Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Mittwoch, 2. November 2016
Sündenstolze Sippenhaft
Sicher ist der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit so einiges, bestimmt aber nicht immer unproblematisch. Schlussstriche zu fordern ("Ja, das waren gewiss ganz schlimme Dinge, die diese Verbrecherclique, die aus dem Nichts über Deutschland gekommen war, angerichtet hat, aber irgendwann muss es auch endlich auch mal gut sein mit den alten Kamellen."), ist ungefähr so alt wie die Unterschriften der Wehrmachtsgeneräle auf den Kapitulationsurkunden. Etwas jüngeren Datums ist die seinerzeit von Hermann Lübbe geprägte Invektive vom 'Sündenstolz'. Was ungefähr bedeutet, die Deutschen seien in toto insgeheim ein bisschen stolz auf die Überverbrechen der NS-Zeit ("Den Holocaust macht uns so schnell keiner nach."), zumal das die Möglichkeit verschaffe, sich mittels besonders penetrant zelebrierter Vergangenheitsbewältigung als moralisch höher stehende Menschen zu gerieren. Logisch, dass entsprechend Interessierte Kreise das dankbar aufgriffen.
Das Problem an vielem, was man sich als im weitesten Sinne Linker so aus anderer Richtung anhören muss, ist, dass es sich größtenteils um pure Unterstellungen handelt. Man kennt das. Linke sind realitätsfremde Träumer, die Zuwanderer per se für bessere Menschen halten und deren identitär/religiös/kulturell bedingte Straffälligkeit ausblenden, damit ihre heile Multikultiträumerlewelt bloß keine Risse bekomme. Fühle ich mich nicht von angesprochen, da ich dergleichen nie behauptet habe, im Gegenteil. Ich sehe mich auch nicht darin behindert, auf irgendwas hiesiges stolz zu sein, wenn ich das wollte. Aber darauf kommt es auch nicht an. Es geht um die Manipulation von Wahrnehmungen, darum, dass vor allem Rechte sich mit solchen Moves als diejenigen inszenieren, die als einzige unerschrocken der grausamen Wahrheit ins Gesicht blicken und den Mumm haben, die richtigen Maßnahmen zu fordern. So wie der mit dem 'Sündenstolz' durchaus verwandte Vorwurf, ein 'Gutmensch' zu sein, ja vor allem darauf zielt, Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft als eitle Egotrips zu diskreditieren, mit denen die Betreffenden bloß sich selbst zu helfen trachteten.
Zuweilen fragt man sich bei dem, was Harald Martenstein so schreibt: Übt der Mann schon mal für die Zeit nach der Machtergreifung der AfD? Auch zu seinem Repertoire gehört es, Bagatellen zu existenziellen Katastrophen aufzublähen und daraus Maßloses abzuleiten. Seine jungen Jahre, so barmt er diese Woche, seien überschattet gewesen von den Verbrechen der Nazizeit, für die er sich irgendwie mitverantwortlich gefühlt habe. Als er in Frankreich Hilfslehrer gewesen sei, habe man ihn "Boche" genannt, die Liebschaft zu einem jungen Mädchen sei fast zur Romeo-und-Julia-Nummer geraten. Und als er, gutwillig wie er war, für die 'Aktion Sühnezeichen' in Israel Orangen pflückte, hätten die Menschen sich abgewandt, sobald sie bemerkt hätten, dass er Deutscher ist. Buhu! Merke: Orangenpflücken ist keine geeignete Entschuldigung für eine Shoah, bei der man noch nicht einmal mitgetan hat. Und: auch Juden können echt voll gemein und undankbar sein.
Wenn das so passiert ist, dann war das sicherlich nicht schön. Ich will das gar nicht lächerlich machen oder in Abrede stellen. Es ist sicher auch richtig, Teilen der so genannten 68er-Generation einen Hang zur Überidentifikation mit den Opfern zu attestieren, die womöglich eine Reaktion auf das hartnäckige Schweigen der Tätergeneration war. Nur: hat die Welt sich seitdem nicht ein klein wenig weiter gedreht? Martenstein scheint das so zu sehen. Seiner Meinung nach tat er all das nämlich nicht, weil er ein verpeilter Jungspund gewesen sei, der halt Flausen über Schuld und Sühne im Kopf gehabt habe, sondern, weil dieses Büßenmüssen, dieses Gefühl, irgendwie mitschuldig zu sein, zum Kern der westdeutschen Identität gehöre. Bamm! - Musste erst mal drauf kommen.
