Dienstag, 26. Dezember 2017

Grenzerfahrungen in der Konsumgesellschaft (15)


Es gibt diese Momente, in denen Regression mit Macht sich meldet. Vor einigen Jahren etwa kaufte ich in einem größeren Fachgeschäft einigen Bürobedarf ein. In diesem Geschäft befindet sich auch eine Spielwarenabteilung, in der unter anderem Teile des Sortiments der Firma Revell feilgehalten werden. Ich war einer dieser Revell- und Airfix-Jungs und daher standen die halbe deutsche und britische Flotte bzw. Luftwaffe der Epoche WK II im Kinderzimmer Gewehr bei Fuß, maßstabsgetreu und in Plastik. Mit zunehmender Erfahrung immer akkurater bemalt, versteht sich. (Später, mit fortschreitender Pubertät, als Hormone die Lösungsmitteldämpfe verdrängten, als Mädchen und Musik den Miniaturkriegsschiffen und -fliegern langsam den Rang abliefen, wurde der Krempel mithilfe von Chinaböllern fachmännisch gesprengt.) Ob dieser, meiner Vergangenheit juckte es mich schon gewaltig in den Fingern, einen Bausatz zu erwerben nebst den nötigen Farben und mal zu sehen, ob ich die Frickelei und Malerei noch draufhabe.

Ähnliches musste wohl auch meinem Vater durchs Kleinhirn gerattert sein, als er vor Weihnachten äußerte, in triebe zum Fest der Wunsch nach einem Karton Fischertechnik um, womit er früher viel und gern hantiert habe. (Was Fischertechnik ist, liebe Kinder, das googelt ihr bitte selbst, der Onkel kann euch schließlich nicht immer alles abnehmen.) Und da begannen meine Probleme. Immer wieder erschreckend, wie komplett man bei Spielwaren aus der Übung kommen kann, wenn man kinderlos und auch sonst nicht mit jüngeren Neffen und Nichten versehen ist. Dann steht man da im Laden wie ein arger Rucksack und spürt im Geiste die Eselsmütze auf dem Haupte.

Früher, im spielwarentauglichen Alter, wäre mir das freilich nie passiert. Jedes Jahr im Oktober nämlich kam der sehnlichst erwartete Vedes-Katalog zu Weihnachten ins Haus. Den studierte ich im Hinblick auf die nahenden Festivitäten und auf den zu verfassenden Wunschzettel derart akribisich, dass ein Ordinarius für altorientalische Sprachen vor Neid schier erblasst wäre ob meines Detailwissens. Nach spätestens einer Woche war ich profunder Kenner des kompletten Haupt- und Nebensortiments inklusive gegebenenfalls zu erwerbenden Zubehörs sowie unverbindlicher Preisempfehlungen und aller Bestellnummern.

Wie für viele andere Kinder waren Spielzeugläden für mich weltliche Wallfahrtsorte, wahre Kathedralen des Staunens, des Begehrens und der Vorfreude. Da schlenderte man nicht einfach so rein, nein! Da bereitete man sich innerlich drauf vor. Tagelang. Überlegte sich, was man sich anschauen, nach was man fachkundig fragen würde. Denn den über dieses Zauberreich herrschenden Spielwarenhändler, derer es zu meinen Kindertagen allein in der Innenstadt nicht weniger als deren drei gab, dem trat man mit Respekt, Demut und Ehrfurcht unter die Augen. Nicht, weil er unfreundlich gewesen wäre, streng oder arrogant. Aber wer weiß, dachte ich, wenn man hier frech war oder nicht höflich genug auftrat, vielleicht verweigerte er den Eltern dann die Herausgabe der ersehnten Weihnachts- und Geburtstagsgaben und es würde sein ein großes Heulen und Zähneklappern am großen Tag. Also lieber auf Nummer sicher gehen, hieß die Devise. 

Jetzt aber musste ich sehr schnell und schmerzlich lernen: Wer Anno Domini 2017 einfach so, mir nichts dir nichts in einen Spielwarenladen marschiert, ernsthaft glaubt, nach Fischertechnik verlangen zu können und dann auch noch erwartet, man präsentiere ihm diverses zur Auswahl, packte ihm daraufhin das letztlich Gewählte gar adrett und zierlich ein und wünschte noch ein frohes Fest, der hat sich dermaßen tief geschnitten, dass Notoperation und diverse Blutkonserven nötig sind (um im Bild zu bleiben). Zumal der Spielwarenhändler von einst längst nicht mehr existiert und bloß noch sein kärglich Gnadenbrot verzehrt. Allenfalls wird man das, was von der einstigen Herrlichkeit des Spielwarenhandels noch übrig ist, in Millionenstädten mit der Lupe suchen können. Die heutigen Läden gleichen eher schmucklosen Hochregallagern, haben alle 'Toys' im Namen und scheinen mir außer Einhörnern nur noch Lego Technic und Playmobil zu führen.

