Sonntag, 21. Januar 2018

Ein paar Worte


Natürlich soll man über Tote nur Gutes sagen, ihnen zumindest keine Schmähungen hinterherrotzen, doch betreibt man sicher keine Leichenschändung, wenn man sagt, dass der am Donnerstag überraschend verstorbene Charlie nicht immer ein einfacher Charakter war. Seinen Hass auf das herrschende System konnte ich noch gut verstehen, nicht zuletzt wegen der Kämpfe, die er als chronisch Kranker mit dem Jobcenter auszufechten hatte. Wie er sich aber des Öfteren förmlich verbiss in einzelne Leute, etwa andere Blogger, darunter welche, die politisch gar nicht mal so auseinanderlagen mit ihm, ging mir meist deutlich zu weit.

Auch mir war er damals als erstes so vor den Koffer gefahren, dass ich dachte: So, Freundchen, das war's mit uns beiden, so was muss ich mir echt nicht antun. Es gibt durchaus welche, die gute Gründe haben, ihm keine Träne nachzuweinen. Immer untadelig fand ich seine stets klare und unmissverständliche Haltung zu jedwedem Antisemitismus, seinen riesigen musikalischen Horizont bewundernswert.

Zwar waren Charlie und ich nicht befreundet, es ist mir aber um des Gesamtbildes willen wichtig, dass bekannt wird, wie sehr er sich als Person unterschied von dem Bild, das man von ihm haben konnte, wenn nicht musste, wenn man nur seinen Blog las. Ich habe Charlie letzten Sommer einmal getroffen. Der altautonome hatte mich angeschrieben, ob ich nicht Lust hätte auf ein Treffen. Stattfinden sollte das in einem Café in Witten-Herdecke, was nicht allzu weit weg ist von mir.

Ich fuhr hin und tat mir den Stau auf der A 43 vor allem deshalb an, weil ich neugierig auf Charlie war. Was hatte ich erwartet? Einen verbitterten Knatterkopp, einen Zeloten mit Bombe unterm Arm und Schaum vor dem Mund, der in einer Tour Hasstiraden vom Stapel lässt? Etwas in der Art musste es wohl gewesen sein, denn ich war mehr als gelinde überrascht, es mit einem eher stillen, freundlichen, reflektierten Menschen zu tun zu haben, der im Zweifel weniger als mehr redete, seine Worte sorgfältig wog, der es zu genießen schien, unter Menschen zu sein und insgesamt nicht so recht zu dem Bild passte, das ich mir von ihm gemacht hatte.

Es wurde ein netter Nachmittag und ich verließ das Café nach zwei Stunden einigermaßen nachdenklich ob dieser Begegnung, doch durchaus froh gestimmt. Ein weiteres Treffen im Herbst musste ich absagen, hatte mir für dieses Jahr aber vorgenommen, mal wieder hinzufahren. Dazu kommt es jetzt nicht mehr.

Vielleicht trifft auf seine Bloggerei das zu, was Brecht in 'An die Nachgeborenen' sagte:

"Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein."

In diesem Sinne, gute Reise, Käpten! Und danke für den Fisch. Auch wenn er manchmal vielleicht ein wenig gestunken haben mag. Und wenn schon, die Welt ist kein duftender Rosengarten, das wusstest du besser als viele andere. 



14 Kommentare :

  1. Nein, ich freue mich nicht, von seinem Tod zu lesen.

    Andererseits bin ich auch nicht von Trauer überwältigt.

    Jemand, der auf seiner Seite linke Blogger-Kollegen unter "Aussortierte Deppenblogs" verlinkte (und deren Namen dann noch in lächerlich machender Weise veränderte), dem kann ich als linken Meinungsträger nicht wirklich ernst nehmen. Zumal die eigene Position (und die Diffamierung anderer) oft von einer selbst eingenommenen hohen moralischen Warte aus geführt wurde. Da passt für mich was nicht zusammen. Besonders, weil er meist nicht bei einer sachlichen Kritik blieb, sondern schnell mit Kategorien wie Dummheit und Querfront daher kam.

    Trotzdem:
    Möge er in Frieden ruhen.