Komisch, vielleicht bin ich ja einfach kein rechter Deutscher, vielleicht liegt's auch daran, dass ich eine Generation jünger bin, aber ich für meinen Teil konnte da ab einem gewissen Alter immer einigermaßen sauber differenzieren. Ich finde es wichtiger denn je, an das, was geschehen ist, zu erinnern und keineswegs übertrieben. Wie von Unterstellungen, ein naiver Multikulti-Träumer zu sein, fühle ich mich von dem Gejammer, andauernd bekäme man als Deutscher die böse, böse Nazizeit aufs doofdeutsche Schmalzbrot geschmiert, auf dass man zu Kreuze krieche, schlicht nicht betroffen. Ich finde das keineswegs und, wenn es doch mal vorkommt, meist reichlich banal. Eher habe ich den Eindruck, da regen sich dieselben Leute künstlich auf, die es einen Skandal finden, wenn ein deutsches Schulkind von einem türkischstämmigen 'Kartoffel' genannt wird, für sich selbst aber in Anspruch nehmen, weiterhin 'Zigeuner' und 'Neger' sagen zu dürfen. Das hat nichts mit Mut zu tun, sondern zeugt bloß von Verkrampfung und mangelndem Selbstbewusstsein.
Wer mich qua meines Deutschseins in Sippenhaft nehmen wollte, bekam, je nach dem, um wen es sich da handelte, die passende Antwort. Bei den wenigen Menschen, denen ich begegnet bin, die NS-Verbrechen noch selbst erlebt hatten bzw. Opfer waren, habe ich das übrigens kaum angetroffen. Und wenn doch, dann hatte ich Verständnis dafür und habe das einfach hingenommen. (Wer, wenn nicht diese Menschen hat jedes Recht dazu?) Wenn jüngere Einheimische im Frankreich-Urlaub den Hitlergruß zeigten, zeigte ich, wenn ich das nicht ignorierte, einen Vogel. Wenn einzelne Briten mit doofer Nazi-Folklore rumnervten (was jeder halbwegs vernünftige Mensch auf der Insel übrigens hochgradig beschämend findet), dann riet ich als Antwort, so ich überhaupt reagierte, dringend mal erwachsen zu werden. Und den türkischen Kommilitonen, der meinte, mir aufgrund der NS-Vergangenheit den Mund verbieten zu müssen, nachdem er seinerseits ein paar Minuten zuvor noch wüste antisemitische Sprüche vom Stapel gelassen und über die Ausrottung des "kurdischen Ungeziefers" phantasiert hatte, frug ich damals bloß, ob er das ernst meint und ob er noch alle Latten am Zaun hat. Sich der Vergangenheit bewusst zu sein, bedeutet ja nicht, jeden abstrusen Unsinn mitzumachen. Ich weiß nicht, wie genau man das nennt, aber ich glaube, 'Sündenstolz' trifft es nicht so ganz.
Wenn Martenstein dergestalt seine schwere, von der Last der Schuld überschattete Kindheit und Jugend beklagt, dann ist das nichts anders als der Versuch, sein eigenes Problem, das zu dieser Zeit sicher noch weniger ein Einzelfall war als heutzutage, der Allgemeinheit aufzuhalsen. Aber auch davon fühle ich mich nicht angesprochen. Weder wurde meines Wissens nach weder irgendjemand gezwungen, als Freiwilliger bei der 'Aktion Sühnezeichen' mitzutun, noch dazu, genau dort ein Praktikum zu machen, wo die ungute Erinnerung an die deutsche Besatzung noch frisch war. Wenn Martenstein sich als vielleicht unreifer Jungspund dazu verpflichtet sah, sich den Schuh anzuziehen, die von ihm imaginierte Kollektivschuld auf sich zu laden, dann mag das so gewesen sein und er mag auch allein gewesen sein. Letztlich aber waren das seine Entscheidungen, mit deren Konsequenzen er gefälligst selbst klar kommen möge, anstatt sein damaliges Handeln zum Ausfluss einer wie auch immer gearteten westdeutschen Identität zu stilisieren. Womit er im Prinzip nichts anderes tut als die, die die heutigen Deutschen in Sippenhaft für die NS-Zeit nehmen wollen.
