Dienstag, 22. August 2017

Deutscher Herbst 1992


Vor genau einem Vierteljahrhundert, am 22. August 1992, begann ein enthemmter faschistischer Lynchmob in Rostock-Lichtenhagen, angefeuert und beklatscht von einer Horde Gaffer und Mittäter im Geiste, mit Bockwurst und Bier versorgt von fliegenden Händlern und, vergessen wir das nicht, materiell wie ideologisch aufgerüstet von westdeutschen Neonazi-Kadern, erstmals im großen Maßstab gegen die vorzugehen, die er für schuld an seinem gefühlten oder realen Elend hielt: Die in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) im so genannten 'Sonnenblumenhaus' untergebrachten Asylbewerber und im selben Haus lebende, ehemalige vietnamesische 'Vertragsarbeiter'. Vier Tage dauerte das an und wie durch ein Wunder wurde kaum einer der Bewohner verletzt, obwohl die marodierenden Horden sich maximale Mühe gegeben hatten, auf Menschenleben minimale Rücksicht zu nehmen.

Vom Himmel gefallen hingegen war da gar nichts. 207 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten waren allein 1992 in Mecklenburg-Vorpommern registriert worden. Aufmerksame Beobachter hatten vor drohender Gewalt gewarnt. Vergeblich. Fast alle, die bei den zuständigen Polizeibehörden etwas zu sagen und zu entscheiden hatten, waren Westimporte und verbrachten das Wochenende bei ihren Familien daheim. Die Polizei freilich versagte nicht als einzige. Medien schürten Ängste und Ressentiments gegen die 'Asylantenflut', die Politik hielt sich weitgehend zurück. Weil's wohl auch in den Kram passte. "Es wird der deutschen Regierung und Helmut Kohl schwerfallen[,] sich von dem Verdacht reinzuwaschen, daß sie die Gewaltwelle gegen Ausländer aus einem ganz bestimmten Grund nicht stoppten: In der Hoffnung, die sich sträubende sozialdemokratische Opposition im Bundestag für die Abschaffung des Artikels 16 zu mobilisieren", urteilte die Haaretz, als das Unheil geschehen war.

Auch andere blickten durch. Maxim Billers Kolumne 'Hundert Zeilen Hass' ist von 1988 bis 1997 monatlich in der so genannten Zeitgeistpostille Tempo erschienen. Biller misstraute und misstraut Deutschland und den Deutschen zutiefst und hält die alte westdeutsche, unter Kontrolle der dem Braten ebenfalls nicht trauenden Westalliierten stehende Bundesrepublik der Achtzigerjahre, für das Beste, was es in Puncto Deutschland je gegeben hat, hörte und sah genauer hin als viele andere und ließ seinen wiedervereinigten, sich renationalisierenden deutschen Zeitgenossen keine Ausflüchte durchgehen. Seine Kolumnen liegen seit einiger Zeit gesammelt in Buchform vor und die Lektüre lohnt.

Wir begegnen, wenn auch teils mit anderer Besetzung, exakt denselben Phänomenen wie heute. Skrupellosen, opportunistischen Medienleuten und Literaten, die sich, den sich drehenden Wind witternd, nach rechts wenden, nationalistisch beweihräucherte Promis, die sich das widerspruchslos gefallen lassen, sie sind Billers Lieblingsfeinde und sie bekommen's reichlich. Immer voll auf die Zwölf, pointiert, um Himmels Willen nicht fair und ausgewogen und deshalb so gut. Ein wahres Füllhorn für alle, die lernen wollen, wie Polemik geht. Erstaunlich auch, wie Biller das Bürgerliche und Autoritäre an den Grünen erkannt hat zu einer Zeit, in der die meisten die Partei noch für eine linke, anarchistische Chaotentruppe hielten.