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  2. Interessant, dass sich so viele Blogger und Kommentatoren auch im Real-life treffen.

    Tja, Charlie - das Ende einer Tragödie...! Da hat er sein ganzes Leben für die totale "Überwindung des Kapitalismus" gekämpft - und dabei vor allem diejenigen am inbrünstigsten (teils wirklich auf die übelste Art und Weise...!) bekämpft, die ihm inhaltlich weit näher standen als die Masse einer stetig weiter nach rechts abdriftenden "Mitte" - und hat die "Revolution" dann doch nicht erlebt...!

    Vielleicht gibt das ja dem ein oder anderen zu denken, dass es ihm nicht anders ergehen wird! Denn das, was Typen wie Charlie sich erträumen, ist nicht Jahre, sondern mindestens Jahrzehnte von unserer Zeit entfernt!

    Das muss jeder mit sich ausmachen, wie er den Rest seiner zeitlich begrenzten Existenz verbringen möchte. Trotzig jede "Reparatur" am kranken kategorisch "System" ablehnend - oder halt vielleicht doch anders... Im Post-Kapitalismus wird jedenfalls von uns definitiv keiner die Augen für immer zumachen!

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  3. Es zeugt nicht von charakterlicher Stärke, menschlicher Größe und Selbstbewußtsein, jemanden auch noch über den Tod hinaus mit seinen Schwächen, alten Konflikten, drastischen Sprachregelungen und Animositäten zu überschütten.

    Ich kann nur Stefan zustimmen und aus langer persönlicher Erfahrung bestätigen, dass Charlie als "Privat"mensch ein völlig anderer Charakter war, als der Blogger Charlie. Hätten die post-mortem-Kritiker Gelegenheit, Charlies Buch des Lebens aufzuschlagen, würden sie ihn wahrscheinlich verstehen. So hat er z. B. mehr und fast tagtäglich um sein materielles Überleben gekämpft, als um die Abschaffung des Kapitalismus.

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    1. Den Mangel an charakterlicher Stärke, menschlicher Größe und Selbstbewusstsein suchen manche eben nur AUSSERHALB der Narrenschiffbrücke.

      Unbestritten wird er seine guten Seiten gehabt haben und auch seine persönlichen Probleme. Auch rechne ich ihm an, dass er mit Verve gegen den Kapitalismus angeschrieben hat.
      Den Makel der Denunziation aber, den er in seine Blogroll bis zu seinem Tode integriert hat, ist bis heute noch dort zu besichtigen.
      Von wegen 'drastische Sprachregelungen'...

      Eine differenziertere Haltung zu Charlie (auch nach seinem Tode) wäre schön.

      Dir wird sicher aufgefallen sein, dass sich nicht nur hier auch kritische Untertöne durch Blogbetreiber und Kommentatoren zu ihm finden lassen.
      Man könnte zumindest mal einräumen, dass diese nicht gänzlich aus der Luft gegriffen sind, und ihren Grund haben.

      Trotz seinen Fehlern (die ich sicherlich auch habe) werde ich ihn vermissen und wünsche ihm dass er jetzt seinen Frieden findet.

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  4. @Duderich,
    selbstverständlich kannst Du Dich an dem Charlie abarbeiten, aber sorry, etwas Zurückhaltung wäre wirklich passender gewesen. Es ist alles noch sehr frisch und an Deine Kritikpunkte denkt doch jetzt kein Mensch.

    Polly

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    1. Ob man meinen Kritikpunkten Bedeutung beimisst oder nicht, sollte jedem selbst überlassen bleiben.

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  5. Es ist nicht meine Art, öffentliche Trauerreden zu halten.

    Wie oft saß ich vorm Bildschirm und dachte: "Mein Gott, Junge nun schalt doch mal einen Gang zurück, oder kuppel aus.", immer dann wenn Charlie, vielleicht zu sehr durch Wut und Zorn geleitet, in Kommentaren andere Menschen (oft viel zu harsch, ungerecht und beleidigend) anfuhr.

    Danke für Stefan Roses "paar Worte", denn sie bestätigten meine Annahme, das der Blogger Charlie und der Mensch ohne Namen eine viel komplexere Persönlichkeit waren, als sein Umgang mit vermeintlich Andersdenkenden in Kommentaren vermuten ließ.

