In der Grundschule war ich gar nicht mal schlecht in Mathe. Ich hatte bloß wenig Bock darauf und ließ das schleifen. Warum? Mein Mathematikunterricht hatte mit Mengenlehre begonnen. Ich war aber anderes gewohnt. Im Kindergarten hatten die Erzieherinnen mit uns einfache Rechenaufgaben geübt. Mit den Fingern. Ich stellte mich gar nicht ungeschickt an, so das einhellige Urteil. In der Schule bekamen wir dann plötzlich der Kinderkram mit den komischen bunten Plättchen. Was sollte der Blödsinn mit der 'Lösungsmenge'? Dass zwei Äpfel plus drei Äpfel fünf Äpfel ergaben, wusste ich. Konnte ich wie aus der Pistole geschossen. Wieso jetzt das mit den komischen Mengenkreisen und Schnittmengen und so? Erschloss sich mir nicht.
Als ich auf dem letzten Halbjahreszeugnis eine Vier hatte und die Lehrerin milde warnende Worte verlor, versprach mein Vater mir eine sehnlichst gewünschte Lok für meine, nein, unsere Modelleisenbahn, wenn ich im Sommer eine Drei schaffte. Ich hing mich rein und stand am Ende tatsächlich mit einer Drei auf dem Zeugnis da. Und bekam die Lok. Also verließ ich die Grundschule gen Gymnasium im sicheren Bewusstsein, einigermaßen gerüstet zu sein für das, was da kommen sollte. Narr, der ich war!
***
Von Klasse 5 bis 9 hatte mir das Schicksal zwei blutige Berufsanfänger als Mathelehrer zugelost. Der erste war komplett mit allem überfordert und würgte mir gleich zu Beginn die erste Fünf meines noch jungen Lebens rein. Seine heißen Tipps am Elternsprechtag: Ich müsse halt "mehr tun", mich "mehr bemühen", mich "mal anstrengen". Aha. Als meine Mathenoten nicht besser wurden, musste ich ab Klasse sechs mit ein paar Leidensgenossen einmal pro Woche eine Stunde länger in der Schule bleiben und einen Kurs 'Mathe Ergänzung' machen. Die dort eingesetzte Lehrkraft fand die ganze Veranstaltung offenbar unter ihrer Würde, brüllte gern mal herum und verströmte noch größere Bocklosigkeit als wir. Wie sich das insgesamt auf unsere Motivation und auf meine Leistungen auswirkte, mag ein jeder sich ausmalen.
Wie die Schule damit umging? Man ließ eine Art natürliche Selektion ihr Werk tun. Ließ das mehr oder minder so laufen. Es waren schließlich die geburtenstarken Jahrgänge. Wer mitkam, kam eben mit, und wer nicht, der war halt zu doof fürs Gymnasium und musste schlimmstenfalls, so die permanente Drohkulisse, zur Hauptschule. Man konnte schließlich nicht jeden Dödel mit durchziehen. Mehr als einmal war die Rede davon, mich von der Schule zu nehmen. Mein Glück war wohl, dass ich in Latein nicht unbegabt war. Unser Lateinlehrer mochte mich, sah meine Potenziale und hatte großen Einfluss im Kollegium.
"Viel zu häufig sehen sich Lehrkräfte vor allem als Selektierer, geht es vor allem darum, Matheunkenntnis zu attestieren und dann dem Lernunwillen (»Faulheit«) oder Unverständnis (»Dummheit«) der Schüler*innen zuzuschreiben. Dass bei einem so weit verbreiteten Problem aber der Kern systemisch sein muss, ist eine Erkenntnis, um die sich die Zunft beharrlich drückt.
Das Ganze wird dadurch nicht besser, dass eine Generation nach der anderen durch diesen Blödsinn geschleust wird und vor allem die Erfahrung weitergeht, »in Mathe auch schlecht gewesen« zu sein. Eine 5 in Mathe ist gesellschaftlich viel akzeptierter als eine 5 in Deutsch, eine 5 in Physik viel mehr als eine 5 in Religion. Das ist eine merkwürdige Mischung aus Hochachtung einerseits und Missachtung andererseits." (Stefan Sasse, 2023)
(Fürs Protokoll: Meine geschilderten Erfahrungen datieren aus den frühen 1980ern.)
***
Dabei strengte ich mich ja durchaus an. Bei den Mathehausaufgaben gab es daheim teils tränenreiche Dramen bis in die Nacht, bald hatte ich einmal pro Woche Nachhilfeunterricht. Trotzdem kam ich von meiner Fünf einfach nicht runter. Es war immer dasselbe: Bis zu einem gewissen Punkt verstand ich das durchaus, aber irgendwann streike mein Hirn. Zuverlässig.
Die zweite Berufsanfängerin, die ich in Klasse 7 und 8 hatte, legte eigentlich einen guten Start hin mit mir, wie ich fand. In Klasse 7 stand zunächst Geometrie auf dem Lehrplan. Und das konnte ich. Was in meinem Fall hieß, ich schrieb nicht andauernd Fünfen, sondern plötzlich Vieren und sogar mal eine Drei. Ich konstruierte Winkel, Dreiecke und fand mich sogar halbwegs in Koordinatensystemen zurecht. Die Sonne ging auf. In Klasse 8 dann kam Algebra dran und ich war raus. Denn das war mein Problem: Im Rechnen war ich nicht übel, in Mathematik war ich eine Null. Sobald es abstrakt wurde, war Ende.