Nebenbei bemerkt, frage ich mich ja eh immer, was denn die Alternativen sein sollen zu unserer keineswegs allgegenwärtigen Erinnerungskultur? Alle Gedenkstätten verfallen lassen oder gleich einebnen? Historikern das Forschen verbieten und Journalisten das Berichten? Den Naziferienpark am Obersalzberg wieder aufbauen, damit Rechte was zum Wallfahren haben? Die Akten der Auschwitz-Prozesse schreddern? Wirklich Konstruktives hört man da selten.
Zurück zum Thema. Richtig delikat ist seine Schlussfolgerung. Die verdient es, wörtlich zitiert zu werden:
"Wenn diese Beschreibung der deutschen Identität halbwegs stimmt, als einer Mischung aus Schuldgefühl, Scham und Sündenstolz, dann folgt daraus einiges für die Integration. Wenn ein islamistischer Terroranschlag geschieht, dann müssten sich, als gute Deutsche, alle deutschen Muslime mitschuldig fühlen. Es genügt nicht, das Verbrechen zu verurteilen, nein, man muss den Terroristen in sich selbst aufspüren. Man muss auf die Straße gehen und fordern, dass in Mekka ein Mahnmal für die Opfer des Islamismus errichtet wird. Wenn ein Muslim auf der Straße als "Scheiß-Ausländer" beschimpft wird, dürfte er nicht wütend werden, sondern müsste sich fragen, ob er nicht wirklich ein bisschen scheiße ist. [...] Sie finden das verrückt? Ich auch. [Anm. d. Verf.: Und ich erst!] Aber es ist unsere Identität. [Anm. d. Verf.: Wetten, dass nicht?]"
So denn, was ist die Moral von der Geschicht? Was lernen wir daraus? Martenstein verrät es uns nicht, also müssen wir Leser uns selbst eine zusammenklabustern (der Philolog' spricht hier übrigens von einer Leerstelle). Vielleicht diese: Brauchen wir Deutsche demnach, weil die deutschen Muslime genau das nicht tun werden, verbohrt wie sie bekanntlich sind, uns auch keinen Kopf mehr um die Nazizeit zu machen, oder was? Wenn das so wäre – wie gesagt, man weiß es ja nicht – dann müsste man diese Kolumne glatt als fiese, doppelbödige Perle der Demagogie bezeichnen. Was aber, wenn "diese Beschreibung der deutschen Identität" eben nicht "halbwegs stimmt", sondern schlicht verblasener Kokolores ist? Dann befürchte ich, dass von der ganzen Nummer nicht mehr allzuviel übrig bleibt. Sie fänden das verrückt? Ich nicht.
5 Kommentare :
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Die einfache und berechtigte Forderung nach: "Nicht vergessen dürfen" und "Aufarbeitung der Massenmorde" wurde, wie so viele Ansätze, "menschlicher Vernunft" anzumahnen, immer wieder und immer noch gründlich missbraucht.
AntwortenLöschenAuch abgelehnt, aus vielerlei Gründen, sei es aus Desinteresse, politischen Motiven, inhumanen, asozialen Motiven heraus.
So wie es jedes Volk mit seinen, in der Vergangenheit begangenen, Taten getan hat und weiterhin tun wird.
Es ging und geht einfach darum, das der Holocaust nicht vergessen werden darf, die Gründe dafür, die industriell organisierte Durchführung, einfach alles. Es geht nicht um endloses "zu Kreuze kriechen", vor wem und was auch immer.
Die Absicht sollte sein, aus der Vergangenheit zu lernen, aber auch das hat die Menschheit noch nie so richtig hinbekommen.
