Montag, 10. August 2015

Wunderland mit Rissen


Immer wenn ein Modellbahnhersteller pleite geht, wie jetzt Fleischmann, gibt mir das einen klitzekleinen Stich ins Herz. Sollte Fleischmann es nicht schaffen, wieder auf die Beine zu kommen und verschwinden, dann ginge da wieder ein Stück Kindheit und ein Stück ihres Zaubers. Natürlich ist mir bewusst, dass Modellbahnhersteller schnöde Unternehmen sind wie alle anderen auch, die Gewinne machen müssen und wollen und eben irgendwann weg vom Fenster sind, wenn das nicht mehr der Fall ist. Trotzdem hat sich bei mir der Rest des Kinderglaubens gehalten, dass Firmen, die die Menschheit mit so etwas schönem bereichern, vielleicht doch etwas Besonderes sind. Ist natürlich Quatsch, aber richtig objektiv bin da bis heute nicht, siehe oben.

Irgendwann Mitte der Siebziger hatten sie mich und meine gleich alte Cousine auf einen dieser gruseligen Verwandtschaftsbesuche mitgeschleppt. In einer besonders trüben Ecke einer trüben Nachbarstadt wohnte, nein, residierte eine Tante meiner Mutter, eine schmallippige, gestrenge Dame, an der auch äußerlich die Jahrzehnte seit dem Kaiserreich komplett vorbeigegangen waren, von damals gut 100 Jahren Sozialdemokratie ganz zu schweigen. Ihre Standardantwort auf soziale Fragen lautete nach einer kurzen, von hörbarem Rühren im Kaffee begleiteten Kunstpause stets: "Es gibt eben Herren und Knechte." Kinder hatten ihrer Meinung nach vor allem still zu sitzen und nur zu reden, wenn sie gefragt wurden. Ihr Blick, wenn dies einmal nicht der Fall war, vermochte einen auf der Stelle in einen Eiszapfen zu verwandeln. Den Rest erledigte ihre neurotische, mannscharfe Schäferhündin, die zu ihren Füßen lag, völlig auf sie fixiert war und einen bei der kleinsten Bewegung zu viel schon drohend anknurrte.

Sie hatte einen Sohn, der damals Mitte vierzig war und noch im Haus wohnte. Was mich rückblickend kaum verwundert. Ich habe ihn, glaube ich, nur ein oder zwei Mal im Leben gesehen, dabei aber kaum ein Wort gewechselt mit ihm. So weit ich weiß, ist er bis ins Grab ein verschlossener, unberührter Junggeselle geblieben. Kann sein, dass er es eher mit Männern hatte, aber davon ist nichts bekannt, nicht einmal entsprechende Gerüchte gab es. Aus den Klauen so einer Mutter schaffen eben nicht alle den Absprung und bleiben auf der Strecke. Selbst wenn er eine Frau gefunden hätte, dann hätte sie stark genug sein müssen, es mit ihr aufzunehmen. Die wachsen nicht auf dem Baum. Gut möglich also, dass seine stattliche Modelleisenbahnanlage auch der Kompensation diente.

Irgendwann an diesem bleiernen, dunklen Herbstnachmittag raunte mein Vater, der das Elend wohl auch nicht mehr aushielt, mir zu, er früge den Sohn mal, ob er uns nicht mal jene Eisenbahn zeigen würde, von der ich bis dahin nur gehört hatte. Nach ein wenig Hin und Her und dem hochheiligen Versprechen, dass wir Kinder um Himmels willen nichts anfassen, konnten wir. Die Anlage nahm fast das gesamte Nebenzimmer ein und ihr Erbauer und Gebieter hatte bald alles in Gang gesetzt, was rollen konnte. Gekonnt dirigierte er das Ballett aus Zügen. Alte Dampfloks und moderne Schnellzüge hielten auf Knopfdruck vor Signalen und fuhren wie von Geisterhand wieder los, verschwanden dann in dunklen Tunneln oder überquerten kühne Brücken. Wahnsinn! Bald fielen mir auch die zahllosen kleinen Details aus Figürchen und Zubehörteilen auf. Es sah alles so echt aus. Kein Zweifel, hier war ein echter Bastler mit viel Zeit und Liebe am Werk gewesen. Ich staunte mit offenem Mund und kam überhaupt nicht auf die Idee, irgendetwas anzufassen.