Herr D., den ich in Klasse 9 bekam, war der erste Mathelehrer, der den Ernst der Lage erkannte und sich wirklich um mich bemühte. Leider vergeblich. Es waren in den vergangenen Jahren zu viele Züge abgefahren. Ich erinnere mich, wie er mich ich eines Tages nach einer Mathestunde beiseite nahm. Er hatte einen, wie er sagte "ganz simplen" Beweis an die Tafel geschrieben und meinte, keineswegs autoritär, eher verzweifelt zu mir: "Ich kann absolut nicht nachvollziehen, dass du das nicht verstehst! Das hat so eine Logik, so eine Klarheit. Das erschließt sich doch auf den ersten Blick." Tat es nicht. Mir schwebte eine Denkblase über dem Kopf mit einem prächtigen Bahnhofsgebäude drin.
Irgendwann gab er’s auf und für den Rest meiner schulischen Laufbahn die Marschroute aus: Sieh halt zu, dass du nicht in eine Sechs abrutschst. Und so tat ich. Bis zum Schluss. Die Dauerfünf in Mathe verhagelte mir zwar den Abiturschnitt etwas, aber das war mir egal.
***
Der langen Rede kurzer Sinn: Ich war von Klasse 5 bis Klasse 13 trotz erheblichen Aufwands fast durchgehend schlecht in Mathe. Richtig schlecht. War oder bin ich stolz darauf? Eher nicht. Zu Schulzeiten hatte ich mich irgendwann damit arrangiert. Niemand bekommt das gern alle paar Wochen schriftlich aufs Butterbrot, wenn mal wieder eine Arbeit anstand. Also imprägnierte ich mich dagegen, indem ich sagte, ich sei eben eine komplette Niete in Mathe, ich könne halt andere Dinge gut, jeder habe so seine Stärken und Schwächen.
Fun fact: Knapp 20 Jahre später stand ich vor dem Problem, jungen Menschen berufsbezogenes Rechnen beizubringen. Dreisatz, Prozent, Verteilung, Flächen, Volumen. Zu meiner nicht eben gelinden Überraschung bereitete mir das keinerlei Probleme. Es ging ja um Rechnen. Mit Größen, unter denen ich mir etwas vorstellen konnte. Außerdem konnte ich mich als ehemaliger Mathe-Totalversager wunderbar in die Boys und Girls hineinversetzen und fühlte mit ihnen. Ich konnte ihre Verzweiflung verstehen, wenn sie mal wieder nur Bahnhof verstanden, denn ich hatte das selbst erlebt.
***
Und das alles bringt mich nun sehr schön zu dem Video des Paderborner Mathematikprofessors Bernhard Krötz, das kürzlich die Runde machte. Krötz vergleicht darin einen indischen Studieneingangstest für Mathematik mit einem chinesischen und hält dem den aktuellen Sek II-Kernlehrplan für Mathematik in Nordrhein-Westfalen entgegen.
(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)
Das Ergebnis ist niederschmetternd. Der Vergleich des indischen Tests mit dem deutschen Lehrplan ist ungefähr so, als ließe man einen Formel 1-Wagen gegen einen Aufsitz-Rasenmäher aus dem Baumarkt antreten. Die propagandistische Stoßrichtung des ganzen ist klar: Deutsche Schüler sind verzärtelte, disziplinlose Dummbatze, die demnächst von leistungsgeilen Asiaten von allen Seiten überholt werden. (Fun fact: Das werden sie seit Jahrzehnten, die Welt steht immer noch.)
***
Natürlich sind die Unterschiede eklatant. Der indische Test könnte für mich auch auf Swahili oder Urdu sein, meine Chancen, auch nur eine Aufgabe zu lösen, wären keinen Deut größer oder kleiner.
Und ja, man kann das ganz große historische Rad drehen. Etwa vermuten, dass im deutschen Bildungsbürgertum nach wie vor ein Affekt gegen naturwissenschaftliche Bildung spürbar ist. Gymnasium, das war einst nur das humanistische Gymnasium, wo die künftigen Eliten für Staat und Justiz herangezogen wurden, indem man den jungen Herren vor allem Latein und Altgriechisch beibrachte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts zeigte sich, dass das nicht reichte für den Bedarf der für die Volkswirtschaft immer wichtiger werdenden Industrie. Also wurden naturwissenschaftliche, einst so genannte 'Realgymnasien' eingerichtet. Die galten lange als Gymnasien zweiter Klasse und wurden mit entsprechendem Dünkel betrachtet. Ein Abitur von dort galt lange nicht als 'richtiges' Abitur.
Das dürfte sich aber inzwischen weitgehend weitgehend erledigt haben. Zumal ja deutsche Schüler, wie wir in dem Video ebenfalls erfahren, vor nicht sooo langer Zeit, also etwa Anfang der 1970er, mathematisch angeblich deutlich mehr konnten. Weil dies damals noch viel stärker ein Industrieland war als heute.
