Samstag, 16. Juli 2016

Frankreich, wieder einmal


Erst Charlie Hebdo und der jüdische Supermarkt, dann der blutige Novembersamstag, jetzt Nizza. Zum dritten Mal binnen eineinhalb Jahren haben sich, heißt es, Islamisten Frankreich als Ziel von Terroranschlägen ausgeguckt. Das Ergebnis ist bekannt, die Vorgehensweise kennt man aus dem Irak und aus Israel. Der Täter raste mit einem gemieteten Lastwagen die Strandpromenade entlang, tötete mindestens 84 und verletzte 202 Menschen teils schwer, so die vorläufige Bilanz der Staatsanwaltschaft. Wenn es denn ein Islamist war. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen psychisch kranken Einzeltäter handelte, dessen Tat vom IS nun zur Strafaktion stilisiert wird für Präsident Hollandes Ankündigung, die Angriffe gegen den IS zu verstärken. Auch sollte man nicht vergessen, dass der IS bzw. Täter, die sich auf den IS berufen, auch anderswo tödliche Anschläge verübt haben, dennoch fragt man sich: Warum immer Frankreich?

Da wäre einmal, dass nirgends sonst so konsequent zwischen Staat und Religion getrennt wird wie dort. Fragen wie die, ob eine Muslima im Staatsdienst bei der Arbeit ein Kopftuch tragen darf, werden gar nicht erst diskutiert, weil die Antwort eh grundsätzlich nein lautet. Als ein Gesetz verabschiedet wurde, das völliges oder teilweises Verschleiern in der Öffentlichkeit untersagt, rief das heftige Reaktionen in der islamischen Welt hervor. Die unrühmliche Geschichte des Umgangs der Grande Nation mit ihren ehemaligen nordafrikanischen Kolonien spielt sicher ebenso eine Rolle wie die über Jahrzehnte ignorierte Ghettoisierung der Banlieues um die Großstädte. Ein weiterer Aspekt kommt hingegen oft zu kurz. Es geht um Frankreichs Ruf und Selbstverständnis als Epizentrum des guten irdischen Lebens.

Wie alle religiösen Fanatiker, sind Islamisten moralische Pfennigfuchser, die sich für so heilig halten, dass sie sich berufen sehen, alle zu bekämpfen und zu bestrafen, die es lockerer und genüsslicher angehen lassen im Leben. In seiner vorwiegend unblutigen Variante heißt das Puritanismus, in seiner eher blutigen zur Zeit Islamismus. Beides sind übrigens Ergebnisse von Reformprozessen innerhalb von Religionen, die gegen eine als dekadent und unheilig empfundene Welt und eine zu lax empfundene Religionspraxis einen besonders sittlichen, kargen Lebenswandel propagieren, der das Heil erst im Jenseits vorsieht. Insofern ist die Forderung, der Islam müsse sich, dem Christentum ähnlich, reformieren, ziemlich blödsinnig, denn beim Islamismus, den wir seit einigen Jahrzehnten erleben, handelt es sich bereits um die reformierte Form einer Religion, deren Kultur Europäern einst ausgesprochen sinnenfroh vorkam.

Für Abstinenz predigende Frömmler ist ein Land wie Frankreich zwangsläufig ein rotes Tuch, sein Zentrum, Paris, das Tor zur Hölle. Zwar gibt es auch in Frankreich Ausbeutung, Armut, Ungerechtigkeit, neoliberale Reformen und, ja, sogar auch miserables Essen. Dennoch ist die Tradition, ein ordentliches Mittagessen nicht unter drei Gängen wichtiger zu finden als den Gang zur Kirche und erst recht die Arbeit, nach wie vor stark. Noch heute definiert man sich zum Teil über seine vielfältigen kulinarischen Genüsse und seine Weine, zu einem anderen Teil über einen gewissen Hang zur Frivolität, gelten Etablissements a'la Moulin Rouge, Folies Bergère und Crazy Horse durchaus als nationale Kulturgüter. Als der ehemalige Präsident Sarkozy seinerzeit damit angab, niemals Alkohol zu trinken, hat ihm das politisch eher geschadet. Und ein Politiker, der als Lieblingsessen irgendeinen möglichst frugalen Fraß angäbe, um sich bei kniepigen Billigessern lieb Kind zu machen, würde sich lächerlich machen.