Vor allem aber geraten Billers Kolumnen, 25 Jahre nach Rostock, zum gespenstischen Deja-vu. Man schüttelt den Kopf, wenn man so was liest:

"Plötzlich kapiert man […], dass die jungen rechtsradikalen Straßenkämpfer und Schreibtischtäter eine revolutionäre Vorhut sind, die Vorkämpfer jener deutschen Deutschen, die sich, egal, wie absurd man das finden darf, von Liberalen und Demokraten und deren kosmopolitisch-libertinärer Ausländerbagage unterdrückt und entmachtet fühlen. Ja, der deutsche Deutsche fühlt sich entfremdet in seinem eigenen Staat […]. [Er] wünscht sich einen autoritären Staat, in dem er selbst keine anstrengenden Entscheidungen treffen muss, weder im Privatleben noch im Beruf, noch in der Wahlkabine. Und dieser Schulterschluss, der so zwischen jugendbewegter rechtsextremer Avantgarde und dem bis jetzt schweigenden rechten Mainstream entsteht, ergibt genau jene explosive, dynamische, beinahe-revolutionäre Mischung, aus der im deutschen Herbst 1992 unsere allerschlimmsten liberal-demokratischen Alpträume gewoben sind [...]" (Dezember 1992)

Weil es gestern geschrieben sein könnte. Oder so etwas:

"Appeasement? Das ist das Eingehen auf die Argumente der Rechtsradikalen, das ist die Illusion, mit Menschen, die dich vernichten wollen, gäbe es so was wie Diskussion. Und vor allem ist Appeasement das allmähliche, stille, von einem selbst noch kaum bemerkte Übernehmen und Adaptieren faschistischer Ideen. […] Ich merke sehr wohl, dass sich in die Politikerschelten von Stern und Spiegel immer häufiger Stürmer-erprobte Nickelichkeiten wie 'Chuzpe', 'Schacher' und 'Mauschelei' einschleichen." (August 1992)

Man schüttelt den Kopf, weil man schon damals hätte sehen können. Wenn man denn gewollt hätte. Mit welcher braunen Soße wir uns heute auch immer herumzuschlagen haben – einfach so vom Himmel fallen tut auch da mal gar nichts.

Der rechte Mob, indes, er konnte nach dem Deutschen Herbst von 1992 zufrieden sein mit sich. Seine Forderungen "Ausländer raus!" und "Deutschland den Deutschen!" wurden zumindest auf lokaler Ebene vollumfänglich erfüllt. Wie die Politik 1992 auch sonst mehrheitlich erbärmlich und beschämend reagierte. In widerlicher Täter-Opfer-Umkehr wurde den Asylbewerbern und vietnamesischen 'Vertragsarbeitern' eine Mitschuld an den verbrecherischen Exzessen in die Schuhe geschoben und das Progrom dazu genutzt, das Asylrecht unter der verharmlosenden Bezeichung 'Asylkompromiss' zu verschärfen. Was sich geändert hat seither? Nun, heute, 25 Jahre später, sitzt eine wie Alice 'Two Face' (Fatma Aydemir) Weidel (AfD) in den Talkshows, die für eine Totalabschaffung des Asylrechts eintritt, und darf dortselbst öffentlich Kreide fressen wie weiland "Arschloch Schönhuber", "Arschloch Frey" und "Arschloch Nolte" (Biller).



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Maxim Biller: Hundert Zeilen Hass. Mit einem Nachwort von Hans-Ulrich Gumbrecht. Hamburg: Hoffmann und Campe/TEMPO 2017. 399 S., 25,00 €.




11 Kommentare :

  1. Fluchtwagenfahrer23. August 2017 um 11:19

    Moin Stefan, wie so häufig von dir, ein Volltreffer.
    In der Tagesschau gestern abend wurde zum Anlass von Krawallen gesprochen, wie niedlich, war ja nur ein Krawall.
    Ein ehemalig junger Polizist von damals, heute höherer Dienst, faselte: Öh, wir hatten ja nüscht keine Ausbildung, kein Ausrüstung und so und überhaupt.
    Aber den Vogel schoss mal wieder Blondchen Schwesig ab, fasel, fasel, Fresse in so eine Suppenschüssel, guckt rein völlig sinnentleert und spricht, das darf niiiie wiiiiieder geschehnn. Völlig ignorierend wie viele Hütten hier in Rauch aufgegangen sind und mal maliziös gesagt, wie viele Übergrifflichkeiten deutscher Deutschbürger seit dem protokolliert wurden.

