Was eine simple Schokoladentafel über gesellschaftliche Verhältnisse aussagen kann
Interessant, wer oder was hier im heimischen Ruhrpott so alles von der Montanindustrie abhing. Letztens zum Beispiel geriet mir ein altes Bild einer Tafel Novesia Goldnuss in den Blick. Und schon kam die Kindheit wieder hoch. Die 'Goldnuss' war eine für die damalige Zeit sehr edel in grün-goldener Pappe verpackte Schokolade. Besonderer Clou war ein Sichtfenster aus Zellophan, das den Blick auf ein Stück der Tafel und die darin enthaltenen ganzen Nüsse freigab. Hier wird nicht geschummelt, sollte das wohl bedeuten. Auf jeden Fall aber: Das ist was besonderes, was anderes als die sandige Blockschokolade, die man mit dem Hammer essen muss. Eine Zeitlang gab es sogar die 'Garantie 27'. Wer weniger als 27 ganze Nüsse in der Tafel vorfand, konnte sie zurückschicken und bekam Ersatz plus Porto in Naturalien.
Der Neusser Hersteller, der sich nach dem lateinischen Namen für das antike Neuss (Novaesium) benannt hatte, war irgendwann auf die Idee gekommen, die teuren Tafeln auch in Kneipen zu verkaufen, was sich als goldrichtige Entscheidung erwies. Waren die hart arbeitenden Kumpel mit den Schwielen an den Händen und dem Kohlenstaub in den Lungen etwa heimliche Süßmäuler? Mitnichten, die blieben bei Bier, Korn und Frikadellen ('Bremsklötze' bzw. 'Löwenköttel'). Novesia Goldnuss war im Ruhrgebiet bekannt unter dem Namen 'Drachenfutter'. Das hatte nichts mit 'Game Of Thrones' zu tun, sondern folgenden Hintergrund:
Wer früher auf dem 'Pütt', auf der Kokerei, im Hütten-, Stahl- oder Walzwerk arbeitete und sich für die Maloche ein wenig schadlos halten wollte, indem er sich mit den Kumpels einen trank/pitschte/brannte/fegte/… hatte dazu nicht viel Gelegenheit. Zwar wurde natürlich auch werktags getrunken, doch war man gut beraten, es nicht zu übertreiben. Kam man früh um fünf allzu angegriffen oder gar restalkoholisiert zur Frühschicht, konnte es passieren, dass der Steiger oder Vorarbeiter einen nicht einfahren ließ und wieder nach Hause schickte. Das bedeutete eine unbezahlte 'Bierschicht', im Wiederholungsfall konnte der halbe Wochenlohn einbehalten werden. Für die damals ohnehin schon knappen Haushaltsbudgets der meisten Bergleute eine Katastrophe.
Daher hatten oft die Frauen ein scharfes Auge auf den Alkoholkonsum ihrer Männer. Legion sind im Ruhrgebiet die Geschichten, wie sie am allwöchentlichen Zahltag an den Zechentoren auf ihre Männer lauerten, um den Großteil des bar ausgezahlten Lohnes zu konfiszieren, damit sie nicht gleich alles versoffen. Überhaupt waren längst nicht alle Ehen Liebesheiraten, sondern eher Zweckgemeinschaften. Die Löhne waren so kalkuliert, dass sie zum Leben nicht ausreichten und die Frauen nebenher noch ein Stück Land bewirtschaften mussten. Das wurde, wie das halbe Zechenhaus, auch von den Bergwerksgesellschaften vermietet. Die waren ferner die Verpächter der gemeinhin 'Büdchen' oder 'Bude' genannten 'Trinkhallen', von denen es hier immer noch viele gibt.
Dem Haussegen taten diese Verhältnisse nicht immer gut. Es kam durchaus vor, dass Bergleute noch nach dem Renteneintritt freiwillig leichte Arbeiten auf den Zechen erledigten, weil sie es den ganzen Tag mit der Frau nicht aushielten und sie bei der Arbeit ihre Ruhe hatten.
Um sich so richtig gepflegt einen einzuhelfen, blieb den Kumpeln und Malochern bei einer Sechstagewoche also nur der Samstagabend und der sonntägliche Frühschoppen zwischen Kirchgang (gerade die polnischstämmigen Bergleute waren meist katholisch) und Mittagessen um zwölf. So blieb genügend Zeit, den Rausch am Nachmittag auszuschlafen und man konnte montags wieder halbwegs fit zur Schicht erscheinen. Natürlich waren auch da die Frauen nicht begeistert, wenn die Männer am Sonntagmittag betütert aus der Kneipe kamen und den Rest des Tages auf dem Sofa verratzten. Und weil sie bei Novesia auf die Idee gekommen waren, ihre Goldnuss flächendeckend an Kneipen zu liefern, hatte es sich bald eingebürgert, der Gattin zwecks Besänftigung eine Tafel mitzubringen. Drachenfutter eben.
Der Niedergang der Firma Novesia verlief ziemlich parallel zu dem der Zechen im Ruhrgebiet und dem sozialen Aufstieg der Bergleute. 1980 war endgültig Schluss. Der Konkurrent Trumpf übernahm die Markenrechte und verkauft die 'Goldnuss' unter diesem Namen noch heute. Meist im Supermarkt.
