Nicht immer Kritisches über Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur, Essen und manchmal auch Sport
Montag, 7. November 2016
Doppeltmoralinsaurer Demokratierest
"Die oberen Zehntausend dieser Gesellschaft sind ein Sumpf. Sollen sie fälschen, betrügen, sich schmieren lassen, koksen, wie es ihnen beliebt. Wenn sie uns nur verschonten mit ihrer Moral." (Hermann L. Gremliza)
Es kann hilfreich sein, sich klarzumachen, dass das, was wir bürgerliche Werte nennen, ursprünglich der Abgrenzung und Selbsterhöhung des etwa ab dem 18. Jahrhundert aufstrebenden Bürgertums gegenüber dem Adel diente. Blaublütige bildeten sich traditionell etwas darauf ein, keiner Erwerbsarbeit nachzugehen, weil das das gottgegebene Los von Bauern und Plebejern war ("Im Schweiße deines Angesichts..."). Sonderlich sparsam war man in diesen Kreisen meist auch nicht. Die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes wäre ohne das entspannte Verhältnis zum Geld, das diverse Fürsten pflegten, um etliche repräsentative, kunsthistorisch bedeutende Bauten ärmer. Die Bürgerlichen setzten solcher Verschwendungssucht das Ideal des fleißigen, sparsamen, korrekten Frühaufstehers und Schaffers entgegen, der seine Finanzen im Griff hat. So kam auch das Denken in die Welt, (Erwerbs-) Arbeit sei ein Wert an sich und wer nicht arbeite, demnach nichts wert.
Analog dazu war das Ideal des sittsamen Biedermannes, der seine Libido voll im Griff hat, der das ernst nimmt, was ihm sonntäglich in der Kirche gepredigt wird, und daher ausschließlich mit der nicht minder sittsamen Angetrauten allein zum Zwecke des Kindermachens aktiv wird, ebenfalls ein Gegenentwurf zum diesbezüglich eher ungezwungenen Adel. Auf angenehme Weise studieren lässt sich das übrigens anhand der Mozart-/Da Ponte-Opern 'Nozze di Figaro' und 'Don Giovanni', in denen es neben anderem genau um diesen Konflikt geht.
Was nach oben funktionierte, klappte hervorragend auch nach unten. Vor allem Tagelöhner und Arbeiter der im Zuge der Industrialisierung überall entstehenden Fabriken, galten zu Reichtum und Einfluss gelangten Großbürgern bald quasi als niedere triebhafte Halbtiere, erst recht wenn sie weiblich und unverheiratet waren. Müßiggang geriet zur Todsünde und wer sich dem Arbeitszwang nicht freiwillig unterwarf, dem wurden zum eigenen Besten, versteht sich, Fleiß, Zucht und Sitte aufgedrückt. Notfalls mit Gewalt, weshalb Besserungsanstalten und Arbeitshäuser nicht zufällig Kinder dieser Zeit sind. Auch kein Zufall ist es nebenbei, dass solches Gedankengut sich am stärksten in Gegenden ausbreitete, die kulturell und intellektuell irgendwann vom Protestantismus geknutscht worden sind. In überwiegend katholisch geprägten Gebieten neigte die Bourgeoisie eher dazu, den sinnenfrohen Lebensstil des Adels wenigstens in Teilen zu übernehmen.
Weil Menschen aber nun einmal Menschen sind und auch der bravste Bürgersmann, die bravste Bürgersfrau keine Heiligen oder Roboter, ist das Ganze meist reichlich verlogen. Denen da unten werden Arbeitsfleiß und Leistungsethik als universelle Werte gepredigt, die eigenen Kinder dagegen mittels Geld und Netzwerken auf der Überholspur in die Topjobs bugsiert.