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  2. Chapeau - der Artikel ist wirklich hervorragend. Ich werde ihn selbstverständlich, wie die meisten anderen auch, bei "Net News Express" einstellen. Dann lesen noch mehr Menschen diesen Artikel.

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    1. Habe mir mal erlaubt, ein Banner zu setzen.
      @Fluchtwagenfahrer: Danke. In der Tat, die Reaktionen waren, nein, besser gar nicht erst anfangen davon...

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    2. Hallo Stefan,

      das mit dem Banner ist aber nett. Vielen Dank!
      NNE (Net News Express) ist wirklich ein prima Portal.
      So werden kleinere Blogs und Websites unterstützt.

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  3. Entfremdung existiert tatsächlich, auch die Unterdrückung Deutscher im eigenen Land. Nur eben nicht im nationalen Rahmen, sondern im lokalen. Wo Migranten die Mehrheit haben, läuft es auch nicht anders als in deutschen (europäischen) Mehrheitsstrukturen. Oft funktionierts, oft nicht.

    Es gibt auch in Deutschland Viertel, Straßenzüge, einzelne Häuser, Schulklassen, Betriebe usw, in denen ein faschistoider Migrantentypus das Sagen hat und genauso anmaßend und rechts denkt und handelt gegenüber allen "Scheißdeutschen", und anderen Migranten.
    Linke und Liberale wollen das nicht wahrhaben, ausgrechnet sie sind es, die vehement auf deutschem Copyright für Faschismus bestehen.
    Daß es dann Rechte sind, die solche Probleme nutzen und an Stellen die Sündenböcke suchen, die völlig schuldlos sind, ist nicht neu und typisch rechts.
    Kritik daran ist richtig und, auch in diesem Artikel, sehr unterstützenswert. Aber sie darf nicht den Blick verschließen auf tiefergehende Ursachen- daß Rechte mit widerwärtigen Reaktionen ihren eigenen Vorteil aus dem Thema ziehen, heißt nicht, daß alles gut ist, wenn man sich damit begnügt, nur immer die Reaktionen zu verurteilen. Hätten wir eine freie Migrationsdebatte, hätten wir auch weniger Potenzial für rechte Reaktionen.

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    1. Das glaube ich kaum. Es ist eine Konstante, dass diskriminierte Minderheiten innerhalb von Settings, in denen sie die Mehrheit bilden, ihrerseits zu Diskriminierung neigen, wenn es die Möglichkeit dazu gibt (z.B. was Malcolm X 'Hausneger-' oder 'Onkel Tom-Phänomen' nannte). Das lässt sich überall beobachten und hat m.E. nix damit zu tun, wie offen die Debatte geführt wird oder nicht.

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    2. @Stefan
      Stimmt, das ist quasi naturgegeben bei allen Menschen und damit durch eine freie Debatte auch nicht zu beseitigen.Aber es macht schon einen großen Unterschied, wie man damit umgeht.
      Wenn man das und andere Probleme immer unter den Teppich kehrt und die Rechten die einzigen sind, die sie ansprechen, sehen eben Viele in den Rechten ihre einzigen Fürsprecher, die Mehrzahl, ohne selbst rechte Überzeugungen zu haben. Zumal viele vermeintliche Liberale nicht nur "vergessen", ihre vorgeschobenen Werte zu verteidigen, sondern Betroffenen auch noch in den Rücken fallen, wenn sie Probleme mit faschistoiden Migranten haben (damit meine ich nicht diesen Blog, um eventuelle Mißverständnisse auszuschließen, sondern eine bestimmte Sorte des sehr klassenbewußten Salonliberalen, der in öffentlichen Positionen sehr präsent ist).