    Seine Blogeinträge zu den täglich stattfindenden neoliberalen Sauereien dagegen fanden fast immer meine stille Zustimmung, bei ihm zu kommentieren verkniff ich mir, da ich glaubte zu wissen, das er auch meine Ansichten nicht teilen würde.

    Was mich sehr traurig stimmt, ist die Tatsache, das hier wieder einmal ein Mensch erst sterben musste, um endlich Frieden und Ruhe zu finden.

    Ein vermutlich körperlich ziemlich kranker (wie sehr krank weiß ich nicht) und mitgenommener Mensch, der dazu täglich den Drangsalierungen dieses unmenschlichen Hartz-Systems ausgesetzt war, der seine Selbstbestimmung durch eine Eingliederungsvereinbarung aufgeben musste, damit er weiterhin existieren konnte, von wirklich "leben können" weit entfernt. Was er selbst einige Male kurz ansprach.

    Dessen Zorn und Wut ich in dieser Hinsicht vollständig teile und unterstütze.

    Die Über-Lebensbedingungen (Krankheit, Hartz), die Charlie ertragen musste, denen Millionen Menschen in Deutschland ebenfalls ausgesetzt sind, haben ihn als Blogger und Kommentator vermutlich "radikaler" erscheinen lassen, als er selbst vielleicht war und sein wollte.

    Es wäre ein Zeichen von Menschlichkeit, die politischen Differenzen, die persönlichen Befindlichkeiten für ein paar Momente außer Acht zu lassen und einem verstorbenen Menschen im Stillen, jeder für sich, ein klein wenig Achtung entgegen zu bringen.

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  6. Hi Leute,

    ich bin entsetzt und traurig ob dieser Nachricht. Der arme Charlie. Mir fehlen die Worte.

    Ich habe es erst heute erfahren. Leider. Ich mochte ihn sehr und schrieb ihm ab und zu mal per Email und altmodischer Post. Zu einem persönlichen Treffen kam es leider nie.

    Kann ich mit jemanden in Kontakt treten der mir etwas über Beerdigung / Kondolenzmöglichkeiten sagen kann? Danke!

    In Trauer,
    Schirrmi

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    1. In den Kommentaren des altautonomen zu Charlies letztem Beitrag findest du schon einige Infos. Falls er nichts dagegen hat, könnte ich dir seine Mailadresse schicken. Ich würde ihn aber erst fragen, möglicherweise ist er gerade schon recht eingespannt.

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    2. Hi Stefan,

      ja, vielen Dank!

      Liebe Grüße,
      Schirrmi

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  7. Der Ort, an dem Charlie gefunden wurde, lässt für mich den Rückschluss zu, dass es sich um keinen Freitod gehandelt haben dürfte - offenbar hat ihm sein Körper diese Kraftanstrengung abgenommen.

    "So löse ich mich auf und komme mir abhanden."
    http://narrenschiffsbruecke.blogspot.de/2015/10/zitat-des-tages-uber-das-altern.html

    Die Lebenden werden die Toten beneiden, mark my words.

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  8. Harri: Es war eindeutig ein natürlicher Tod aufgrund seiner extrem ungesunden Lebensweise und dem Zustand nach Herzinfarkt. Warum er am Tag des Sturmes draußen war, weiss ich nicht.

    Schirrmi hat meine e-Mail-Adresse.

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  9. promenadenmischung22. Januar 2018 um 20:06

    Bin auch geschockt – kannte ihn noch nicht so lange. Hinter seiner vordergründigen Bitterkeit lag viel Menschlichkeit. Oder wie ich es aus einem angelsächsischen Film leicht abgewandelt zitieren möchte: This was a sweet and unhappy man. RIP Charlie ;-)

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  10. Kaum liest man sich mal nicht durch die blogs, schon stirbt wieder einer weg. Das ist nicht gut. Mehr Bezug, wie bei einigen Kommentarwechseln und die meist nicht der gleichen Ansicht, hab ich zwar nicht zu dem Mann gehabt, - aber trotzdem. Ich mochte ihn. Shit.

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