In pädagogischer Hinsicht ist die 'Sesamstraße', die die Tage ihr 50jähriges Jubiläum der deutschen Erstausstrahlung feierte, ununwunden zu loben. Hier wurde und wird endlich mal der inflationär erhobene Anspruch eingelöst, Kindern etwas 'auf spielerische Weise' beizubringen. Schon die ersten nicht synchronisierten amerikanischen Folgen, die ich als Vorschulkind sah, brannten sich mir tief ins Bewusstsein ein. Die verschraddelte Kulisse in der Bronx sah ein bisschen aus wie Gelsenkirchen-Bismarck. Nur dass das Personal ganz anders war. Neben Bob und dem Kramladenbesitzer Mr. Hooper tauchten auch die People of Colour Gordon und Susan auf. Und dieser große Vogel. Und ein Zottel in einer Mülltonne, der alles toll fand, was die Eltern bäh fanden und einem immer austreiben wollten.
"Mama,", fragte ich einmal meine Mutter, "warum reden die alle so komisch?". "Das ist Englisch, das verstehst du noch nicht." Aha. War mir aber egal. Ich genoss einfach das Treiben auf dem Bildschirm. Das allerdings kein buntes war, weil wir damals nur einen Schwarzweißfernseher hatten. Dass Bibo gelb, Grobi blau, Ernie orange und Bert gelb war, wusste ich erst, als ich die 'Sesamstraße' auf Omas Farbfernseher sah. Überflüssig zu sagen, dass auch der Vorspann mit Ingfried Hoffmanns "Der, die, das..." sich mir nachhaltig eingeprägt hat. Vermutlich, weil dieser Chor irgendwie zu singen schien: "Manchmal muss man frooogen...". Ich lernte: Da gibt es welche, die sehen anders aus, heißen anders, sprechen anders und leben anders. Und alle können sie trotzdem miteinander auskommen. Nichts, wovor man Angst haben müsste. Dafür, bis heute, von Herzen: Danke!
Noch weniger entziehen konnte ich mich wohl auch der zwingenden Logik des Verses: "Wer nicht fragt, bleibt dumm." Eine Zeitlang muss ich als Kind so penetrant Fragen nach allem und jedem gestellt haben, dass ich auf Familienfesten geradezu gefürchtet war.
Abgesehen von den Einspielfilmen, wo schon mal was zu Bruch ging, lustvoll gegen Regeln verstoßen oder - Mah Nà Mah Nà - musikalisch wild improvisiert wurde, hatte die 'Sesamstraße' nur wenig Anarchisches, war aber durch und durch antiautoritär. Erwachsene waren keine Verbotsinstanzen, die Vorschriften machten, sondern Freunde, die Kindern auf Augenhöhe gegenüber traten, ernstnahmen, erklärten und vermittelten, anstatt zu maßregeln. Gibt es überdies eine brillantere Idee als Kindern vorzuführen, dass Monster nichts Furchterregendes, sondern etwas Flauschiges und Freundliches sind? Manchmal trottelig wie Grobi oder heillos verfressen wie Krümel. Womit das Schlimmste, das man vor ihnen zu befürchten hat, also ist, dass sie einem - nomnomnom! - Kekse oder diverse Gegenstände wegfressen.
Weil meine Eltern beide berufstätig waren, ergab sich auch später immer wieder die Gelegenheit, die meist am Vormittag ausgestrahlte 'Sesamstraße' zu schauen. Vor allem, wenn meine liebe Großtante G., die auf mich aufpassen sollte, mal wieder eine halbe Stunde Pause brauchte von ihrer Betreuungsarbeit. Die Sendung wurde inzwischen synchronisiert. So musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass Ernie, Bert, Bob, Gordon, Susan, Bibo und der Kleinkrämer, der auf einmal 'Herr Huber' hieß, auch deutsch konnten. Und lernte von ihnen und ihren Freunden bis zehn zu zählen. Und das Alphabet. Die Buchstaben, die nicht drankamen, brachte Tante G. mir dann bei. So konnte ich bereits bei Grundschulantritt bis zehn zählen, fließend lesen und sogar ein bisschen schreiben. Ungelenk und nur Druckschrift, aber immerhin. Auch dafür, bis heute, von Herzen: Danke!
