gemacht zu haben, dann wird auch diese unzweifelhaft
talentierte Truppe weiter nur eine talentierte Truppe bleiben und
weiter kurz vor dem Ziel scheitern.
Sicher hat man während der letzten
zehn Jahre einiges richtig gemacht beim DFB, vor allem in den
Bereichen Jugendförderung und Integration. Allerdings scheint sich
im Umfeld der Nationalmannschaft in den letzten Jahren auch eine
fatale Alles-super-Stimmung breitgemacht zu haben, in der Kritik von
außen weitgehend verpönt, wenn nicht gar verboten ist. Keinem wird
mehr weh getan, keiner mag mehr anecken. Hey, wir haben so tolle
Leute und trainieren so fleißig, außerdem sind wir diesmal einfach
an der Reihe mit der Europameisterschaft und der Jogi wird’s schon
richten, war der Tenor der Medien. Scherte mal einer aus wie Mehmet
Scholl, der es wagte, Mario Gómez zu kritisieren, dann wurde ihm im
Brustton der Empörung eine öffentliche Entschuldigung abverlangt.
Ein selbstbewusstes Team hätte das schulterzuckend an sich abprallen
lassen und nicht groß darüber diskutiert.
Wo sind die Verrückten?
Der alte Knarzkopp Ede Geyer hat kurz
vor der EM gesagt, ihn beunruhige an der deutschen Mannschaft am meisten, dass
die alle viel zu brav seien. Er vermisse die Narren, die Querköpfe
und Exzentriker. Ohne echte Typen überstünde das beste Team kein
Turnier. Wer Geyer immer nur für eine autoritäre
Ganzkörperverspannung auf zwei Beinen gehalten hat, den mag das
überrascht haben, doch der Turnierverlauf scheint dem alten Fuchs
recht zu geben: Nach außen macht die deutsche Nationalmannschaft
seit 2006 den Eindruck einer Ansammlung super angepasster,
hoch motivierter, ehrgeiziger Trainierer, die sich an alle Fitness- und Ernährungspläne
halten und immer ein professionelles Statement auf den Lippen haben.
Medienvertreter und andere Fans von fotogenen Schwiegersöhnen und
spurenden Parierern mögen so was natürlich gern.
Einen Titel gewinnt man aber nicht, wenn nicht auch der eine oder andere Kerl mit Ecken und Kanten dabei ist. Denn wenn ein ausgefuchster taktischer Plan nicht aufgeht, dann muss improvisiert werden, ist Rückgrat gefragt. Dann braucht es diesen Schuss Wahnsinn und Anarchie, der große Mannschaften immer erst groß gemacht hat und der von jeher den Reiz des Fußballs ausmacht. Wer kann so was im System Löw? Philipp Lahm? Also bitte! Sicher ist Lahm ein netter Mensch und technisch ein hervorragender Fußballer, aber fällt es jemandem auf, dass er Mannschaftskapitän ist?
Einen Titel gewinnt man aber nicht, wenn nicht auch der eine oder andere Kerl mit Ecken und Kanten dabei ist. Denn wenn ein ausgefuchster taktischer Plan nicht aufgeht, dann muss improvisiert werden, ist Rückgrat gefragt. Dann braucht es diesen Schuss Wahnsinn und Anarchie, der große Mannschaften immer erst groß gemacht hat und der von jeher den Reiz des Fußballs ausmacht. Wer kann so was im System Löw? Philipp Lahm? Also bitte! Sicher ist Lahm ein netter Mensch und technisch ein hervorragender Fußballer, aber fällt es jemandem auf, dass er Mannschaftskapitän ist?
Es mag Zufall sein, ist aber
bezeichnend, dass beim letzten Titelgewinn einer deutschen Mannschaft
1996 Mario Basler dabei war. Dieser leicht durchgeknallte
Individualist, alles andere als Everybody's Darling, schwänzte
gern einmal eine Trainingseinheit für ein paar Biere, qualmte wie ein Raddampfer, gab dabei einen
Dreck auf Rauchverbote und legte sich deswegen andauernd mit Trainern und
Betreuern an. Aber wenn er einen guten Tag hatte, dann gaben seine
kreativen Impulse dem Spiel der Mannschaft jenen Tick an
Unberechenbarkeit, die sie für Gegner schwer ausrechenbar machte.
