Samstag, 20. Oktober 2018

Grenzerfahrungen in der Konsumgesellschaft (16)


In der Warteschlange an der Discounterkasse vermögen sich mitunter Welten aufzutun. So sprang mich heute die dort ausliegende Meistverkaufte der Nation mit der Headline an, Bestsellerautorin Charlotte Link gönge auf Merkel los. Hui, dachte ich, gedenken da am Ende zwei nicht mehr ganz juvenile Damen sich im Schlammcatchen zu üben? Nein, erfuhr ich näheren Blickes, die Unterhaltungsliteraturschreiberin, hieß es dort, sei der Meinung, es habe 2015 einen immensen Kontrollverlust gegeben, will heißen: Sie findet Merkels Flüchtlingspolitik eher nicht so gut. Nähere Recherchen meinerseits haben ergeben, dass die Lady am Vorabend zu Gast beim servilen Markus Lanz war und dortselbst die hoch originelle Einsicht zum Besten gab, wer nicht 100 Prozent auf Merkels Willkommenstrip sei, gölte als rechts außen.

Abgesehen davon, dass solcher Mumpitz schon 2015 falsch war und ich mir ganz kurz Sorgen machte, wann dieses offenbar altersbedingte Abkippen ins Labern miefelnden Mülls bei mir dereinst einsetzen würde, wirkte die Schlagzeile letztlich doch beruhigend auf mich. So wie vor einigen Jahren, als ich der in blattypischen Riesenlettern gehaltenen Meldung gewahr wurde, irgend ein für irgendwas prominentes C-Promi-Sternchen habe das Geständnis abgelegt, sich die Lippen hat aufspritzen zu lassen. Da dachte ich nicht: Was für ein überflüssiger Müll! Nein, ich dachte: Ach schön, es ist heute wohl nichts wirklich Schlimmes passiert auf der Welt.

Parallel dazu könnte man hier sagen: Fein, alle Unkenrufe der Rechten vom Untergang des Abendlandes sind auch nach nunmehr dreieinhalb Jahren nicht eingetreten. Also muss ein Blatt, das sich seinem Geschreibsel zufolge offenbar als "Vorfeldorganisation der AfD" (Spreng) begreift, mit immer lächerlicheren Meldungen versuchen, den rassistischen Pott irgendwie am Kochen zu halten. Zumal das Abiturienten-Schwesterblatt letztens mit der Meldung dazwischengrätschte, die Deutschen fänden Zuwanderung insgesamt halb so wild und hätten eine Menge dringlicherer Probleme. Beruhigend.

Dann war da noch die Erkenntnis, dass die allgemeine Verwitzspruchung der Welt eine neue Stufe der Eskalation erreicht hat. Hier war ja schon vor einiger Zeit die Rede von einer Gebrauchsgüterindustrie, die sich augenscheinlich auf die Fahnen geschrieben hat, nicht eher zu ruhen, bis noch der letzte Gegenstand, der letzte freie Quadratmeter Wand mit irgendeiner ‚voll witzigen‘ oder pseudotiefsinnigen Sentenz bedruckt ist. "Gähnen ist ein stummer Schrei nach Kaffee." Haha. "Lebe jeden Tag, als sei es dein letzter." Aha. Nö, lass mal. "Solange mein Chef so tut, als würde er mich bezahlen, tue ich so als würde ich arbeiten." So funny because it‘s true!

Nun möchte ich die Gelegenheit nutzen, eine Lanze für den witzigen Spruch zu brechen. Ein guter, wirklich witziger und/oder geistreicher Spruch vermag einem den Tag zu verschönern, einen ein wenig zu versöhnen mit dem Leben und ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Wie damals, als ich auf einem Klo an der Uni in der Nähe der theologischen Fakultät sah, wie einer, der sich offenbar gerade Erleichterung verschafft aber ungenannt bleiben wollte, sich mit den Worten "ONAN WAS HERE" an der Wand verewigt hatte. Richtete sich zwar an ein Fachpublikum, aber gefiel mir. Auch Sprüche über Katzen müssen nicht zwingend doof sein, wie ich erst kürzlich gelernt habe. Und natürlich finden verschiedene Menschen verschiedene Dinge lustig, keine Frage.

Die schiere Menge ist das Problem. Wie man inzwischen in so ziemlich jedem Lebensbereich mit irre lustigen Sprüchen und Instantweisheiten molestiert wird, von denen die allermeisten die gedankliche Tiefe eines Häschenwitzes nicht unterschreiten, als habe die ganze Welt einen Abreißkalender gefrühstückt. Wie früher auf den Familienfeiern Onkel Erwin immer. War schon leicht tüddelig und haute immer dieselben Sprüche raus, die schon 1935 nicht mehr lustig waren. Nach dem dritten Aufgesetzten gab er bei jeder unpassenden Gelegenheit noch seinen Fundus aus drei lateinischen Lebensweisheiten zum Besten, weil er zu Jugendzeiten mal ein Gymnasium von innen gesehen hatte. Man mag sich nicht ausmalen, für wie viele Alkoholikerkarrieren die Onkel Erwins dieser Welt verantwortlich sind, weil die sensibleren Naturen unter den unfreiwilligen Zuhörern es nur noch im Suff ertragen haben.

"Millionen Fliegen irren bekanntlich nicht, während gerade bei austauschbarer Massenware die Individualität stets betont wird." (dame.von.welt)

Was da noch lästig war, ist heute ein Geschäftsmodell. Mit T-Shirts und Tassen fing es an. Weil einen Spruch Gassi zu führen mal als Ausdruck von Individualität galt. Mit Wandtattoos und mit 'Hammersprüchen' vollgemüllten WhatsDepp-Accounts ist noch lange nicht Schluss. Jetzt haben sie sich Adventskalender vorgenommen. Ja, richtig, Adventskalender, jene Resterampen der schokoladenverarbeitenden Industrie, von denen man immer gedacht hatte, sie seien bloß was für Kinder. Weit gefehlt! Nachdem der Versuch, via orientalisch gestalteter Adventskalender mit Moscheeaufdruck die Scharia in deutsche Wohnstuben zu wanzen, dank aufmerksamer Facebook-Trottel gerade noch vereitelt werden konnte, werden Adventskalender nunmehr mit Bürokalendersprüchen verwitzelt.

Aha.
Interessiert keine Katze.

Und massenhaft verkauft werden. Wir sind alle Individuen!





1 Kommentar :

  1. Oh, Sonnabends keine Schokolade? Was für ein Beschiss, oder ist das eisern-asketische Selbstdisziplin? Eine Übung in Aufmerksamkeit? Egal, diese Motivations- und Besinnungssprüche, die tiefen Weis- und Wahrheiten gehen mir auch ganz gewaltig auf den Senkel. Man könnte direkt schlechte Laune kriegen davon...

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