Denn ich habe da eine Vermutung.
Ohne die weiter oben geschilderten Probleme der deutschen Mathematikdidaktik klein- oder gar wegreden zu wollen, würde ich behaupten, bei dem von Krötz beklagten Phänomen handelt es sich um ein für postindustrielle Gesellschaften typisches, keineswegs jedoch spezifisch deutsches. Als 2018 zuletzt im Rahmen einer PISA-Studie Mathematikkenntnisse überprüft wurden, landeten deutsche Schüler knapp oberhalb des OECD-Schnitts. Man müsste das Problem also zumindest auf Europa ausdehnen.
***
Auffallend auch, dass der Prof ein interessantes Detail zwar erwähnt, aber nicht weiter ausführt: Der deutlich niedrigere Schwierigkeitsgrad des chinesischen Tests im Vergleich zu dem indischen. Wie oder womit erklärt er das? Sind chinesische Jugendliche am Ende auch dümmer und fauler als indische? Wohl nicht. Wir erfahren es auch nicht. Denn das würde möglicherweise seinen kulturpessimistischen Ansatz kaputt machen. Denn mit nichts lässt sich von jeher so zuverlässig punkten wie mit der Gebetsmühle von der faulen, zuchtlosen Jugend, mit der es jetzt aber endgültig so was von bergab geht.
Sagen wir so:
Angewandte und höhere Mathematik sind hochgradig relevante Disziplinen in industrialisierten bzw. sich industrialisierenden Gesellschaften. Die Bedeutung, sie zu beherrschen, dürfte mit dem jeweiligen Industrialisierungsgrad korrelieren. Wer gut Mathe kann, hat seit der industriellen Revolution die Chance, es auch aus kleinen oder kleinsten Verhältnissen zu etwas zu bringen. Das ist ein Grund, warum junge Menschen zum Beispiel in aufstrebenden ostasiatischen Ländern, die teils noch mitten im Industrialisierungsprozess stecken, oft so hervorragende Mathekenntnisse und einen entsprechenden Ehrgeiz haben. Bei der nachholenden Industrialisierung ist China bereits deutlich weitergekommen als Indien, was sich dann eben auch am im Vergleich niedrigeren Schwierigkeitsgrad des Studieneinstiegstests ablesen lässt.
Auch wenn nach wie vor Forschung und Entwicklung stattfindet, haben postindustrielle Gesellschaften mit schrumpfender Industrie und wachsendem Dienstleistungssektor in der Breite weniger Bedarf an mathematisch-naturwissenschaftlich top ausgebildetem Nachwuchs. Oft werden Mathematiker und Ingenieure importiert. Man profitiert davon, dass Gehälter sowie Arbeits- und Lebensbedingungen besser sind als in den Herkunftsländern.
***
Alles nicht so schlimm also? Kommt auf den Standpunkt an. Vollends gaga erscheint mir, wie eigentlich immer, jegliches apokalyptisches Gebarme von einem wegen eigener Doofheit und Dekadenz zum Untergang verdammten Deutschland. Wenn, dann muss man das wenigstens auf die europäische Ebene hieven. Und da sind deutsche Schüler, zumindest wenn man PISA trauen kann, nicht gar so hoffnungslos. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ferner kann man noch folgendes einwenden: Mathe können hat mitunter auch einen emanzipatorischen Wert. Kann helfen, etwa ökonomische Zusammenhänge zu verstehen, die ausbeuterischen Verhältnisse zu durchschauen, die der Kapitalismus uns zumutet. Das mag sein, nur braucht es dafür zunächst keine höhere Mathematik. Ein wenig grundlegendes Rechnen reicht vollauf für den Anfang. Und selbst wenn, schützt einfach nur gut in Mathe zu sein einen erst einmal vor gar nichts. Die Länder, die uns regelmäßig als mathematische Musterländer vor die Nase gehalten werden, machen eher selten als antikapitalistische Hotspots von sich reden.
Die Situation der postindustriellen Gesellschaften ähnelt der Prognose cyberpunkscher Literatur.
AntwortenLöschenEin Beispiel dafür die Darstellung einer URL statt in Textform oder gar nur Nummernfolgen mit einem bequemen QR Code.
Ebonso Emoticons statt schriftlicher Aufführung des Befindens.
... du kannst einem schon den Abend versauen!
AntwortenLöschenDanke für den Flashback, haste kein anderes Thema?
Mannmannmann.
Gruß
Jens
Ha - Abend versaut, Job done!
LöschenJa. So war das Anfang der Achtziger. Auf Gymnasien. Bei mir war's Niedersachsen. Genau. So. Im Gegensatz zu dir hab ich allerdings in der Neunten kapituliert und die Segel gestrichen. Das war der Unterrichtendenschaft am dortigen Gymnasium nicht unrecht, verstand man sich doch als Kaderschmiede. In Niedersachsen unter Ernst Albrecht. Es hat nur an Mathe gelegen.
AntwortenLöschen