Dann schaltete er das Licht aus und die Beleuchtung der Anlage ein. Auf einmal leuchteten alle Häuser heimelig von innen, alle Personenwagen waren illuminiert, die Straßen und Bahnsteige von hunderten Laternen erhellt. Alles strahlte mit meinen Augen um die Wette, zum ersten Mal im Leben bekam ich eine Ahnung davon, was Romantik ist. In einem Moment reiner Magie hatte sich ein Wunderland aufgetan. Mir war sofort klar, in so einer Eisenbahn lag das Glück. Auch mein Vater war sprachlos. Ohne es zu merken, lernte ich eine wichtige Lektion: Mag sonst vielleicht schieflaufen was will, vermögen Modelleisenbahnen zwischen Vätern und Söhnen tiefe Komplizenschaft zu stiften.

So kam es dann, dass ich noch im selben Jahr zu Weihnachten eine kleine Startpackung geschenkt bekam. Über keines meiner Weihnachtsgeschenke hatte es weniger Diskussionen gegeben, im Gegenteil. Mein Vater schien nur auf das Signal gewartet zu haben, seinem Sohn endlich eine Eisenbahn schenken zu können. Er war selbst ein Infizierter, weil sein jüngster Bruder Modellbahner war (in den Stunden mit der Eisenbahn taute übrigens auch ihr ansonsten prügelnder Vater auf und wurde umgänglich). Die Krönung unserer gemeinsamen Aufbauarbeit bestand nach ein paar Jahren aus einer ausgewachsenen, fest montierten Tischanlage von zwei Quadratmetern. Als ich wenig später dann das Interesse an Modellbahnen wieder verlor, dafür das an Mädchen, Musik und Heimcomputern entdeckte, gaben wir unsere Eisenbahn an besagten Onkel wieder ab. So schloss sich der Kreis.

Dafür, dass die Hersteller dieser Herrlichkeiten heute weit schlechter dastehen als zu meinen Kindertagen, gibt es natürlich verschiedene Gründe. Natürlich steht eine elektrische Eisenbahn heute nicht mehr ganz oben auf der Wunschliste vieler Kinder, sondern muss sich gegen eine Menge Konkurrenz behaupten. Neben PCs, Spielekonsolen, Tablets und anderem Digitalen gibt es noch viel anderes, immer ausgefeilteres technisches Spielzeug. Die Hersteller wollten vielleicht auch lange nicht wahrhaben, dass die Wirtschaftswunder- und Babyboomerzeiten, in denen die Gewinne automatisch sprudelten, vorbei waren.

Dann wären da Lärm und Platzmangel. So eine auf einer Holzplatte montierte Eisenbahnanlage, auf der mehrere Züge gleichzeitig fahren, ist verdammt laut, der Betrieb in einer Mietwohnung daher nur kurze Zeit am Tag möglich, wenn kein Keller oder ähnliches vorhanden ist. Da wird ein Zugsimulator am PC zur echten Alternative. Selbst Eigenheime bieten heute oft nicht mehr den nötigen Platz. In älteren Häusern befanden sich oft Vorratsräume. Als die nicht mehr gebraucht wurden, brachte man Partykeller, Saunen und eben Eisenbahnen darin unter. Zumindest in Städten sind viele neue Häuser gar nicht erst unterkellert, haben auch keine echten Dachböden mehr und so fehlt's halt an den entscheidenden paar Metern. Allenfalls lassen sich Kinderzimmer umfunktionieren, wenn die Kinder aus dem Haus sind.

Der Kuchen wird also kleiner, doch haben einige Hersteller durchaus reagiert. Sei es, dass sie robuste Spielbahnen für Kinder ins Sortiment genommen haben oder indem sie die Sammlerszene für sich entdeckt haben, der sie hoch detaillierte und entsprechend teure Sondermodelle in limitierter Auflage anbieten. Mit einem Vorurteil allerdings muss dringend aufgeräumt werden: Dass eine Modelleisenbahn per se ein teures, kaum bezahlbares Hobby und damit allein eine Frage des Geldes sei.

