Abt.: Opa erzählt von früher
Stellt mir jemand die Gretchenfrage, pflege ich zu antworten: Ich bin katholisch sozialisierter Agnostiker mit gelegentlichen Resten an Gottvertrauen. Und habe Messdienerhintergrund. Wie sehr das prägt, wurde mir 2005 klar, als Karol Józef Wojtyła alias Johannes Paul II. eine Etage höher beordert wurde. Beim Nebenbeibetrachten der im Fernehen übertragenen Trauerfeier in Rom, bei der die katholische Kirche in alter Tradition ein großes Brimborium veranstaltet, dachte ich irgendwann, wiewohl lange nicht mehr im Geschäft: Die könnten dir jetzt so einen Kaftan in die Hand drücken, dir eine kurze Einweisung geben und du wüsstest im wesentlichen, was zu tun sei. Gelernt ist eben gelernt. Wie schwimmen und Fahrrad fahren.
Stellt mir jemand die Gretchenfrage, pflege ich zu antworten: Ich bin katholisch sozialisierter Agnostiker mit gelegentlichen Resten an Gottvertrauen. Und habe Messdienerhintergrund. Wie sehr das prägt, wurde mir 2005 klar, als Karol Józef Wojtyła alias Johannes Paul II. eine Etage höher beordert wurde. Beim Nebenbeibetrachten der im Fernehen übertragenen Trauerfeier in Rom, bei der die katholische Kirche in alter Tradition ein großes Brimborium veranstaltet, dachte ich irgendwann, wiewohl lange nicht mehr im Geschäft: Die könnten dir jetzt so einen Kaftan in die Hand drücken, dir eine kurze Einweisung geben und du wüsstest im wesentlichen, was zu tun sei. Gelernt ist eben gelernt. Wie schwimmen und Fahrrad fahren.
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Um einigermaßen zu ermessen, wie anders die Welt meiner Kindheit in Sachen Religionspraxis noch war, muss man sich klarmachen, welche Rolle die Kirchen, hier im Westen vor allem die Katholische, damals noch spielten. In meiner bescheidenen, nicht eben riesigen Heimatstadt gibt es im erweiterten Innenstadtbereich fünf katholische Tempel, die allsonntäglich mehrfach bespielt wurden. Dort wo ich messdienerte, wurden jeden Sonntag nicht weniger als vier Messen gelesen: 7:30 Uhr, 8:45 Uhr, 10:00 Uhr war Hochamt und 11:15 Uhr. Bis auf die Frühmesse waren alle gut bis sehr gut besucht.
In den anderen vier Kirchen sah es nicht anders aus. Mehr noch: Zusätzlich gab es an jedem Werktag bis auf Samstag eine Früh- und eine Abendmesse. Auch die fanden ihre Besucher. Bei der Osternachtsfeier und der Christmette, den beiden größten Kloppern im Jahr, musste man, so man nicht mitzelebrierte wie ich, mindestens eine halbe Stunde früher vor Ort sein, um noch eine Chance auf einen Sitzplatz zu haben.
Eine Generation zuvor wiederum waren die werktäglichen Frühmessen um 8:00 Uhr unter Messdienern noch sehr beliebt, da man, wenn man den Messdienerplan vorzeigte oder die entsprechende Seite der Kirchenzeitung, die erste Stunde vom Schulunterricht befreit war, wenn man eingesetzt war. Mein Vater, ebenfalls einstiger Messdiener, erzählte, dass zu seiner Schulzeit an einer katholischen Realschule noch welche aus dem Unterricht abkommandiert wurden, wenn eine Beerdigung anstand. Zu meiner Zeit hatte das von gottlosen Sozis geführte NRW-Kultusministerium diesem bildungsfeindlichen kultischen Treiben allerdings schon einen Riegel vorgeschoben und fromme Rentner verrichteten diese Dienste.
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Das Allerwichtigste, das man als Messdiener lernt, ist übrigens nicht das ganze liturgische Gepränge oder welche Farbe wann zu tragen ist oder so, sondern sich unter allen Umständen das Lachen zu verkneifen und auch dann noch ein andächtiges Gesicht zu machen, wenn es einen innerlich schier zerreißt. Die 'Ministrantentaufe' ging so, dass man versuchte, Neulinge während besonders feierlicher Zeremonien zum Lachen zu bringen (mit Einsetzen der Präpubertät wurde dazu, wenn jemand Weihrauch schwenkte, gern der Klassiker "Hach, Süßer, dein Handtäschchen brennt!" genommen). Wer da nicht losprustete, gehörte dazu, wer nicht, wurde in der nächsten wöchentlichen Gruppenstunde gemobbt. (Eine andere Fähigkeit ist übrigens, öde, schier endlose Predigten mit stoischer Miene vorbeirauschen zu lassen und dabei irre aufmerksam zu wirken.)