Siehe AfD, CSU, Junge Union, Kameradschaften, Einladungen von bekennenden Nazis zu Veranstaltungen innerhalb der Bundeswehr.
Vergessen, am Besten, gar nicht erst wissen, macht vieles leichter.
Der Artikel erinnert mich ein wenig an eine TV-Debatte mit Hans Leyendecker. Dort wurde der Journalismus hart kritisiert, und L.fühlte sich bemüßigt, die Zunft zu verteidigen. Verständlich, L. ist nun wirklich nicht das Problem, aber es gibt halt auch einen ganz anderen Teil, der sich freut, wenn Leute wie L. den Kopf für ihn hinhalten.
AntwortenLöschenOhne Zweifel hat dieser Blog keinerlei Grund, sich von einer Kritik wie der Broders betroffen zu fühlen, aber es gibt auch hier einen ganz anderen Teil.
Leute, die einen auf moralisch machen, tatsächlich aber ganz profane Eigeninteressen verfolgen, vor allem karrieristische Ziele, die sich mit einer Maske des vermeintlich Guten leichter verfolgen lassen.
Das sind keine Linken, sondern Leute, die sich im linksliberalen Bereich eingenistet haben und ihn von innen heraus kahlfressen. Daß die Kritik daran nicht immer intelligent ist, und daß auch viele rechte"Kritiker" genau dasselbe tun, nämlich die Mißstände nutzen, um ihrerseits Interessen zu verfolgen, liegt eben auch daran, daß es zuwenig Kritikbereitschaft in den liberalen Reihen selber gibt.
Viele lassen sich immer noch als Gratis-Lobbyisten der pc vor einen Karren spannen, der mit echter Liberalität soviel zu tun hat, wie der Neoliberalismus mit Liberalismus zu tun hat.
Wer sich für die Vergangenheit (über 70 Jahre her)verantwortlich fühlt, kann ja für sich den "Kaufman-Plan" umsetzen.Der "Kaufman-Plan" wäre auch geeignet die Katastrophe der weltweiten Bevölkerungsexplosion zu stopen.Hätten die NS- Oberen die Sterilisationen gefördert anstatt die Romas,Juden etc. umzubringen(was ja an der Wahnseekonferenz besprochen aber leider abgelehnt wurde) niemand hätte sich darüber aufgeregt.War in Schweden,Schweiz und anderen Ländern zu dieser Zeit üblich bei Randständigen,Landstreichern teilweise auch bei Prostituierten.
AntwortenLöschenFalls Sie das nicht ironisch meinen - verstehe ich nicht genau, was Sie meinen. Erstens fühle ich mich nicht für die Vergangenheit verantwortlich. Der von Ihnen favorisierte Kaufman-Plan würde bedeuten, dass eine staatliche Stelle über vermehrungswürdiges und -unwürdiges Leben entscheidet. Wer soll das nach welchen Kriterien tun? Wird jedenfalls schwierig.
LöschenDass das in der Schweiz, Schweden und anderswo praktiziert worden ist, soll genau was bedeuten? Sind Schweizer und Schweden per se gefeit davor, Mist zu bauen?
Und Ihrer Logik, wieso ausgerechnet die, die sich für die Vergangenheit verantwortlich fühlen, das umsetzen sollen, vermag ich nicht zu folgen. Never mind.
1. Den Verweis von Walter auf das barbarische Treiben anderer Länderen verbuche ich unter sekundärem Antisemitismus.
AntwortenLöschen2. Bevölkerungsexplosion ist ein propagandistischer Begriff. Er kommt imme wieder aus derselben Ecke.
3. Ich mußte mich schon öfter mit Linken darüber streiten, ob der Holocaust ein singuläres Ereignis gewesen sei. Ja. War es. Alles andere dient nur der relativierenden Entschuldung.
4. Im Querfrontmillieu wird von einigen Protagonisten neuerdings das Existenzrechts des "faschistischen" (oh je!)Israaels bestritten.
Ich fühle mich für die Taten meiner Vorgeneration auch nicht verantwortlich, aber dafür, dass sich so etwas nie wiederholt.