Was Sexualität angeht, hat Kurt Tucholsky seinerzeit die politische Dimension bürgerlicher Sexualmoral sowie deren Funktion als Herrschaftsinstrument sehr schön am Beispiel des Phänomens Abtreibung herausgestellt: Die Proletarierfrau, die sich außerstande sah, ein weiteres Kind zu versorgen, das sie vielleicht ungewollt bekam, und sich keinen anderen Ausweg mehr wusste, als bei einer Engelmacherin ihr Leben zu riskieren, war von Staat, Kirche und anderen Honoratioren stigmatisiert. Die wohlhabende Bürgergattin hingegen hatte alle Mittel, eine Zeit lang diskret im Sanatorium zu verschwinden. Dort wurde das Kind dann entweder unbemerkt ausgetragen und hernach einem Kloster überantwortet oder die Sache wurde, als Einlauf getarnt, medizinisch behoben. Hygienisch einwandfrei, versteht sich. Derart wieder hergestellt, konnte so eine Dame der besseren Gesellschaft sich dann wieder erheben über 'gefallene Mädchen' und ihnen Vorträge halten über Sittenstrenge und Selbstzucht.
Vor diesem Hintergrund gerät der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf, der schon bizarr genug ist, vollends zum absurden Theater. Die ganze Lächerlichkeit einer Figur wie Donald Trump, die völlige Verlogenheit der Republikaner und der Sexismus des derzeitigen Politikbetriebes lässt sich mithilfe eines einzigen, simplen Gedankenexperiments bloßstellen, wie es Jennifer Mulhern Granholm, ehemalige und erste weibliche Gouverneurin des US-Bundesstaates Michigan, unternommen hat.
Man stelle sich vor, Trump sein kein Mann, sondern eine Frau. Eine knapp 69jährige, die mit aller Gewalt auf jugendlich getunt ist, fünf Kinder von drei Männern hat und mit einem dreißig Jahre jüngerem Unterwäschemodel verheiratet ist. Die nicht nur mit Form und Größe ihres Geschlechts herumprahlt, sondern auch mit ihren zahlreichen Lovern, die höchstens halb so alt sind wie sie selbst, und die sich etwas darauf einbildet, jungen Männern, deren Großmutter sie sein könnte, die Zunge in den Hals zu stecken und ihnen ans Gemächt zu greifen. Wie wahrscheinlich wäre es, dass so eine Präsidentschaftskandidatin würde?
Wie wahrscheinlich wäre es weiterhin, dass evangelikale Bibelschnüffler einer solchen Kandidatin ihre Unterstützung gäben? Zur Erinnerung: Evangelikale sind die, die Evolution voll doof finden, weil ja in der Bibel steht, wie's zugegangen ist, und die in krampfhaftes Beten und Hallelujaskandieren ausbrechen, wenn ihre jungfräulichen, zu Prinzesschen aufgeputzten Töchter auf die Idee kommen sollten, ein bisschen voreheliches Fummeln eventuell doch ganz nett zu finden. Nun, Donald Trump jedenfalls hat sie, die Unterstützung. So viel zum Thema Moral unter strenggläubischen Konservativen.
Mit einiger Sicherheit lässt sich behaupten, dass ein John F. Kennedy unter den heutigen Bedingungen nicht einmal in die Nähe einer Kandidatur gelangt wäre. Dass Kennedy in sexueller Hinsicht ein scharfer Gänger war und es auch noch als Präsident heftig krachen ließ, war in Washingtoner Kreisen kein Geheimnis. Nicht nur der zwielichtige J. Edgar Hoover war umfassend darüber informiert. Aber man brachte das nicht aufs Tapet und biss sich lieber auf die Zunge. Unter anderem, weil man fürchtete, dass das auf die eigenen Kreise zurückfallen konnte, die ihrerseits auch nicht gerade Mönchszirkel waren.
