Ob diese Welt eine bessere wird, wenn gar niemandem mehr irgendwo ein böses Wort entfleucht, wage ich zwar zu bezweifeln, aber schön, nehmen wir’s einfach mal an. Hypothetisch. Wenn dem so wäre, dann erscheint das absurde Theater, das momentan um Annalena Baerbocks 'N-Wort'-Oopsie veranstaltet wird, noch ein Stück absurder. Ich bin absolut kein Fan der Grünen und auch nicht von Baerbock, so viel vorweg. Aber ich verstehe das nicht. Als antirassistischer Aktivist müsste ich doch sehen, dass außer Teilen der Linken es gerade die Grünen sind, die, Boris Palmer hin oder her, von allen Parteien mit Perspektive auf Mitreden beim Regieren noch die klarste antirassistische Agenda auf dem Zettel haben. Die Kandidatin exakt dieser Partei nun wegen eines ärgerlichen Versprechers wegzumobben, der allenfalls eine gewisse Nachlässigkeit offenbart, aber bestimmt nicht tiefsitzenden Rassismus, zeugt von Unreife und genereller Politikunfähigkeit.
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Olympisches
Sport, so geht die fromme Mär spätestens seit dem Neustart der Olympischen Spiele 1896, wirke sich versöhnend und völkerverbindend aus. Menschen, die in fairem Wettkampf gegeneinander anträten, heißt es, schlügen sich auf dem Schlachtfeld nicht die Köppe ein. Das war schon in der Antike Blödsinn und auch in der Neuzeit nutzten Bösnickel aller Art die Olympische Bühne für den großen Auftritt. Ganz zu schweigen von diversen Olympia-Boykotten, z.B. 1980 und 1984. Aktuell scheinen die Judokas Mohammed Abdarasool (Sudan) und Fethi Nourine (Algerien) den Olympischen Gedanken intellektuell besonders gründlich durchdrungen zu haben. Sie weigerten sich, gegen den Israeli Tohar Butbul anzutreten und wurden disqualifiziert. Darf man aber nicht so eng sehen. Ist kein Antisemitismus, sondern vermutlich bloß total legitime Kritik an der Politik der israelischen Regierung.
Oder liegt es eventuell an dem, was ein freundlicher judokundiger Kommentator bei der Rundschau meinte?
"Tohar Butbul Weltrangliste Platz 7 - 4886 Punkte - direkt qualifiziert. Fethi Nourine durfte nur über die »continental quote« an den Spielen teilnehmen. Seine Chancen gegen Tohar Butbul zu gewinnen, waren bei seiner bisherigen Erfolgsbilanz sehr gering. Nachdem Fethi Nourine schon bei der WM 2019 nicht gegen Tohar Butbul antrat, wundert es mich doch sehr, dass er überhaupt teilnehmen durfte. Mohamed Abdalrasool steht auf Platz 469 der Weltrangliste mit 16 Punkten. Er gab an, dass er wegen einer Schulterverletzung nicht antreten konnte. Da Schulterverletzungen im Judo sehr häufig sind, sollte man ihn nicht unbesehen auf eine Stufe mit Fethi Nourine stellen."
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Haben Sie auch so gejubelt, als die deutschen Turnerinnen in schicken langen Hosen angetreten sind und so, beabsichtigt oder nicht, ein starkes Zeichen gesetzt haben gegen beinlose Trikots, das Patriarchat, Objektifizierung und andere sexistische Kackscheiße? Fun fact: "Die Outfits der Deutschen entsprechen den Garderobenregeln des Internationalen Turnverbands." (Jan Göbel) -- Na dann. Nun gut, ich verstehe eh nicht, mit welchem Recht man im 21. Jahrhundert in einer einigermaßen aufgeklärten Gesellschaft Frauen vorschreiben sollte, mehr Haut zeigen zu müssen als ihre männlichen Kollegen. Es sagt einiges, dass 2004 der Kamerunischen Fußball-Nationalmannschaft körperbetonte einteilige Trikots beim Africa Cup verboten wurden, Beachvolleyballerinnen aber 2021 noch verdonnert werden, mit absurden Minifetzen aufzulaufen.
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Je irrelevanter sie wird, desto freier dreht die Querdenkerszene. Jens Berger hat recht: Die Impfdebatte entgleist. Und zwar komplett. Zur Erinnerung, Berger: Faschismus ist, wenn Faschisten die Macht übernehmen. Und dann ein Programm umsetzen, dessen wesentliche Elemente sich u.a. bei Umberto Eco nachlesen lassen. Faschismus ist es bestimmt nicht, wenn laut darüber nachgedacht wird, ob vollständig Geimpfte evtl. ein paar Erleichterungen bekommen sollten. Und das hat auch nichts mit 'Apartheid' zu tun. Apartheid bedeutet, Menschen aufgrund eines Kriteriums, für das sie nichts können (Hautfarbe), zu separieren und systematisch zu benachteiligen. Dafür, nicht geimpft zu sein, kann man aber was.
Was ist so irre sozial oder human daran, eine ganze Gesellschaft die Dummheit, Ignoranz, Faulheit und/oder Verpeiltheit jener ausbaden zu lassen, die sich aus freien Stücken entscheiden, sich nicht impfen zu lassen? Es wird niemand gezwungen. Aber man möge dann eben auch bitte mit den Konsequenzen seiner Entscheidung klar kommen. Ich kenne übrigens keinen Geimpften, der ernste Probleme hatte wegen der Impfung. Das ist natürlich kein Argument. Dass es keine Pandemie sein könne, da man ja niemanden mit schlimmem Verlauf kenne, aber auch nicht. (Ich kenne übrigens jemanden, der einen schweren Verlauf hatte. Nicht schön.)
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Noch ein kleiner Denkanstoß für alle, die finden, der Katastrophenschutz sei früher irgendwie besser gewesen. Das wird tatsächlich so gewesen sein. Bis 1989/91 ging man ja in Ost und West andauernd von der Gefahr einer Invasion des Warschauer Paktes ("Die Russen kommen!") bzw. der NATO aus und hielt entsprechende Mittel und Infrastruktur vor. (Glaubt jemand ernsthaft, der Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet wurde allein aus sozialen Gründen mit Milliarden subventioniert? Aus Solidarität mit den Kumpeln? Hand hoch!). Der Laden musste so lange wie möglich laufen, auch wenn ringsum schon die ersten Atombomben hochgingen. Nach dem Ende des Kalten Krieges fand man vieles überflüssig und machte das, was Kapitalisten immer machen: Zusammenstreichen und Einsparen. Kosten minimieren. Rächt sich jetzt.
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