Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Samstag, 10. September 2016
Facebook und die Moral
Es gibt diese Momente, in denen die Neunziger wieder ganz nahe zu sein scheinen. In denen einen als Europäer Anwandlungen überkommen, den Amis ihre beschissene, klebrige, verklemmte Heileweltmoral genüsslich und mit Anlauf dorthin schieben zu wollen wo es sehr dunkel ist und immer dunkler wird. Bevor es irgendwann dann wieder hell wird. Dieses oberflächlich grinsende, friedhofsöde, zum Kotzen harmonische Vorstadt-Reinheitsideal, das alles Lebendige, Widersprüchliche unter einer dicken Schicht Zuckerguss begräbt. Wie sie der Welt in einer Tour unterjubeln, dass Minderjährige vom zehntelsekundenkurzen Anblick einer unbedeckten weiblichen Brust irreparablen Schaden nähmen, es aber offenbar völlig unproblematisch finden, dieselben Minderjährigen dem Anblick von Rambos auszusetzen, die ganze feindliche Armeen wegmetzeln.
Der Moment, in dem man erfahren hat, dass Facebook das weltberühmte Foto des AP-Fotografen Nick Ut gelöscht hat, das ein schreiendes nacktes Mädchen zeigt, wie es aus seinem mit Napalm bombardierten Dorf auf die Kamera zurennt, war so einer. Das Bild war im Rahmen einer Online-Ausstellung der norwegischen Zeitung 'Aftenposten' erschienen. Facebooks Algorithmen waren der ikonische Charakter des Bildes und seine historische Bedeutung ziemlich schnurz, es wurde eingestuft wie ein x-beliebiges Kindernacktbild und somit gelöscht. Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass der Laden mit seiner fragwürdigen Löschungspraxis aneckt. Im Mai gab es mächtig Wirbel, weil das Foto des Übergrößenmodells Tess Holiday entfernt wurde mit der Begründung, der Anblick der Dame "widerspreche den Werberichtlinien des Netzwerks in Sachen 'Gesundheit und Fitness'". Und der Vorwurf, Facebook nehme es bei allem, das nur ansatzweise als erotisch interpretiert werden könnte, sehr genau, gebe sich bei rassistischem Verbaldreck hingegen äußerst langmütig, steht eh schon lange im Raum.
Man weiß nicht, ob der Gesichtsbuch-Obermotz Mark Zuckerberg tatsächlich eine rassistische Ader hat oder puritanischen Blubber im Hirn. Das mag sein, doch wenn das so wäre, dann wäre es völlig irrelevant, denn darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, wie der Laden funktioniert, und das, davon darf man sehr wohl ausgehen, weiß er ganz genau. Ganz im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Nutzer, wie es scheint. Zuckerberg und Facebook bzw. deren Investoren, das wird gern übersehen, verfolgen keine irgendwie geartete Agenda, sondern wollen vor allem Geld sehen. Und da das nicht von den Nutzern kommt, weil die Nutzung von Facebook ja angeblich kostenlos ist, muss es irgendwo anders herkommen.
Auch 'Aftenposten'-Chefredakteur Espen Egil Hansen scheint das nicht klar zu sein. Hansen hatte, nachdem das Bild gelöscht worden war, einen wütenden, an Mark Zuckerberg gerichteten offenen Brief geschrieben. Hansen scheint ein sympathischer, skandinavisch patenter Typ zu sein, sein Zorn ist verständlich und an dem Brief gibt es handwerklich eigentlich nichts auszusetzen. Im Gegenteil, er könnte geradezu als Paradebeispiel dafür dienen, wie man so was macht und maximale Aufmerksamkeit damit generiert. Ehrlich, ich wünschte, ich könnte so schreiben. Wenn, ja wenn der Brief nur nicht so haarscharf am Kern der Sache vorbeiginge. Hansen wirft Zuckerberg vor, er missbrauche seine Macht. Damit tut er etwas vielleicht Nachvollziehbares, aber Vergebliches: Er argumentiert moralisch. Weil ihm vermutlich nicht klar ist, woher Zuckerbergs Macht, so er diese denn überhaupt hat, eigentlich kommt. Fast möchte man ihm mit Brecht zurufen: Glotz' nicht so romantisch!