Michael Ballack kann man sympathisch finden oder nicht, doch konnte
er, wenn es kritisch wurde, ein echter Drecksack werden. Faltete,
wenn es sein musste, Schiedsrichter und Mitspieler zusammen und
beendete den Höhenflug eines Gegners auch schon mal durch ein
wohlgezieltes Foul. Nicht schön, so was, aber mit Nettigkeit allein
kommt man nicht immer weiter. Es wäre interessant gewesen zu sehen,
was ein Ballack, ein Kahn oder meinetwegen auch ein Thorsten Frings
beim Stande von 0:1 gemacht hätten.
Ist es vorstellbar, dass Löw und sein
Trainerstab einen Mario Balotelli im Team dulden, würden, einen
Zinedine Zidane, wenn sie ihn denn hätten? Hielten sie einen George
Best aus, einen Günter Netzer oder Paul Breitner? Kaum. Daher kommt
das DFB-Team 2012 daher wie eine Bologna-Uni oder eine von McKinsey
auf Linie getrimmte Firma: Strebsam, ehrgeizig, top motiviert, aber
leider auch entsetzlich hilflos, wenn's mal nicht so läuft (dafür sitzen die
Frisuren). Noch einmal: Wenn sich daran nichts ändert, dann
wird es auch 2014, allem Expertenlob zum Trotze, nix mit einem Titel und man bleibt Trainingsweltmeister der Herzen.
Und das Positive?
Die Niederlage ist Wasser auf die
Mühlen derer, denen die BILD-gehypten Deutschland-Fans, Partymacher
und SIEG!-Brüller, die nur wegen des Gewinnens und Lärmmachens
Fußball schauen gehen und ansonsten wenig Ahnung haben, gewaltig auf
den Sack gehen. Etwas über das Fressehalten und die Kunst des
würdigen Verlierens zu lernen, kann solchen Zeitgenossen nur gut
tun. Auch dass ausgerechnet Balotelli mit seinen beiden Toren diesem
speziellen Pack weitgehend das Maul gestopft haben dürfte, stimmt am
Ende versöhnlich. Ach ja, dass der Finalausgang am Sonntag entweder mit einem Chianti oder einem Rioja und nicht mit Eifelbrause stilecht zu begießen ist, gehört nicht zu den ganz schlimmen Dingen im Leben.
Geschmeidige Analyse, und besonders der letzte Absatz geht runter wie Öl - dafür ein Dankeschön!
AntwortenLöschenNur ein kleiner Einwand: Puyol ist nun kein "baumlanger" Kerl. Er misst 1,78m. Eher gedrungen also. Einer der ganz großen Fußballer des Planeten ist er aber unbestreitbar.
Frdl. Grüße,
Ihr Horst Penunser
Ups, danke für die Information. Das kommt davon, wenn man nicht ordentlich recherchiert. Mir kam er in der Situation jedenfalls baumlang vor... ;-)
LöschenSehr, sehr guter Text, Bruder im Geiste.
AntwortenLöschenÄhnliche Gedanken dazu, sind hier zu lesen:
http://aufzeichnungen-eines-gutmenschen.blogspot.de/2012/06/schon-dass-wir-verloren-haben.html
Grüße
Duderich
Oh, geht doch. Der Artikel ist das Lesenswerteste, was mir in letzter Zeit zur Fuppes EM untergekommen ist.Wohltuend unaufgeregt.Bedankt.
AntwortenLöschenEndlich ist der Party-Patriotismus vorbei. Wie die Lemminge machen sie alle mit - ein deutlicheres Zeichen für ein massenhaftes Mitmachen und Nichtdenken gibt es dieser Tage kaum.
AntwortenLöschenAls ich letztens mit einem Freund darüber diskutierte, dass die Moral einer Nationalmannschaft in der Regel völlig unterschätzt wird, zeigte Spanien wieder einmal, wie wichtig diese doch ist. Sie spielen gelassen, entspannt und ohne große Aufregung. Die Deutschen spielen völlig nervös, von 10 Torschüssen, treffen sie höchtens einen. Auch wenn sie sich in Interviews gelassen und cool geben, sie sind es auf dem Spielfeld ganz und gar nicht.
Als die Spanier 4:0 gewonnen hatten, haben einige Spieler zuerst an ihre Kinder gedacht und sind zu ihnen gerannt. Die Familie gibt ihnen Kraft, Ruhe und Selbstbewußtsein. Und unsere deutschen? Die lichten sich mit Models ab.
Die Moral, der Teamgeist, der Spirit - sind mindestens genauso wichtig, wenn nicht gar wichtiger, wie Taktik, Technik und Einzelleistungen.