Man muss sagen, dass die sehr jungspundige Fachkraft im ersten 'Toys'-Laden schon irgendwie freundlich war. Also in dem Sinne, dass sie, also er, sicherheitshalber gar nicht erst reagierte, bevor er etwas falsch machte. Immerhin. Als Pädagoge hat man schließlich auch das Bemühen zu würdigen. Ansonsten gab er sich noch redlich Mühe, obwohl mit einer höchst albernen und sehr bunten, an ein Clownskostüm gemahnenden Dienstmontur ausstaffiert, auf gar keinen Fall für eine Fachkraft gehalten zu werden. So reagierte er, dessen Gesichtsausdruck nur von Edgar Wallatzes 'Die toten Augen von London' inspiriert sein konnte, auf meine Frage nach Fischertechnik erst einmal mit Schweigen. Und offenem Mund. War da ein Spuckefaden? Egal. Als ich meine Frage wiederholte, reagierte er mit einer Gegenfrage. Immerhin. "Fisher-Price?", lautete sie. Meine Fachkenntnisse reichten aus für die Antwort: "Nein, nicht Fisher-Price, Fischer-Technik. In spielzeugtechnischer Hinsicht ungefähr das genaue Gegenteil. Vielen Dank und schönen Abend noch." Im Hinausgehen grübelte ich noch über die Frage, ob ich den armen Kerl eventuell überfordert haben mochte, handelte es sich bei 'spielzeugtechnisch' doch um ein Wort mit mehr als drei Silben.

Im nächsten Laden geriet ich an eine gestandene, über die Maßen freundliche Dame und trug ihr mein Begehr vor. Sie entpuppte sich als ehemals selbstständige Spielwarenhändlerin, nunmehr angestellte Filialleiterin dieser 'Toys'-Resterampe und hatte vollstes Verständnis für mein Ansinnen. Sie geriet ins Erzählen über die goldenen Zeiten des deutschen Spielwarenhandels, erinnerte sich noch gut an das große Sortiment an Fischertechnik, das sie und ihr Mann damals im Laden gehabt hätten, aber das gehe einfach nicht mehr heute. Fischertechnik werde eigentlich nur noch über die Webseite des Herstellers oder über Amazon vertrieben und wieso ich es nicht dort einmal probierte. Bevor sie mir noch einen Kaffee anbot und anfing vom Krieg zu erzählen, dankte ich artig, auch für das nette Gespräch, entschuldigte mich für die Umstände und verließ auch diesen Ort unverrichteter Dinge.

Unterwegs nach Haus grübelte ich noch über die Frage, ob eine Branche, die einem potenziellen Kunden empfiehlt, bei jenem Hauptkonkurrenten zu ordern, der seit einiger Zeit dabei ist, alles plattzumachen, eventuell schon aufgegeben hat. Zumal man nirgends irgendwelche Anstalten gemacht hatte, das Gewünschte für mich zu bestellen, in anderen Filialen nachzufragen oder sonstwie was zu organisieren. Es hieß bloß: Tut uns leid, haben wir nicht, bestellen Sie halt im Internet. (Das ist natürlich nicht die Schuld des Verkaufspersonals, das sich nur im Rahmen dessen bemühen kann, das ihm von Entscheidungsträgern vorgegeben wird). Darf eine Branche, frug ich mich weiters, die sich offenbar bloß noch als Verkaufs- bzw. Zahlstelle versteht und ihren Service derart runtergefahren hat, sich wundern, wenn sie zunehmend als entbehrlich empfunden wird? Zurück zu unserer kleinen Geschichte.