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Nur die Kinder in Bayern mussten verzichten. Der Bayerische Rundfunk verweigerte die Ausstrahlung. Was damals in der Prä-Kabel-Zeit noch ein Problem war. Beim BR befürchtete man, wie es hieß, "kulturelle Überfremdung" wegen der Multikulti-Truppe auf dem Bildschirm und witterte "pädagogische Infamie". Unter anderem wegen "Verherrlichung des Lebens in der Mülltonne". Aha.
1976 waren die netten Amis plötzlich verschwunden. Statt dessen gab es ein Kleinstadtidyll aus dem Studio Hamburg. Ranzkulisse? Deutschen Kindern nicht zumutbar. Ordnung muss sein. Bevölkert war das vom liebkindlichen Riesenzottel Samson, der - uiuiuiuiui! - irgendwie immer sein Schnuffeltuch suchte, der gouvernantenhaften, besserwisserischen Tiffy und dem dünkelhaften Herrn von Bödefeld. So ein bisschen aristokratisches Flair hat schließlich noch niemandem geschadet. Als Sidekicks fungierten Schauspieler in Cordhosen wie Lilo Pulver, Ute Willing, Henning Venske, Horst Janson und kurzzeitig auch Manfred Krug (der Mann hatte damals frisch rübergemacht und brauchte das Geld). Diversity ade. Deutschem Nachwuchs wohl nicht zuzumuten. Aber die Einspielfilme blieben. Zum Glück!
Trotz dieser monokulturellen Verbiederung stellte der Bayerische Rundfunk sich immer noch quer. Erst seit 2003 wird die 'Sesamstraße' auch im BR ausgestrahlt. Als eh nicht mehr zu verhindern war, dass die Kinder das sehen. Konservatismus in a nutshell.
(Apropos Einspielfilme: Man könnte noch seitenlang schwärmen von der Kreativität und der Puppenspielkunst hinter Figuren wie Sherlock Humbug, dem Geräuschemann, dem interessanterweise zu 'Schlemihl' eingedeutschen Lefty the Salesman oder den leider ein wenig vergessenen Marsianern. Aber das sprengte hier den Rahmen.)
Natürlich hörte ich irgendwann auf, 'Sesamstraße' zu gucken, aber die Dankbarkeit, mir elementares Lesen, Zählen und Schreiben beigebracht zu haben, hallt bis heute nach. Wie auch Ohrwürmer wie "Mah Nà Mah Nà". Die ironische Renaissance in den ironischen Neunzigern fand ich albern. Dass Ernie und Bert immer öfter als gleichgeschlechtliches Paradepaar auftauchten, fand ich eher ambivalent. Weil es den im erwachsenen Sinne asexuellen kindlichen Blick ignoriert(e) und damit auch entwertet(e), für den das eigentlich mal gedacht war und für den das eher irrelevant ist (wiewohl ich mich über Parodien wie 'Bernie und Ert' und Walter Moers' 'Speibl und Hurvinek' ziemlich schlapp gelacht habe).
Und der Wermutstropfen? Jenseits von Ressentiments kritisierte Neil Postman schon in den Siebzigern, es sei weniger das Problem, dass das Fernsehen Unterhaltung präsentiere, sondern dass das Fernsehen aufgrund seiner inhärenten Logik alles als Unterhaltung präsentieren müsse. Durch das Fernsehen vermittelte Lerninhalte dürften somit niemals herausfordernd, dröge, monoton sein oder sich erst nach längerer Verarbeitung erschließen, wie das in klassischen Lernsituationen zuweilen zwangsläufig der Fall sei.
Und schließlich war und ist auch die 'Sesamstraße' natürlich nicht unpolitisch in dem Sinne, dass sie nicht im luftleeren Raum passiert(e). Die 'Sesamstraße' wurde Ende der Sechziger von der US-amerikanischen Non-Profit-Organisation Children's Television Workshop (CTV) im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Senders PBS entwickelt, explizit mit dem Ziel, Kindern aus Milieus, die die Schule nicht mehr erreicht, zumindest etwas Bildung mitzugeben. So ehrenwert das ist und so genial das umgesetzt wurde, beinhaltet das ein Eingeständnis, dass es solche Milieus gibt in einem kapitalistischen System und dass dagegen offenbar nichts unternommen wird. Man kann es, wenn man mag, so formulieren: In einer Welt, in der es wirklich gerecht zugeht und alle ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen, wäre die 'Sesamstraße' nicht nötig.
Trotz alledem: Happy Birthday, 'Sesamstraße'! Und vielen Dank, von Herzen.
