Donnerstag, 5. Januar 2023

Parallelwelt

 
Dass der nunmehr verstorbene Joseph Ratzinger a.k.a. Benedikt XVI,. ein hochintelligenter Mann war, darüber wird man gewiss nicht streiten müssen. Ob bzw. inwieweit man mit den Früchten seiner hohen Intelligenz jeweils konform geht oder nicht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vieles, das an seiner Amtsführung falsch lief, erklärt sich vielleicht, wenn man sich die Welt ansieht, in der Joseph Ratzinger einst groß geworden ist und welchen Stellenwert die Katholische Kirche darin hatte.

Man muss das selbst erlebt haben. Hier im heimischen Ruhrgebiet zum Beispiel. Wo die bescheidene Heimatstadt, ans katholische Münsterland grenzt und wo die um 1900 herum aus Polen zugewanderten Bergleute dem herrschenden Katholizismus einen weiteren Boost verpasst haben.

Noch bis in die Achtiziger waren hier die alljährlichen Fronleichnamsprozessionen Großereignisse, die außer der protestantischen Minderheit fast die gesamte Stadt mobilisierten. Die Monstranz wurde durch die Straßen getragen unter einem Baldachin, den halten zu dürfen nur den höchsten Honoratioren mit einwandfreiem Leumund vorbehalten war. Begleitet von einer Blaskapelle, die die unterwegs zu singenden frommen Lieder begleitete, dazu einer Hundertschaft Messdiener, Kommunionkindern, Schützenbrüdern und anderen Verbänden. Drei mal wurde unterwegs an einem Open Air-Altar Pause gemacht und Andacht gehalten. Jedes Mal streng choreographiert. Der gesamte (!) kilometerlange Prozessionsweg war von gelb-weißen Fahnen gesäumt. Fast jeder Hauseingang war mit Blumen, Girlanden, Kränzen, Heiligenbildern, Kerzen und Devotionalien geschmückt. Ein Riesenaufwand. Und das an mehreren Orten der Stadt.

Hochfeste wie Weihnachten und Ostern mobilisierten Legionen. In allen katholischen Kirchen der Stadt waren Christmette und Osternacht überfüllt, die jeweils bis zu vier Messen am ersten Weihnachtstag und Ostersonntag teils auch. Zudem wäre es als Sakrileg empfunden worden, wenn auch nur zu einem dieser Termine weniger als zehn, zwölf Messdiener aufmarschiert wären.

Nota bene: Wir reden von einer kleinen Großstadt mit gut 120.000 Einwohnern. Und das ist nur das, was ich erlebt habe.

Eine Generation vorher war alles noch eine Umdrehung weiter. Mindestens. Da galt ein Priester als quasi heilig, ihm ein Fehlverhalten bloß zu unterstellen bereits als Sünde. Mein Vater, in seiner Jugend Messdiener, hat vom Pfarrer zwei mal so eine gescheuert bekommen, dass ihm Blut aus den Ohren lief und seine Backe anschwoll. Seine Missetaten: Einmal ein Kreuzzeichen schief gemacht und einmal hatte er, als er nach der Messe beim Löschen der Kerzen helfen musste, einfach den Kelch mit in die Sakristei gebracht, will heißen: Ein geweihtes Gefäß mit seinen ungesalbten Dreckspfoten besudelt. Als er daheim gefragt wurde, wovon er die dicke Backe habe, antwortete er wahrheitsgemäß und bekam gleich noch eine geballert. Weil er einen heiligen Mann verleumdet hatte.  

(Nur für den Fall, dass es jemanden interessiert, was das für ein Klima war, in dem sexueller Missbrauch von Kindern durch Priester so lange unter dem Deckel bleiben konnte.)

Nun ist gegen ein gutes Brimborium, von jeher eine der Kernkompetenzen der Katholischen Kirche, nichts einzuwenden. Nur ist davon hier nicht mehr sehr viel übrig. Diese dramatische Schrumpfung von einer kaum angefochtenen gesellschaftlichen Macht zur Randerscheinung vollzog sich gerade mal innerhalb ein, zwei Generationen. Nach kirchenhistorischen Maßstäben also ein Wimpernschlag. 

Und dann gehen Sie nach Oberbayern. Da ist immer noch alles ein wenig katholischer, idyllischer und prächtiger als anderswo. Dort ist bei katholischen Hochfesten mitunter heute noch das ganze -- oder fast das ganze -- Dorf auf den Beinen. Und das multipliziere man mit fünf bis zehn und man kann in etwa Stellenwert und Prestige ermessen, das die katholische Kirche in den jungen Jahren Joseph Ratzingers selbstverständlich genoss.

Ratzinger und ein Großteil der Kardinäle entstammen einer Zeit, in der die Kirche in Teilen der Welt eine unangefochtene Parallelautorität zur staatlichen war. Eine Art Staat im Staat mit eigenen Strukturen und einer eigenen Rechtsprechung. Ein Priester im Gefängnis? Bis vor nicht allzulanger Zeit quasi undenkbar. Gab es nur in Diktaturen, die eine antiklerikale Linie fuhren. Kann es da wirklich verwundern, dass sie mit der Moderne fremdel(te)n?

Das erklärt sicher das eine oder andere. Entschuldigen ist noch einmal ein anderes Blatt.







4 Kommentare :

  1. Kann ich als Ur-Essener so bestätigen. Ich wurde 1987 Meßssdiener. Bis Mitte 90er gab an "normalen" Sonntagen auch noch 3 gut besuchte Messen und samstags noch die Vorabendmesse für alle, die sonntags was anderes vorhatten. Und ja, das war alles Pillepalle im Gegensatz zu vorigen Generationen. Bei meiner Oma war der Großteil der Messe noch Latein und Gott bewahre, dass man keinen Katholiken heiratete geschweige denn den mit in die Kirche brachte. Und bei meiner Mutter gab es auch noch längst keine Mädchen als Messdiener.

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    1. Interessant, ich war ziemlich genau 10 Jahre zuvor Messdiener geworden und musste manchmal noch weiße Glacéhandschuhe tragen. Dass der Betrieb noch bis in die Neunziger einigermaßen lief, habe ich auch so beobachtet.
      Man sollte bedenken, dass etwa kirchliche Arbeitgeber erst seit ein paar Jahren nicht mehr berechtigt sind, ihren Angestellten ins Privatleben zu regieren, also etwa wiederverheiratete Geschiedene einfach kündigen dürfen.

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  2. Als Evangelischer bedeutet mir der Papst wenig. Aber sein Spruch ist grossartig:
    "Wenn es nicht das Mass des wahren Gottes gibt, zerstört sich der Mensch selbst.“ (Josef Ratzinger)

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