Mittwoch, 3. Oktober 2012

Grenzerfahrungen in der Konsumgesellschaft


Als einigermaßen erfahrener, geradezu abgestumpfter Angehöriger der Konsumgesellschaft meint man ja leicht, nur noch schwer zu schocken zu sein. Manchmal aber, da kommt man auch mit einigen Jahren auf dem Buckel in Situationen, die einen in ein vertracktes Dilemma bringen oder einem gar echte Grenzerfahrungen bereiten können.

Irgendwann im Herbst letzten Jahres kam mir ein Artikel in die Quere über ein bis dahin so gut wie unbekanntes Duo zweier junger Frauen. Die machten, so hieß es, unter dem Namen Boy handgemachte, wundervoll zwischen Melancholie und Beschwingtheit aufgehängte Popmusik. Normalerweise ist Gute-Laune-Mädchenpop nicht wirklich mein Fall, aber ich war neugierig geworden. Ein Klick auf das Video zur Single Little Numbers ließ die Sonne aufgehen: Dreieinhalb Minuten ansteckende Ausgelassenheit und Sorglosigkeit. Nicht eine Sekunde der puren Lebensfreude, die Valeska Steiner und Sonja Glass, durch das sonnige Barcelona tollend, da verbreiteten, wirkte aufgesetzt, bemüht oder künstlich. Kitsch? Meinetwegen! Text banal? Drauf geschissen! Das hatte Charme, brachte Erinnerungen zum Klingen an längst vergangene Sommer, in denen die Welt einem offen zu stehen schien und nur der Moment zählte. Ausnahmsweise schien es einmal angebracht, das oft so schnöde verheizte Attribut reizend.

Bei der Lufthansa ging es einigen maßgeblichen Leuten wohl ähnlich. Man fand die Nummer offenbar so gut, dass man beschloss, die aktuellen Werbespots mit ihr zu unterlegen. Und damit begann das Elend. Es ist mir wirklich mehr als einmal passiert im Leben, dass mir ein Album oder ein einzelnes Stück Musik mir so gut gefallen hat, dass ich es mehrfach am Tag gehört habe. Manchmal sogar mehrmals hintereinander und das über ein paar Tage hinweg. Aber garantiert nicht über Wochen und Monate. Genau das aber machen die Kraniche seit Monaten mit Little Numbers und demonstrieren damit eindrucksvoll, wie man auch noch die schönste Sache zuverlässig kaputt kriegt, wenn man es übertreibt. Durch monatelange Dauerwiederholung haben sie es geschafft, diesem luftigen kleinen Kunstwerk jeden Zauber auszutreiben. Mission accomplished, vielen Dank auch, Werbefritzen!

Zudem es in dem Fall doppelt schwierig ist: Es wäre alles so viel einfacher, wenn es sich bei den beiden Damen um zwei oberflächliche, aufgedonnerte Kackbratzen handeln würde, die gekünstelte, aufgeblasene, nichtssagende Minusmusik machen würden. Man hakte sie schulterzuckend als typische Kommerzschnepfen ab und gönge seiner Wege. Nein, die sind so ungeschminkt natürlich, wirken so normal, bodenständig und nur so wenig spinös, dass sie auch nebenan in der WG wohnen und Pädagogik studieren könnten. Man hält sie einfach nicht für Geschäftemacherinnen und gönnt ihnen daher auch von Herzen die ordentlichen Einnahmen, die ihnen der Deal mit den Airline hoffentlich beschert. Sind wir am Ende alle mitschuldig, weil wir nicht fleißig genug CDs und MP3-Downloads gekauft haben? Es ist ein Dilemma.

Vor ein paar Tagen dann stiefelte ich im festen Bewusstsein, schwer zu erschüttern zu sein, in den Verbrauchermarkt meines Vertrauens, um ein paar Besorgungen zu tätigen. Kaum hatte ich die Heiligen Hallen des Konsums betreten, da sah ich etwas, nein, ich wurde angesprungen von etwas, das so schrecklich war, so entsetzlich, dass schon der bloße Gedanke daran noch heute, Tage später, bei mir Schlaflosigkeit und nässenden Ausschlag hervorruft. Es handelte sich um den werbewirksam platzierten Aufsteller einer neuen Pralinenmarke.