Die ärgste Prüfung kam immer, wenn Pater M. vertretungsweise eine Messe hielt. Der Mann war, wie ich viel später erfuhr, Kriegsveteran und hatte wohl, sagen wir, einen leichten Dachschaden zurückbehalten. Das äußerte sich in einem Verhalten, das man freundlich als ein bisschen niedlich bezeichnen könnte. Dazu gehörte, während der ganzen Messe in einem betont 'heiligen', komplett überbetonten, vor allem aber unfreiwillig komischen Tonfall zu sprechen. Kinder sind da bekanntlich grausam, sehen die Tragik dahinter nicht und finden so was vor allem mal irre witzig. Wer es schaffte, da eine Stunde lang nicht zu kichern und das mit stoischer Miene durchstand, war Profi. Anfänger wie die hier hätten da jedenfalls keine Chance gehabt:
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Ach ja, Messdienergruppen. Unsere hieß 'Die grüne Hand'. Die im Nebenraum, wenn ich mich recht entsinne, 'Die wilde Zwölf'. Wir hatten sogar Fahnen. Bekloppte Namen? Uns doch egal. Es war die Zeit, in der Jungen unseres Alters Schneider-Bücher geschenkt bekamen, in denen die Jungsbanden auch immer so hießen (Messdienerinnen waren noch kein Thema, und wenn doch, dann auf keinen Fall offiziell). In den wöchentlichen Gruppenstunden sollte es eigentlich um messdienerisch Relevantes gehen. Religiös Erbauliches und so. Ging es aber nicht. Hatten unsere Gruppenleiter keinen Bock drauf. Ließen uns meist was spielen oder, bei entsprechendem Wetter, auf dem Bolzplatz pölen. Übermotivierte Priester, die uns trotzdem irgendwie Spirituelles beibringen wollten, was so 1-2 Mal im Jahr vorkam, gaben das normalerweise schnell wieder auf. Einmal hatten die Leiter einer anderen Gruppe ihre Jungs mal gegeneinander boxen lassen, was dummerweise mit 1-2 blauen Augen endete. Da wurde dann eingeschritten.
Rückblickend war die Messdienergruppe für mich ein wichtiger Ausgleich zur Schule. Weil ich einer derjenigen war, die beim Fußball als letzte in die Mannschaft gewählt und darob auch gern mal gehänselt werden. Bei den Messdienern waren aber nur die Schulkollegen, die ich nett fand, die Arschlöcher waren nicht da. Hier bekam ich das, was ich in der Schule unter Gleichaltrigen längst nicht immer bekam: Respekt, Anerkennung und das Gefühl, dazu zu gehören. Und es stellte sich auch heraus, dass ich gar nicht soo unsportlich war. Zwar stellten sie mich beim Fußball gern ins Tor, aber zeigten mir auch, was ich tun konnte. So wurde ich ziemlich gut darin, Gegnern, die allein auf mich und meine Bude zukamen, den Ball vom Fuß zu holen.
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Apropos Weihrauch: Weil es sich dabei anerkanntermaßen um eine psychoaktive Droge handelt, wenn auch eine sehr milde, vertragen das nicht alle. Vor allem unter uns Kindern und Heranwachsenden sorgte die Räucherei für zum Teil erhebliche Ausfallerscheinungen, weil zirka einem Drittel von uns immer schlecht wurde und sie die Arena verlassen mussten. Mit Überstehen der ärgsten Pubertätsphase legt sich das bei den meisten wieder, und so wetteiferten ältere Messdiener an Hochfesten immer darum, wer die Bude am heftigsten verqualmte.
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Kaplan D. mochten wir. Ein netter Typ, der alles nicht so bierernst und eng sah. Bei ihm hatte ich zuerst Messdienerunterricht, wo er uns alles beibrachte, was man so wissen und können muss. Der Mann war ein begabter Pädagoge und ein begnadeter Komödiant. Ein Hit waren immer seine praktischen Unterweisungen, in denen er gekonnt vormachte, wie man Dinge genau nicht macht. Weil es sich dabei teils um heilige Handlungen handelte, war das natürlich doppelt komisch.