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    3. Fluchtwagenfahrer24. August 2017 um 06:50

      Moin Art,
      lass uns über Ursachen und daraus resultierenden Problemen (ndtsch. Herausforderungen) kurz sprechen.
      Ich beobachte hier in Hettwig Holzbein an der Küste folgendes. Alte wohlhabende (reiche) ziehen hier hin (da wo andere Urlaub machen:(() Die Mietpreise ziehen massiv an, Modernisierung wird zur Genderisierung genutzt wie überall auch, Arbeitsplätze auf 450 oder Leih/Zeitarbeitbasis, wenn überhaupt. Hier ist so ziemlich alles auf Dienstleistung (für die Tuurries) ausgerichtet. Na ja was sollen se auch machen, außer mit der Ostsee vor der Tür und einer schönen Landschaft sind sie ja nicht in der Lage bzw. haben keinen Plan, auskömmliches Einkommen für Menschen zu generieren, aber ich schweif ab.
      Meine Frau die Vermieterin 1500 WE, hatte es bis jetzt immer ganz gut gehandhabt in ihren Häusern eine gute Durchmischung der Mieter zu steuern, das ist nun vorbei, die Kaltmiete und auch die ARGE mögen sich nicht. Ich fragte sie wo denn jetzt all die Einkommensschwachen hin abwandern und sie sagte dass es keinen interessiert. Also fassen wir zusammen: Wohlhabende leben an der Küste in guter Wohnsituation, großes Ärzteaufgebot, viele Apotheken. Die Armen können sehen wo sie bleiben, sie wohnen in runtergewirtschafteten von "Heuschrecken" in Besitz genommen Silos.
      Hilfsinfrastruktur bis auf ne Tafel und die üblichen Verdächtigen am Arsch. Nun kommt ALFRED* (*beachte die Buchstaben) Zündelmeyer an und schwafelt von........ Hurra endlich einer der unsere Sorgen & Ängste wahrnimmt. Ach ja, ich vergaß, die latente, unterschwellige, (mir fällt kein geeignetes Wort ein) Phobie?? Hass gegen andere?? der kl. Adolf?? war nie weg, kommt jetzt aber mit aller Macht hoch, gepaart mit Meinungsmache (danke Fr. Springer et all) Dummheit/ Neid /Missgunst etc.
      Nun haste den Salat.
      Ganz wichtig sind auf diesem Kriegsschauplatz dann noch die sog. linksLINKEN, die Genderfuzzis, Religioten u.a. Apostel die noch nicht einen Millimeter in den Boots der Betroffenen gelaufen sind.
      Ich bin nur durchschnittlich begabt, aber M.M.n. liegen alle Ursachen und Wirkungen seit langen auf dem Tisch.
      Es „will“ nur keiner der Machthabenden?? Verantwortlichen?? daran etwas ändern.

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  4. Ging es nach Herrn Maxim Biller ,der KAUFMAN-PLAN wäre durchgeführt worden.

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  5. @Fluchtwagenfahrer

    Gut beschrieben und wohl auf viele andere Ecken übertragbar.

    Es geht ja nicht darum, Angriffe auf Asylheime als Protestalternative zu betrachten. Es ist aber eben ein "natürlicher" politischer Effekt, daß die Falschen vorhandene Problemfelder besetzen und sich als Anwalt der Unterdrückten aufspielen können, wenn es konstruktiv nicht funktioniert, wozu natürlich auch Betroffene massiv beitragen, die ihr Heil immer nur darin suchen, nach unten zu treten. Für die Erklärung solcher Beinahepogrome reicht das als Erklärung, für eine starke politische Rechte nicht.
    Da müssen dann schon tieferliegende Probleme auftauchen, die auch von vernünftigen Menschen zurecht als solche gesehen werden, was keineswegs heißt, wie oft von den Parteien mißverstanden, daß rechte Lösungen dann automatisch die richtigen sind.
    Gegen den immer vorhandenen Rassismus kann man nichts machen, aber man kann ihn politisch kleinhalten. Biller ist eine problematische Figur- er sagt Vieles, was richtig ist, versagt aber völlig bei der Analyse für den Grund, warum Rechte gegen Flüchtlinge hetzen. Da gehts nicht um Inhalte, Flüchtlinge erfüllen für Rechte eine bestimmte Funktion, die meisten Flüchtlingshetzer dürften im Kern gar nichts haben gegen Flüchtlinge, nicht zuletzt, weil sie noch nie einen gesehen haben.
    Kurz gesagt, Flüchtlinge erfüllen eine Funktion, die Rechte stärken soll, damit sie woanders ihre Inhalte umsetzen können.

    Unabhängig davon verweist der Artikel zurecht auf die zappendustere Rolle, die die offizielle Politik bei der Instrumentalisierung solcher Vorgänge spielt(e).

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