Was die Dame, die das böse A-Wort gesagt hatte, nicht wusste und auch nicht wissen konnte: Seit vor einigen Jahren Details über die Steuerpolitik des gigantomanen Gemischtwarenhändlers aus Seattle und die Arbeitsbedingungen in den Logistikzentren ruchbar wurden, habe ich meine Geschäftsbeziehung mit dem Laden ein für allemal beendet. Niemals, so hatte ich mir geschworen, sollte die übergriffige megalomane Butze noch einen müden Euro meines sauer verdienten Salärs lukrieren. Klar, damit werde ich die Welt nicht retten, das ist mir bewusst, aber irgendwo muss man verdammt noch mal anfangen. Und außer verständnislosen Reaktionen von Konsumlemmingen ("Wiiiesooo? Also, wir lassen uns immer alles liefern. Ist doch sooo bequem! Was du immer hast. Voll doof, dass die schönen Läden in der Innenstadt alle dichtmachen. Das sieht sooo traurig aus. Früher war alles besser.") habe ich im Alltag bislang noch keine Einschränkungen bemerken können. Bis jetzt eben.

Ich ging alle Parameter durch und kam zu dem Schluss: Sollte das mit dem Bastelkasten in den drei Wochen bis Weihnachten noch klappen, gab es nur eine sinnvolle Alternative, wollte ich nicht mehrere hundert Kilometer mit dem Auto durch die Gegend karren: Im Netz bestellen. Aber deswegen wieder Kunde des Onlinehökers werden? Auf dem Schoner des Unheils anheuern? Reumütig wieder angekrochen kommen? Für eine lumpige Bestellung? So weit kommts noch, dachte ich. Also bat ich, wenn auch schlechten Gewissens, eine liebe Freundin mit bekanntem Prime-Kundinnenstatus um Beistand. Wir wickelten das gegen bar über ihr Kundenkonto ab und nach gerade einmal zwei Tagen war die Ware bei ihr daheim. 20 Prozent günstiger als auf der Herstellerwebseite. Konnte man nicht meckern. Fast, Bezos, fast hättest du mich drangekriegt an diesem verregneten Dezemberabend, aber nur fast. Viel hätte nicht gefehlt.

Bleiben zwei Fragen offen. Erstens: Habe ich damals dem Jucken nachgegeben und einen Plastikbausatz gekauft? Nein, habe ich nicht. Zweitens: Wie lange wird es noch dauern, bis man überhaupt nicht mehr am größten Online-Händler der Welt vorbeikommt? Eine Antwort traue ich mir nicht zu. Höchstwahrscheinlich würde sie mir auch nicht gefallen.




5 Kommentare :

  1. Ich war als Kind auch mal so ein Bausatzjunkie. Anfang der Nuller-Jahre stieß ich in einem Berliner Fachgeschäft auf ein passables Sortiment und kaufte zwei Schlachtschiff-Bausätze (Yamato und was Britisches). Im Winter saß ich dann mit einem Freund am Küchentisch und nach dem Genuss einer fetten Bong bastelten wir. So gingen einige Winternachmittage dahin und wir hatten richtig Spaß. Infiniter Regress at its best.

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    1. Für die britische Seite wären aber nur HMS Repulse oder HMS Prince Of Wales infrage gekommen.

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    2. Habe den Karton nicht mehr, aber laut Weyers Flottentaschenbuch von 1940 (meine Bibliothek ist gut sortiert) ist es ein Schiff der Revenge-Klasse. Das schönste Schiff war natürlich die Hood, aber ich kann verstehen, dass sie von den Modellbauern nicht angeboten wird ;o)

      Die Prinz Eugen steht auch noch in meinem Arbeitszimmer. Und der Millenium-Falke.

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  2. "Once in a town in the Black Forest/ a little white toy shop stood"
    (Zeile aus einem Donovan-Song mit dem Inhalt eines Andersen-Märchens …)

    Da kommen Nostalgiegefühle hoch bei der Lektüre dieses Artikels.
    Die Spielwarenfachgeschäfte von damals – a vanished world. Überlebt haben nur ein paar Modellbahnfachgeschäfte, die hauptsächlich vom Internet-Handel leben und auf Dauer wohl auch auf der Strecke bleiben – alas! Und der der US-Grossist mit dem falschen kyrillischen Buchstaben in Namen und Logo – zum Heulen ;)

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  3. Es ist eine Generationen-Frage, aber es gab tatsächlich mal die Entscheidung zwischen Action-Man und Big Jim.
    Zwischen Geha und Pelikan (und später Lamy).
    Zwischen Puma und Adidas (und später Nike).

    Heutzutage verlaufen die Fronten anders.

    Danke für die Inspiration zu einem nostalgischen Rückblick.

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