Natürlich kann man streiten, ob Fettlebern gestopfter Gänse eine Delikatesse sind oder eine Barbarei. Oder ob es vernünftig ist, jeden Tag einen Liter Wein zu trinken. Und man muss es selbstverständlich auch nicht gut finden, wenn halbnackte Frauen vor schmierig grinsenden Spesenrittern und stieläugigen Touristen Tanznummern aufführen. Nur sollte man schon zur Kenntnis nehmen, dass sich im Bereich der illegalen Prostitution, die nicht auf Paris beschränkt ist, sondern auch in jenen Teilen der Welt stattfindet, die sich besonderer Sittenstrenge rühmen, weit schlimmere Praktiken üblich sind. Dass solche Entscheidungen aber verdammt noch mal Sache jedes Einzelnen sind, nicht die des Staates und erst recht nicht die von frömmelnden Sittenwächtern, gehört zu jenen so genannten 'westlichen Werten', die ich für unbedingt verteidigenswert halte.

Ich sehe jedenfalls nicht ein, wieso ich mir nun ausgerechnet von frommen Gotteskriegern, die es als ihr gottgegebenes Recht ansehen, Frauen zu verschleppen, zu vergewaltigen und zu verkaufen, Vorträge über meine 'westliche' Dekadenz oder Belehrungen über Anstand, Sitte und Moral anhören sollte. Egal also, ob nun wirklich der IS hinter der Amokfahrt von Nizza steckt oder ob es die Tat eines Irren war, die der IS sich bloß ans Revers heften will, die Antwort kann nur der ausgestreckte Mittelfinger sein.



2 Kommentare :

  1. Alors, la France ist die Fortsetzung des Imperium Romanum.
    Und als Rheinländer bin ich da mit involviert. Fast sowas wie das Gegengewicht zu den Brits sind die Frogs, weil sie einfach so eine natürliche und kreatürliche Lebensfreude verkörpern.

    Der Amokfahrer war ein Psycho, unbenommen. Da zählt nicht einmal sein arabischer Background. Und er war nicht einmal gläubiger Muslim. Wieder einmal hat ein Schwerstgestöter höllischen Mist gebaut (in der Breivik-Traditionsline) – mit
    Religion hat das nix zu tun. Stimmt,. wenn der IS sich das ans Revers heften will, ist der Stinkefinger noch eine Höflichkeitsgeste.

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  2. Die Feststellung , daß es sich um einen reinen Psycho handelt , spielt denen in die Hände , die keine Lust haben , über Ursachen zu sprechen.
    Natürlich handelt es sich um einen Psycho , was sonst , nur ist das immer so , wenn es um radikale politische Bewegungen geht , egal , von welcher Seite .

    Man spricht ja gerne von den Benachteiligten eines Systems , zurecht , macht dann aber eine Trennlinie zum Psycho , und übernimmt damit , sorry , neoliberale Logik.
    Psychos sind oft die Ultrabenachteiligten der herrschenden Verhältnisse , das gilt auch für diejenigen , die darauf auf verwerfliche Art reagieren , denn ihre verbrecherische Reaktion ändert nichts daran , daß die zugrunde liegende Wut eben ihre Ursachen haben könnte.
    Die Grenzen zwischen Amoklauf und Terrorakt sind fließend und waren es schon immer , auch der Nationalsozialismus wies deutliche Züge eines gigantischen und sehr psychotischen Amoklaufs auf.
    Da gilt ein alter linker Satz , das Private ist politisch und das Politische privat.

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