Leider war er wohl auch dem Alkohol mehr zugeneigt als es für einen Menschen gesund ist. Weil er sonntags immer sehr an seinem Kater vom Vorabend trug, setzte man ihn schon nicht in der Frühmesse ein, die er sowieso nicht durchgestanden hätte. Also hielt er meist die 8:45 Uhr-Messe, die vor dem wöchentlichen Hochamt um 10 kam. Weil das zeitlich ziemlich eng war, ließ er meist die Predigt aus, die ohnehin wenig kohärent ausgefallen wäre, und stattdessen das große Glaubensbekenntnis murmeln. Das machte ihn bei uns noch beliebter. Den Rest des Sonntags verbrachte er meist damit, sich so zu bedröhnen, dass er an seinem freien Montag, der früher 'Pfaffensonntag' hieß, komplett handlungsunfähig war.
Irgendwann war er verschwunden, ohne dass es eine Abschiedsfeier gegeben hatte o.ä. Man munkelte, wie ich später mitbekam, von einer Entzugsklinik. Ist natürlich auch verdammt hart, wenn man in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit jedes Mal einen ordentlichen Schluck Wein nehmen muss (alkoholfreie Alternativen wie Traubenmost o.ä. war seinerzeit noch nicht erlaubt).
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Um Einsätze bei Hochzeiten schlugen wir uns beinahe. Da war es nämlich üblich, den Messdienern ein Trinkgeld zuzustecken.
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Weil nicht unbeträchtliche Teile des Industrieproletariats hier im Ruhrgebiet polnischstämmig und damit stockkatholisch waren und deren Kinder daher ohne jede Diskussion Ministranten, kamen wir behüteten Bürgerkinder mit Menschen in Kontakt, die uns sonst nicht begegneten.
Sie hatten viele Geschwister, einen lustigen Akzent, hatten immer die Aufstellung von Schalke 04 parat, redeten schon mit zwölf davon, wie viele Freundinnen sie bereits hatten sowie davon, dass nur eine Lehre auf dem Pütt infrage käme, denn nur da könne man genug verdienen bzw. sei kreditwürdig genug, um sich mit 18 ein Auto leisten zu können. Und das könnte natürlich nur ein Benz sein. Erstmal ein gebrauchter, versteht sich. Ein Opel wäre in diesen Breiten auch akzeptabel gewesen, aber damit hätten sie, wie sie glaubwürdig versicherten, bei der Verwandtschaft in Polen das Gesicht verloren. Plopp. Großartig andere Gesprächsthemen hatten sie meines Wissens nicht. Querschnitt der Gesellschaft halt. Bekam sonst nur Wehrpflicht hin. Aber nicht bei Kindern und Jugendlichen.
Zum besseren Verständnis des obigen sollte man wissen, dass Azubis in der Montanindustrie, die es, warum auch immer, nicht hinbekamen, mit 'Weibergeschichten' anzugeben und mit 18 mit eigenem Auto zur Schicht zu erscheinen, als obskure Freaks galten, zumindest aber als irgendwie unnormal bzw. kein echter Kerl und nicht selten einer Karriere als Mobbingopfer entgegensahen.
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Es sollte deutlich geworden sein, dass meine persönlichen Erfahrungen fast ausschließlich positiv sind und ich durchaus gern an die Zeit zurückdenke. Als ich irgendwann anfing, politische Fragen zu stellen und auch kirchliche bzw. päpstliche Positionen teils vehement infrage zu stellen begannen und mir dämmerte, dass ich wohl kein sonderlich spiritueller Mensch bin, setzte der Entfremdungsprozess ein. Versuchte man mich, auf den 'rechten Weg' zurück zu führen? Drohte jemand Höllenstrafen oder Verdammnis an deswegen? Nein.
Ich kann ehrlich sagen, dass während meiner aktiven Zeit von Mitte der Siebziger bis Mitte der Achtziger die Institution katholische Kirche mir nie autoritär, doktrinär, einengend oder missionarisch gegenübergetreten ist. Und wenn doch einmal, machten wir uns lustig darüber. Wie auch über frömmelnde Betschwestern. Das ging da schon. Vielleicht hatten wir auch Glück mit dem Personal, mit dem wir zu tun hatten. Eine Insel der Seligen? Möglicherweise.Und hing sicher auch damit zusammen, dass wir das, was wir taten, freiwillig taten. Wer aber zum Beispiel für katholische Einrichtungen arbeitete, musste sich gefallen lassen, dass der Arbeitgeber ins Privatleben hineinregierte. Aber das fand ich erst später heraus.