1976 waren die netten Amis plötzlich verschwunden. Statt dessen gab es ein Kleinstadtidyll aus dem Studio Hamburg. Ranzkulisse? Deutschen Kindern nicht zumutbar. Ordnung muss sein. Bevölkert war das vom liebkindlichen Riesenzottel Samson, der - uiuiuiuiui! - irgendwie immer sein Schnuffeltuch suchte, der gouvernantenhaften, besserwisserischen Tiffy und dem dünkelhaften Herrn von Bödefeld. So ein bisschen aristokratisches Flair hat schließlich noch niemandem geschadet. Als Sidekicks fungierten Schauspieler in Cordhosen wie Lilo Pulver, Ute Willing, Henning Venske, Horst Janson und kurzzeitig auch Manfred Krug (der Mann hatte damals frisch rübergemacht und brauchte das Geld). Diversity ade. Deutschem Nachwuchs wohl nicht zuzumuten. Aber die Einspielfilme blieben. Zum Glück!
Trotz dieser monokulturellen Verbiederung stellte der Bayerische Rundfunk sich immer noch quer. Erst seit 2003 wird die 'Sesamstraße' auch im BR ausgestrahlt. Als eh nicht mehr zu verhindern war, dass die Kinder das sehen. Konservatismus in a nutshell.
(Apropos Einspielfilme: Man könnte noch seitenlang schwärmen von der Kreativität und der Puppenspielkunst hinter Figuren wie Sherlock Humbug, dem Geräuschemann, dem interessanterweise zu 'Schlemihl' eingedeutschen Lefty the Salesman oder den leider ein wenig vergessenen Marsianern. Aber das sprengte hier den Rahmen.)
Natürlich hörte ich irgendwann auf, 'Sesamstraße' zu gucken, aber die Dankbarkeit, mir elementares Lesen, Zählen und Schreiben beigebracht zu haben, hallt bis heute nach. Wie auch Ohrwürmer wie "Mah Nà Mah Nà". Die ironische Renaissance in den ironischen Neunzigern fand ich albern. Dass Ernie und Bert immer öfter als gleichgeschlechtliches Paradepaar auftauchten, fand ich eher ambivalent. Weil es den im erwachsenen Sinne asexuellen kindlichen Blick ignoriert(e) und damit auch entwertet(e), für den das eigentlich mal gedacht war und für den das eher irrelevant ist (wiewohl ich mich über Parodien wie 'Bernie und Ert' und Walter Moers' 'Speibl und Hurvinek' ziemlich schlapp gelacht habe).
Und der Wermutstropfen? Jenseits von Ressentiments kritisierte Neil Postman schon in den Siebzigern, es sei weniger das Problem, dass das Fernsehen Unterhaltung präsentiere, sondern dass das Fernsehen aufgrund seiner inhärenten Logik alles als Unterhaltung präsentieren müsse. Durch das Fernsehen vermittelte Lerninhalte dürften somit niemals herausfordernd, dröge, monoton sein oder sich erst nach längerer Verarbeitung erschließen, wie das in klassischen Lernsituationen zuweilen zwangsläufig der Fall sei.
Und schließlich war und ist auch die 'Sesamstraße' natürlich nicht unpolitisch in dem Sinne, dass sie nicht im luftleeren Raum passiert(e). Die 'Sesamstraße' wurde Ende der Sechziger von der US-amerikanischen Non-Profit-Organisation Children's Television Workshop (CTV) im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Senders PBS entwickelt, explizit mit dem Ziel, Kindern aus Milieus, die die Schule nicht mehr erreicht, zumindest etwas Bildung mitzugeben. So ehrenwert das ist und so genial das umgesetzt wurde, beinhaltet das ein Eingeständnis, dass es solche Milieus gibt in einem kapitalistischen System und dass dagegen offenbar nichts unternommen wird. Man kann es, wenn man mag, so formulieren: In einer Welt, in der es wirklich gerecht zugeht und alle ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommen, wäre die 'Sesamstraße' nicht nötig.
Trotz alledem: Happy Birthday, 'Sesamstraße'! Und vielen Dank, von Herzen.
"Im Jahr 2005 schied Tiffy nach 27 Jahren aus dem Ensemble der Sesamstraße aus und wurde durch die Monster-Figuren Moni, eine alleinerziehende Mutter, und deren Tochter Lena ersetzt." (Wikip.)
AntwortenLöschenThank God for that! ;-)
Die Marsianer! Unvergessen, v.a. die Folge, als sie eine Standuhr für einen Erdmenschen hielten. So schöne Erinnerungen.
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