Facebook nämlich verspürt keineswegs irgendeinen hehren, politisch-aufklärerisch-emanzipatorischen Auftrag und tritt erst recht nicht an, irgendwelche spießigen Moralvorstellungen durchzusetzen. Nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Facebook ist zuvörderst ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das fleißig Daten seiner Nutzer sammelt, um damit bei Werbekunden, egal wo auf der Welt, Kasse zu machen. Denen, und nur denen aber sieht Facebook sich verpflichtet, denn die schieben am Ende des Tages die Kohle rüber. Und wenn die abzuspringen drohen, weil sie finden dass Models mit ein paar Pfunden zu viel die Augen beleidigen oder allen Ernstes befürchten, das weltberühmte Bild eines nackten, weinenden, von Napalm verbrannten Mädchens, ikonisch oder nicht, könnte eventuell bei ein paar besonders verdrehten Pädophilen irgendwo auf der Welt verbotene Regungen wecken, dann wird eben entsprechend gehandelt, will heißen: werden die Filter entsprechend programmiert. Wer zahlt, schafft an, das war noch nie anders.
Es ist daher absoluter Kokolores, einem Unternehmen, dem fälschlicherweise eine öffentliche, ja, eine quasi politische Rolle zugeschrieben wird, vorzuwerfen, nichts anderes zu tun als sein Geschäftsmodell zu exekutieren und damit letztlich die Wünsche und Werte seiner zahlenden Kunden. Facebook agiert weltweit und die Welt ist groß. Da lautet die Devise: Im Zweifel nirgends anecken. Da kann ein Foto, das in den nach wie vor reichlich vorhandenen prüden Gegenden der Welt als anstößig empfunden wird, in der Tat weit eher ein Problem sein als der heillose verbale Dünnschiss von ein paar deutschen Provinznazis, der halt nur im deutschsprachigen Raum gelesen und verstanden wird. Mit Zensur hat das mal gar nichts zu tun.
Hansens Brief hat dazu geführt, dass das Bild nach kurzer Zeit wieder online gestellt wurde. Das mag man erfreulich finden, eine gute Nachricht ist das aber noch lange nicht. Denn solche Löschungen werden auch weiterhin immer wieder passieren. Nicht weil sie Irrtümer wären oder auf Fehlurteilen beruhten, sondern weil sie Teil des Systems Facebook sind. Das wiederum ist nichts anderes als mit ein paar kumpelig klingenden, lieb gemeinten Verhaltensregeln verbrämter Kapitalismus pur und kennt nur die Moral derer, die zahlen. Traurig, aber wohl auch symptomatisch, dass dem Chefredakteur einer überregionalen Zeitung das nicht bewusst zu sein scheint.
5 Kommentare :
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Kommentare zum Post
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Facebook tut nur was man von ihm erwartet. So wie Google (youtube) oder Apple oder Microsoft.
AntwortenLöschenInteressant finde ich eine ganz andere Frage. Nämlich warum vor allem in religiös unterfütterten Staaten wie den USA oder Iran sexualität, ja selbst der Anschein einer halben weiblichen Brustwarze im öffentlichen Raum eine derartige Wirkung erzielt; während selbst heftige Gewaltdarstellungen selbstverständlich sind.
Für mich wieder mal der Beweis, dass Religion das Opium für das Volk ist. Jugendlichen das Fummeln verbieten und dafür stolz ne Knarre in die Hand drücken. So formt man sich bei Zeiten die Bevölkerung die freudig Andere hasserfüllt unterdrückt und ausbeutet.
Ja, die wahren Werte und ein gewisser Grundbellizismus wollen eben frühzeitig eingeimpft und trainiert sein. Von selbst handeln die meisten Menschen ja nicht so.
LöschenEs ist schon auffällig, dass das Nick Ut-Bild zensiert wird, aber das Aleppo-Bombenopfer-Kind -was vor einigen Wochen durch sämtliche Medien ging- zugelassen wird. In dem einen Fall zeigt man ein Kind-Opfer durch die USA. Und in dem anderen ein Russland-Bombenopfer.
AntwortenLöschenAber irgendetwas politisches dahinter vermutet, ist natürlich ein Antiamerikaner und Verschwörungstheoretiker. Denn das ist alles nur purer Zufall.
Well done.
AntwortenLöschenIch muß überhaupt kein wort darüber verlieren. Super.
Danke. Empfehlenswert als weiterführende Lektüre ist auch das Interview mit einem ehemaligen Facebook-Manager.
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