Sicher ist das auch eine Generationenfrage. Eine Generation zuvor nämlich war das noch anders. Vatern erzählt noch heute, wie der damalige Pfarrer ihn mal so ohrfeigte, dass Blut aus seinen Ohren kam, weil er ein Kreuzzeichen nicht korrekt ausgeführt hatte. Als er daheim davon erzählte, bekam er noch eine gescheuert, weil er einen heiligen Mann verleumdet hatte. Schande über die, die solchen Zeiten und Zuständen ernsthaft hinterhertrauern.
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Moment mal, höre ich schon länger einige förmlich sagen, was ist mit dem Elefanten im Raum? Also, wie viele knabengeile Kleriker haben sich in der Zeit wie oft an mir vergriffen? Antwort, auch hier ehrlich und aufrichtig: Nicht einer. Niemals. Und mir ist auch seither kein Fall aus meinem Umfeld zu Ohren gekommen. Was natürlich nicht heißt, dass es keine gegeben haben kann. Es wäre nicht nur falsch, sondern töricht und ein echter Schlag ins Gesicht der zahlreichen Opfer, zu sagen, ich verstünde das Problem gar nicht, bei mir sei doch immer alles in Ordnung gewesen. Zumal ich auch nicht sicher bin, ob wirklich alles so in Ordnung war, wie eine grenzwertige Episode zeigt, die ich mal erlebt habe.
Nicht nur die Taten waren schrecklich, auch der Eiertanz, der von katholischen Bistümern in Sachen Aufarbeitung und Entschädigung veranstaltet wurde und teils immer noch wird, spottet(e) der christlichen Botschaft. Es ist schandbar, wie Täter über Jahrzehnte nicht nur geschützt waren durch ihren Nimbus als Priester, sondern auch durch eine kirchliche Paralleljustiz, der das Ansehen der Institution wichtiger war als die Opfer und die solche Taten nicht als Straftaten behandelte und den Staatsanwaltschaften weiterleitete, sondern als 'Sünden' intern regelte. Immerhin: Missbrauchte Kinder bzw. Menschen, die als Kinder missbraucht wurden, können heute darauf hoffen, gehört zu werden und rennen nicht mehr gegen Mauern des Schweigens.
Es ist eben eine andere Welt heute, und das ist auch gut so.
Es ist eben eine andere Welt heute, und das ist auch gut so
AntwortenLöschenfucking hope it stays that way, though I have my doubts it will.
thanks for a great read again.
Im Gegensatz zum hier Beschriebenen war ich nur ein einziges Mal im Leben Ministrant, und das kam so: Ich studierte 1994/95 ein Jahr in Rom und ging damals regelmäßig in die „deutsche“ Kirche Santa Maria dell‘ Anima. Ich kannte da einige Leute, das war eine nette Community. Und ich war dort gelegentlich Lektor. Einmal fiel kurzfristig ein Ministrant aus und es herrschte so dramatischer Notstand, dass man mich fragte, ob ich den Job nicht schnell übernehmen konnte. Ich konnte. Die Performance war wohl ganz passabel und das Geheimnis des Erfolgs lag natürlich darin, alles genauso zu machen wie die erfahrene Kollegin an meiner Seite. Es blieb aber bei dem einen Auftritt, ein One Hit Wonder meines Lebens sozusagen.
AntwortenLöschenDas ist die dritte wichtige Kulturtechnik für den Job: Immer sehen, was die anderen machen. Weil: muss ja irgendwie nach was aussehen. Bei sehr feierlichen Anlässen wurden aber z.T. komplexe Choreographien gegeben, die wir am Vormittag proben mussten.
Löschen@DKT: Danke, freut mich.
Ach, was eine katholische Idylle ... Das meine ich gar nicht abwertend, es ist ein schöner Text, und ich lese gern solche Geschichten von einer halbwegs heilen Welt in einer ziemlich kaputten. Ich hätte einigen Stoff für ähnliche Geschichten aus meiner Kindheit und Jugend, die flankiert war von den - immerhin rauchlosen - Auswüchsen einer andern Religion, also von Pioniernachmittagen, Fahnenapellen und Wehrkundeunterricht und last but not least von diversen Stasi-Schnüffeleien, und die trotzdem ganz normal glücklich war. DDR-Idylle halt. Und manchmal, in meinen schwachen Momenten, denk ich noch immer, dass die andere Welt, die von heute, vielleicht doch nicht so gut ist wie die idyllische alte.
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