Samstag, 5. September 2015

Zahn, Zeit und der Rest


Seien wir ehrlich: Älter zu werden ist ab einem gewissen Punkt scheiße. Ja, sicher, man gewinnt an Lebenserfahrung, wird abgeklärter, hat vielleicht nicht mehr dauernd das Gefühl, sich oder anderen was auch immer beweisen zu müssen, wenn man so drauf ist. Aber irgendwann fangen einfach die Nachteile an zu überwiegen. Andauernd zwickt es irgendwo, aber das ignoriert man nicht mehr so einfach, seitdem Gevatter Hein angefangen hat, seine knochige Hand auch nach der eigenen Altersklasse auszustrecken. Hoppala, kommt dieser ziehende Schmerz da im Schulterbereich jetzt von der etwas zu ambitionierten Runde schwimmen oder kündigt sich da etwa ein Infarkt an? Sollte man das nicht mal abklären lassen? Puh, schon drei Flaschen Wasser heute! Liegt das nur an den 35 Grad im Schatten, oder dräut da Diabetes?

Nun kann ich mich nicht wirklich beklagen, ich habe es insgesamt ganz gut getroffen. Nicht nur ich bin noch halbwegs beieinander, auch im engeren Umfeld gab es noch keinen Totalverlust zu beklagen. Eltern und Verwandtschaft unterhalb der längst verstorbenen Großelterngeneration sind größtenteils noch wohlauf. Werden zwar älter, weigern sich aber standhaft, klapprig zu werden. Schön. Trotzdem, wenn bei alten Freunden gleichen Alters, mit denen man die letzten Jahre, teilweise Jahrzehnte, gemeinsam durchs Leben gegangen ist, plötzlich von Krebsdiagnose die Rede ist oder von Dauermedikation, bekommt ein so dahergesagter Satz wie "Man wird eben älter" schon einen anderen Punch. Und über Sprüche wie den einer Schulfreundin, die sich als Hausärztin verdingt, dass wer mit über vierzig vom Arzt käme und nichts habe, im Zweifel nur nicht gründlich genug untersucht worden sei, kann man auch immer weniger lachen

Überhaupt, Ärzte, Gesundheitswesen! War mir damals klar, wie die Bande später einmal die Kralle aufhalten würde? Krone hier, Brücke da, Rezeptgebühr, Tagegeld, Zusatzversicherung. Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Kommet alle zu mir, die ihr arm seid und bedürftig! Nur zu, es trifft keinen Armen! Wenn's nach meinem Zahnarzt ginge, hätte es nicht schaden können, wenn ich schon mit zwanzig ganz spießig angefangen hätte, Sparverträge zu bedienen. Für später, wenn seine Stunde kommen würde.

Apropos: Nicht, dass jemand glaubt, ich wäre gern wieder zwanzig oder so. Um Himmels Willen! Mit zwanzig war ich ein verpeiltes, argloses, verklemmtes Jüngelchen, das deswegen völlig zu recht von einer wundervollen Freundin abserviert wurde (was heißt, ich konnte viel später durchaus verstehen, warum sie die Nase voll hatte von mir, inzwischen lachen wir beide darüber). Ich hatte keine Ahnung, wie die Welt sein kann und war so naiv, dass man mir alles hätte verkaufen können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nur die Tatsache, als Student nicht kreditwürdig gewesen zu sein, mich damals vor dem Schuldenturm bewahrt hat. Nein, danke.

35 hingegen wäre nett. Mit 35 ist man zwar nicht mehr wirklich jung, hat aber auch noch nicht so richtig mit dem Altwerden angefangen. Die Karkasse kann noch was ab, man kann mal einen draufmachen, ohne dass einem das noch drei, vier Tage später in den Knochen steckt. Auch das Gesundheitswesen hat normalerweise noch nicht allzuviel Grund, einen für alles mögliche zur Kasse zu bitten und bei denen, mit denen man gemeinsam so des Weges geht, sind die Einschläge noch ein wenig weiter weg.

Was soll's! Müßig, das. Nicht machbar. Wie bin ich eigentlich darauf gekommen? Ach ja: Letztens entspann sich unter Freunden und Bekannten eine Diskussion. Es ging darum, gemeinsam was zu unternehmen. Aber nicht mit allen. So hieß es dann irgendwann, man solle diesen und jenen nichts davon sagen, damit sie nicht gekränkt seien, diese habe man dazu eingeladen, diese hingegen nicht und so weiter. Irgendwann dachte ich nur noch: Wie weit sind wir eigentlich gekommen? Waren wir nicht mal eine der Generationen, die es anders machen wollte als die Alten, besser sogar? Unverkrampfter, nicht so förmlich? Die einigermaßen offen und ehrlich miteinander umgehen wollte? Die überhaupt offener sein wollte? Herzlicher? Spontaner? Und dann so ein Geschacher.