[Dass hier kein Bild eingestellt ist, erfolgt zur Sicherheit aller. Bitte diesen Link nur anklicken, wenn sie über 18 sind, keine Magen- und/oder Darmbeschwerden haben, ausgeschlafen, nicht allzu gut gelaunt, weder verkatert noch schwanger sind und vor allem keine Diabetes haben!]

Nun muss einmal dringend eine Lanze gebrochen werden für das Verschenken von Pralinen. Zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist nämlich in diesen kalorienbesessenen Zeiten der schöne alte Brauch, einer Verehrten statt Blumen ein wenig erlesenes, liebevoll ausgewähltes Konfekt mitzubringseln. Jetzt gehöre ich weiß Gott nicht zur übermäßig homophoben Fraktion im Lande, aber was bitteschön soll eine Frau über einen Verehrer denken, der ihr bei einem Date, wie die jungen Leute das heute ja nennen, allen Ernstes so was überreicht? Der Dame bleibt doch gar nichts anderes übrig, als sich über den Typen so ihre Gedanken zu machen: Soll das ein Witz sein? Will der mich verarschen, loswerden gar? Wie um alles in der Welt sieht bloß seine Wohnung aus? Ekelt der sich auch sonst vor nichts? Ist er am Ende latent schwul? (Nein, das ist eigentlich kein Problem, könnte sich aber bei einer Hetero-Verabredung eher, sagen wir, als der Sache nicht unbedingt förderlich erweisen.) Oder was sollen die betagten Mitbewohnerinnen im Altenheim denken über einen Enkel, der seiner wehrlosen Oma so was in die Hand drückt? Ach, Frau Kasuppke, wissen Sie, mein Enkel ist auch so. Da ist heute nichts mehr dabei. Das sind alles ganz gepflegte junge Männer und immer sooo nett.

Klar, es ist definitiv nicht meine Baustelle, mir den Kopf zu zerbrechen über die Geschäfte dieses aufdringlichen Putzmachers. Trotzdem drängen sich da doch ein paar Fragen auf: Schränkt so eine Aufmachung nicht die potenzielle Zielgruppe unnötig ein? Warum klebt auf jeder Zigarettenschachtel ein riesiger Warnhinweis, darauf hingegen nicht? Ist so was nicht eigentlich laut Haager Landkriegsordnung verboten? Und wie, bei allem, was heilig ist, kriege ich bloß diese Bilder wieder aus dem Kopf?


7 Kommentare :

  1. Habe den Link trotz Ihrer Warnung angeklickt – na toll, jetzt habe ich Kopfschmerzen. Freilich eine passende Geschenkidee für Leute, die man von Herzen hasst.

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  2. Uh. Hat wieder meine Neugierde gesiegt! Leute, meidet das verlinkte Bild - es erzeugt Augenkaries! :-)

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  3. So viel Leid beim einmaligen Anklicken des Links? Bei mir hatte sich das Bild gleich in den Browser "Top Sites" festgesetzt! Das war vielleicht eine Qual, bis ich es unter Berücksichtigung aller Arbeitsschutzvorschriften von da wieder sicher entfernt hatte...

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  4. Wirklich bestechende Mischung. Bin noch am sortieren :-)))))

    Ungefähr zwischen 4711-Kölnisch-Wasser-Hustenbonbons, Sauerkirschschorle aus dem Bergischen Land, Schwarzwälder Kirsch-Torte und Bollenhut, österreichischer Ballsaalromantik mit Konfetti und Lauchgebäck aus Instanbul, - und einem Hauch 50iger-Jahre Pinup-Style.

    Durchaus ansprechend, für die Damenwelt unter 10, sowie über 80.

    Wat will man denn, - de sieht doch nett ut de Jung.

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  5. So schlecht , daß es fast schon wieder gut ist...

    Das kann der Glööckler eigentlich nicht ganz ernst meinen , zu seinen Gunsten sei ausgegangen von einem gewissen Maß an Selbstironie , wäre ansonsten ziemlich ööde.

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  6. Hach, das freut mich aber, dass die geneigte Leserschaft so was zu schätzen weiß... ;-)
    @Art: Klar ist das wohl kalkulierter Thrash - trotzdem war ich froh, dass mir das Kunstwerk nicht auf nüchternem Magen begegnet ist.

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  7. Bei dem look hätte ich jetzt weniger auf Pralinen, als auf Stierhoden getippt. Wer hat den Torero aus der Arena gelassen ?

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