Derlei Hemmungen fielen, als Ronald Reagan jene Evangelikalen Christen des Mittleren Westens als Wählergruppe für die Republikaner erschloss. Der Preis dafür war hoch. Im Ergebnis bedeutete das die faktische Abschaffung einer zentralen Errungenschaft der Moderne, nämlich der, dass Glaube und Religion Privatsachen sind. Spätestens seit Reagan muss, wer US-Präsident werden will, nicht nur ein Strahlemann, Macher, Antikommnunist und Patriot sein, sondern auch herumfrömmeln wie ein Pfarrer und ein in jeder Hinsicht untadeliges Intimleben vorweisen. Das gilt umso mehr, wenn er kein Republikaner ist. Bei denen ist - Doppelmoral, siehe oben – im Zweifel bloß ein Ausrutscher (sofern nur unter Tränen öffentlich Buße getan wird), was bei Liberals als sicheres Zeichen für Gottlosigkeit und Verkommenheit gilt. Bill und Hillary Clinton haben das ihrerzeit zu spüren bekommen.
Weil Republikaner wie Demokraten gleichermaßen im Dienste des Kapitals agieren, ist der Unterschied zwischen ihnen vorwiegend kulturell. Trump wurde unter anderem möglich, weil das konservative W.A.S.P.-Establishment seine kulturelle Hegemonie ernsthaft bedroht sieht und darob immer hysterischer um sich schlägt. Aus Angst und Machtgier hob man daher einen vulgären, faschistoiden Pöbler mit Logorrhoe auf den Schild, der in moralischer Hinsicht gegen fast alles steht, was man vertritt. Man tat es, weil er am ehesten Erfolg versprach. Zu unerträglich war es, acht Jahre lang einen aus einfachsten Verhältnissen stammenden Libertin und Althippie wie den beim Volk beliebten Bill Clinton als Präsident erdulden zu müssen und weitere acht Jahre lang einen ebenfalls aus kleinsten Verhältnissen stammenden, ebenfalls im Volk beliebten Schwarzen wie Barack Obama.
Man kann es sich einfach machen und sagen, es sei eh egal, wer morgen die Wahl gewinnt. Wahlen verändern nichts etc. etc. Sicher, Hillary Clinton ist das vielleicht allergrößte kleinere Übel aller Zeiten und ein weiterer lebender Beweis, dass die Welt nicht automatisch eine bessere wird, bloß weil die Mächtigen zwei X-Chromosomen haben. Immerhin aber bewegen Clinton und ihre Anhänger, wie Georg Diez richtig bemerkt, sich noch in halbwegs rationalen Bahnen, sind für Argumente zugänglich. Sollte man nicht klein reden. Klar ist bloß eines, nämlich wie komplett hohl das Prinzip liberale Demokratie inzwischen geworden ist. Geht nicht mehr lange gut. Keine Ahnung, was danach kommt. Egal, was es sein wird, wenn ein Nebeneffekt wäre, dass der konservativen Rechten endlich auch ihre abgestandene, heuchlerische Moral um die Ohren flöge, dann wäre das immerhin etwas.
3 Kommentare :
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Kommentare zum Post
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Blaublütige bildeten sich auch ein,über die Vermehrung ihrer Leibeigenen Bauern zu bestimmen.In Frankreich wurden die Bauern auf Wunsch ihrer Herren zwangsterilisiert.Betäubung ein Gemisch ähnlich Opium.(Info. Verhütungsmuseum Wien).
AntwortenLöschenTolles Gedankenexperiment. Man kotzt nur bei der Vorstellung, es gäbe so eine ekelhafte Frau. Aber so ein ekelhafter alter Mann hat Fans, was ist nur los?
AntwortenLöschenDas wäre das Stoff für das nächste längliche Essay...
Löschen@Sandrine: Danke für die Ergänzung. Natürlich sollte nicht der Eindruck entstehen, ich hielte Aristokratie für was Erstrebenswertes. Die Von-und-zu-Mischpoke hat sich ihre Degradierung zu bloßer Deko ehrlich verdient...