"Rock ’n’ Roll war das Ausbrechen aus einer zu engen Gesellschaft, einer Ordnung mit zu vielen Verboten. Nichts machte uns wütender als die Gebote unserer Eltern, Lehrer und Pfaffen. Sind mit Elvis und John Lennon auch die einstigen Ideale gestorben? Waren es vielleicht gar nicht die alten Rocker, die den neuen Kindermädchen-Staat installierten? Wer sind dann die Verräter der einstigen Ideologie? Etwa doch die privilegierten Achtundsechziger, die es quasi in der Minorität geschafft haben, alles in Grund und Boden zu reiten, was einem einst wertvoll erschien?" (Beda M. Stadler)

Wann fängt das an, dass Menschen ab einem gewissen, nicht näher bestimmbaren Alter zu beginnen scheinen, ziemlich genau so zu werden, wie sie als Jungspunde um keinen Preis der Welt werden wollten? Wann fängt man an, nur noch einen Ist-Zustand zu konservieren? Wann wird die eigene Wohnung, wie einst bei den Großeltern, zur nicht mehr sich ändernden Zeitkapsel, in der man langsam dem Exitus entgegenvegetiert? In der Geschichtsdidaktik gilt die Faustregel, etwa ab dem 25. Lebensjahr fingen Menschen an, historische Personen zu werden und mehr und mehr in der Vergangenheit zu leben. Ich glaube ja, es ist der Punkt, an dem die Mehrheit der einen umgebenden Leute anfängt, "was zu machen". Sport, Fitness, Diät, rauchen und/oder trinken abgewöhnen, gesund ernähren and all that jazz. 

Schneller Vorlauf, zwanzig Jahre später. Ich sehe mich mit derselben Blase zusammen sitzen wie heute. Wir sind zwar älter, grauer und schlaffer, aber noch leben alle. Seit einiger Zeit treffen wir uns immer nachmittags zu Kaffee und Kuchen, wie die Großeltern damals. Haben irgendwann für und rausgefunden, dass das gar nicht so übel ist. Ein Stück weit ironisch auch. Außerdem kommt man abends früh ins Bett. Wir tragen alle dieselben Klamotten wie spätestens mit dreißig, futtern dieselben Torten wie früher bei Oma und hinterher gibt’s Likörchen. Nur keinen pappsüßen selbstaufgesetzten mehr, sondern was aus dem Hofladen. Und dann die Gespräche! Krankheiten, Gebresten, Beerdigungen, Schmerzen. Und wie schön es früher war. Dieselben Witze wie früher, dieselben Themen wie früher, dieselbe Musik. Hach, weißt du noch, damals, auf dem Konzert?

Das ist ja das eigentlich Gruselige am Älterwerden. Körperlicher Verfall ist normal, der lässt sich vielleicht verzögern, aber nicht aufhalten, von niemandem. Genausowenig, wie absolut niemand dem Schnitter entgeht. Aber dieses geistige Älterwerden, das Stehenbleiben, das man nicht bemerkt, das schleichende Vermoosen, das langsame Peinlichwerden, das ist schon ein wenig erschreckend.

"Alles, was es schon gibt, wenn du auf die Welt kommst, ist normal und üblich und gehört zum selbstverständlichen Funktionieren der Welt dazu. … Alles, was zwischen deinem 15. und 35. Lebensjahr erfunden wird, ist neu, aufregend und revolutionär und kann dir vielleicht zu einer beruflichen Laufbahn verhelfen. … Alles, was nach deinem 35. Lebensjahr erfunden wird, richtet sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge." (Douglas Adams)

Ich meine, da liest man zum Beispiel einen Artikel, in dem es heißt, die Firma Harley-Davidson sei dabei, ein Elektromotorrad zu entwickeln und in absehbarer Zeit auf den Markt zu bringen. Nun bin ich jemand, der mit der Bikerszene weniger als nichts am Hut hat. Ich halte Moppedfahrer für verhinderte Autofahrer, die die zu geizig für eine Karosserie und die beiden restlichen Räder sind. Ich halte es für pubertär bis lachhaft, wenn ältere schmerbäuchige Herren sich Kutten anziehen, sich in Zweiradvereinen mit heiligem Ernst atavistisch-autoritären Verhaltenskodizes unterwerfen und auf ihren Lärmhobeln die Umwelt behelligen. Und ich kriege Reißzweckenphantasien, wenn dieser junggebliebene Harley-Fahrer mir den Sonntagnachmittag vollkracht (man braucht sonntags schließlich Ruhe als angehender Oppa). Man sollte also meinen, für jemanden wie mich könnte es keine bessere Nachricht geben als die, dass ich es noch erleben werde, dass immer mehr der lauten Eierfeilen ausgetauscht werden gegen dezent Surrende, oder?