Klar, es gibt teure Sammlermodelle, auch für eine reguläre Lok werden leicht ein paar hundert Euro fällig. Andererseits werden täglich unzählige Dachböden und Keller geerbter Häuser ausgemistet und längst nicht jeder Heranwachsende bleibt im Zuge seines Heranwachsens Modellbahner. Daher gibt es einen riesigen Markt für Gebrauchtes. Legt man keinen Wert auf allerneueste Ware und auf höchste Detailtreue, kann man sich per eBay oder auf Börsen für relativ wenig Geld eine ansehnliche Sammlung zusammenkaufen. Neueste Ware ist auch gar nicht nötig. Im Falle des Herstellers Märklin etwa lassen sich mit ein wenig Bastelei auch moderne Digitalloks mit allen Zusatzfunktionen auf Jahrzehnte altem Gleismaterial problemlos betreiben und umgekehrt. Vielleicht ist auch das ein Problem der Modellbahnhersteller: Der Kram ist einfach unglaublich haltbar und muss nicht alle paar Jahre neu gekauft werden.

Wie gesagt, für die Insolvenz eines Traditionsherstellers von Modellbahnen kann man neben den genannten sicher noch zahlreiche weitere Ursachen anführen. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass auch andere Platzhirsche im Spielwarenland wie Lego und Playmobil mit Problemen zu kämpfen hatten, inzwischen aber trotz Playstations und Computern gut dastehen. Nicht weniger als perfid ist es daher, und jetzt wird's doch politisch, wenn in der Presse nun allüberall getickert wird, Hauptgrund für die Fleischmann-Insolvenz seien die erdrückenden Lasten aus alten Betriebsrenten. Die 33 restlichen Beschäftigen am Firmensitz seien nicht in der Lage, die 600 Renten zu schultern.

Klar, die gierigen Angestellten mit ihren überzogenen Forderungen mal wieder, wer sonst? Wie hab ich das noch gleich im Ohr, zumindest im Falle Griechenlands? Regeln sind Regeln. Pacta sunt servanda. Schulden müssen gezahlt werden, immer, auch wenn man dabei drauf geht. Oder, wie Herr Seeßlen es so treffend zusammenfasst:

"Werden ordentliche Betriebsrenten gezahlt, dann können sich Pensionisten aus dem Mittelstand auch eine ordentliche H0-Eisenbahn im Hobbykeller leisten. Natürlich dürfen die Hersteller von H0-Eisenbahnen selber aber keine ordentlichen Betriebsrenten zahlen, dummie! So geht Wirtschaft heute."

Ach so, was ist eigentlich mit den ganzen ins Ausland ausgelagerten Produktionskapazitäten? Erwirtschaften die denn so gar nichts? Oder will man sich einfach nur als lästigen Verpflichtungen stehlen? Dann wäre ja wieder ein Stück Kinderglaube dahin. Menno!


P.S.: Meinen Glückwunsch an Thomas Steinschneider zum 'Underdog des Jahres'. Ich ventilierte es bereits anderswo, wiederhole mich aber gern: Ein würdiger Preisträger, für den es mich sehr freut.



2 Kommentare :

  1. Hab beim Lesen leuchtende Augen bekommen. Ich hatte auch einen Eisenbahnonkel, der hatte es allerdings beziehungstechnisch besser getroffen, Kompensation war da rückblickend aber sicher auch im Spiel. Mit mir als Lütten mit der Bahn zu verreisen muß aufreibend gewesen sein, bekam ich den Mund doch nie zu und keinen Fuß vor den anderen. Besonders nicht, wenn wir an großen Bahnhöfen strandeten, wo unter großen Glavitrinen Modellbahnanlagen schnurrten. Naseplattdrück.

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    1. Das mit den leuchtenden Augen freut mich. Zwar bin ich aus Platzgründen schon lange kein Modellbahner mehr (und was in Spur N kpl. neu aufbauen wäre schon arg teuer/aufwändig), aber das alte Feuer ist immer noch da. Ich bin sicher, wenn man mit mir nach Hamburg fährt, kann man mich morgens an diesem Miniaturwunderland abgeben und abends wieder abholen.

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