Interessant, wer oder was hier im heimischen Ruhrpott so alles von der Montanindustrie abhing. Letztens zum Beispiel geriet mir ein altes Bild einer Tafel Novesia Goldnuss in den Blick. Und schon kam die Kindheit wieder hoch. Die 'Goldnuss' war eine für die damalige Zeit sehr edel in grün-goldener Pappe verpackte Schokolade. Besonderer Clou war ein Sichtfenster aus Zellophan, das den Blick auf ein Stück der Tafel und die darin enthaltenen ganzen Nüsse freigab. Hier wird nicht geschummelt, sollte das wohl bedeuten. Auf jeden Fall aber: Das ist was besonderes, was anderes als die sandige Blockschokolade, die man mit dem Hammer essen muss. Eine Zeitlang gab es sogar die 'Garantie 27'. Wer weniger als 27 ganze Nüsse in der Tafel vorfand, konnte sie zurückschicken und bekam Ersatz plus Porto in Naturalien.
Der Neusser Hersteller, der sich nach dem lateinischen Namen für das antike Neuss (Novaesium) benannt hatte, war irgendwann auf die Idee gekommen, die teuren Tafeln auch in Kneipen zu verkaufen, was sich als goldrichtige Entscheidung erwies. Waren die hart arbeitenden Kumpel mit den Schwielen an den Händen und dem Kohlenstaub in den Lungen etwa heimliche Süßmäuler? Mitnichten, die blieben bei Bier, Korn und Frikadellen ('Bremsklötze' bzw. 'Löwenköttel'). Novesia Goldnuss war im Ruhrgebiet bekannt unter dem Namen 'Drachenfutter'. Das hatte nichts mit 'Game Of Thrones' zu tun, sondern folgenden Hintergrund:
Wer früher auf dem 'Pütt', auf der Kokerei, im Hütten-, Stahl- oder Walzwerk arbeitete und sich für die Maloche ein wenig schadlos halten wollte, indem er sich mit den Kumpels einen trank/pitschte/brannte/fegte/… hatte dazu nicht viel Gelegenheit. Zwar wurde natürlich auch werktags getrunken, doch war man gut beraten, es nicht zu übertreiben. Kam man früh um fünf allzu angegriffen oder gar restalkoholisiert zur Frühschicht, konnte es passieren, dass der Steiger oder Vorarbeiter einen nicht einfahren ließ und wieder nach Hause schickte. Das bedeutete eine unbezahlte 'Bierschicht', im Wiederholungsfall konnte der halbe Wochenlohn einbehalten werden. Für die damals ohnehin schon knappen Haushaltsbudgets der meisten Bergleute eine Katastrophe.
Daher hatten oft die Frauen ein scharfes Auge auf den Alkoholkonsum ihrer Männer. Legion sind im Ruhrgebiet die Geschichten, wie sie am allwöchentlichen Zahltag an den Zechentoren auf ihre Männer lauerten, um den Großteil des bar ausgezahlten Lohnes zu konfiszieren, damit sie nicht gleich alles versoffen. Überhaupt waren längst nicht alle Ehen Liebesheiraten, sondern eher Zweckgemeinschaften. Die Löhne waren so kalkuliert, dass sie zum Leben nicht ausreichten und die Frauen nebenher noch ein Stück Land bewirtschaften mussten. Das wurde, wie das halbe Zechenhaus, auch von den Bergwerksgesellschaften vermietet. Die waren ferner die Verpächter der gemeinhin 'Büdchen' oder 'Bude' genannten 'Trinkhallen', von denen es hier immer noch viele gibt.
Dem Haussegen taten diese Verhältnisse nicht immer gut. Es kam durchaus vor, dass Bergleute noch nach dem Renteneintritt freiwillig leichte Arbeiten auf den Zechen erledigten, weil sie es den ganzen Tag mit der Frau nicht aushielten und sie bei der Arbeit ihre Ruhe hatten.
Um sich so richtig gepflegt einen einzuhelfen, blieb den Kumpeln und Malochern bei einer Sechstagewoche also nur der Samstagabend und der sonntägliche Frühschoppen zwischen Kirchgang (gerade die polnischstämmigen Bergleute waren meist katholisch) und Mittagessen um zwölf. So blieb genügend Zeit, den Rausch am Nachmittag auszuschlafen und man konnte montags wieder halbwegs fit zur Schicht erscheinen. Natürlich waren auch da die Frauen nicht begeistert, wenn die Männer am Sonntagmittag betütert aus der Kneipe kamen und den Rest des Tages auf dem Sofa verratzten. Und weil sie bei Novesia auf die Idee gekommen waren, ihre Goldnuss flächendeckend an Kneipen zu liefern, hatte es sich bald eingebürgert, der Gattin zwecks Besänftigung eine Tafel mitzubringen. Drachenfutter eben.
Der Niedergang der Firma Novesia verlief ziemlich parallel zu dem der Zechen im Ruhrgebiet und dem sozialen Aufstieg der Bergleute. 1980 war endgültig Schluss. Der Konkurrent Trumpf übernahm die Markenrechte und verkauft die 'Goldnuss' unter diesem Namen noch heute. Meist im Supermarkt.
Auch heuer gibt es im Sommer hier ein paar Wiederholungen. Was Böhmermann und die Heute-Show können, kann ich schon lange. Dieser Beitrag erschien hier zuerst am 28. Mai 2019 und wurde bis auf die Überschrift nur minimal geändert.
Solange Kakaobohnen auf Bäumen wachsen, ist Schokolade in meinen Augen Obst. Hmmmmm.
AntwortenLöschenInteressanter Beitrag, mit Gewinn gelesen.
AntwortenLöschenDas freut mich, danke
LöschenSehr schön! Danke, für deine Einsichten!
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