Doch mitnichten! Weil ich unzweifelhaft dabei bin, ein alter Sack zu werden und Douglas Adams offenbar recht hatte, war mein erster Gedanke: Waaas, eine Harley, die nicht tuckert, bröddelt, bollert, dröhnt, phont, kartoffelt, öttelt, farzt und schiggert? Was soll das denn für eine Harley sein? Haben die gesoffen? Und gewartet und repariert werden die Dinger am Ende auch nicht mehr von ehrlichen Schraubern mit ölverschmierten Händen, die nach Werkstatt riechen, sondern von kitteltragenden, glattrasierten, genderneutralen Akademikern, die bloß noch Laptops anschließen, aber keinen Schraubenschlüssel mehr halten können, oder was? Geht doch nicht, so was!

Ich sags ja. Älterwerden. Nix für Feiglinge.




6 Kommentare :

  1. Naja, sieh's nicht ganz so schwarz. Da gibt es z.B. immer noch schöne schräge Sachen, bei denen man nicht gleich tonnenweise von Werbung für Ant-Aging-Produkte erschlagen wird. Ein wenig was Nostalgie darf ruhig sein. Wobei ich davon ausgehe, dass selbst der eigene Sohnemann bei Erreichen der eigenen Alterswehmut, diese zugenähten Kartoffelsäcke mit dem Schritt in den Kniekehlen, welche man den Kids heute als Jeans verkauft, das Größte war.

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    1. Moment, nicht dass der Eindruck entsteht, ich dächte, früher sei alles besser gewesen. Jeans sind in der Tat ein hervorragendes Beispiel: Die, die ich als Schüler/Student getragen habe, reichten gefühlt bis zum Bauchnabel. Die fashionable Renaissance der eher subventral sitzenden Hüftjeans habe ich sehr begrüßt - ich kann heute Größen tragen, von denen ich damals nicht geträumt hätte...

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  2. Berichtigung: .... "für" den eigenen Sohnemann

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  3. @Stefan
    Hihi, nene ich hab dich schon richtig verstanden :-) Aber beneath the way. Ich hab manchmal das Gefühl, dass sich diese Differenz zwischen jung und alt bzw. auch modern und Nostalgie, nicht mehr wirklich in Generationen, sondern Dekaden bis gar Jahren misst. Selbst so mancher alter Knochen, will sich nicht mal mehr an seine Jugend erinnern, sondern haut dir dieses "Grufti" schon bei Sachen um den Kopf, die gerade mal zwei Jahre alt sind.

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  4. Solange man sich stetig entwickelt, seinen Horizont vergrößert, seine Interessen gelegentlich eneuert - gibt es auch keinen Grund Angst vorm Älterwerden zu haben. Und wer (besonders als Frau) sein Selbstbewusstsein auch nicht aus dem Aussehen, sondern aus dem Charakter (be-)zieht, kann ruhigen Gewissens dem Alter ins Gesicht blicken.

    Das Grundproblem ist doch viel mehr unsere wirtschaftliche Ordnung, welche diese Angst erzeugt: nur das neue, frische, junge, unverbrauchte (Mensch-)Produkt soll konsumiert werden. Also fühlen sich besonders alte Menschen jenseits der 60 als unnütz und ungebraucht.

    P:S: Die Captchas nerven echt voll ab. Die funzen oft gar nicht oder sind fehlerhaft. Ist ein richtiger Krampf ein Kommentar durch zu bekommen..

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    1. Das bedaure ich zu hören und es tut mir auch leid. Leider zeigt die Erfahrung, dass ohne Captcha-Abfrage Spam-Aufkommen und die Präsenz von Clickbaitern sprunghaft ansteigt. Bei Wordpress fahren sie übrigens eine andere Spamschutz-Schiene. Da landet bei vielen Blogs alles auf Nimmerwiedersehen im Orkus, was irgendwie eine URL im Absender hat...

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