Samstag, 19. November 2016

Die Neuerscheinungen


Und? Den Meilenstein mitbekommen? Gestern haben Metallica ihr neuestes Werk veröffentlicht. Angesichts der medialen Rezeption muss man feststellen, dass die vier älteren Herren einigen ihrer Rezipienten eine Erkenntnis offenbar voraus haben: Die, dass die Zeit sich nicht zurückdrehen lässt. Nicht falsch verstehen, ich finde es völlig okay, wenn Menschen sich halbwegs treu bleiben, alte Verbundenheit respektieren etc. Die Frage ist halt nur, ob man es nicht auch übertreiben kann. So frage ich mich mitunter, ob es Musikschreibern nicht irgendwann selbst zu blöd ist, jedes neue Album der kalifornischen Krachkünstler an den ganz alten Glanztaten zu messen. Jedes Mal aufs Neue: Sind sie noch so gut wie früher, bevor sie sich nach dem Schwarzen Album endgültig dem Kommerz an den Hals geworfen haben? Oder den Hardcore-Fans, die artig jedes neue Album kaufen in der Hoffnung, dieses mal endlich, endlich die neue 'Master Of Puppets' in Händen zu halten, die dort anknüpft, wo 'And Justice For All' einst aufgehört hat?

"Metallica? I can’t take them seriously. I know people think I make vaguely comedic music, but I’m not half as funny as those guys." (Adam Green)

Aber nicht nur Metallica haben heuer ein neues Album veröffentlicht, sondern auch Andrea Berg. Andrea Berg kennen Sie nicht? Sollten Sie aber. Keine Sorge, Ihnen kann geholfen werden:

"Laut Media Control ist Andrea Berg die Sängerin mit den meisten Nummer-eins-Platzierungen, der längsten Verweildauer auf Platz 1 (Best of hielt sich 16 Monate lang) und der größten Dauer in den Top-100 (in Deutschland 345 Wochen, in Österreich gar über 500 Wochen). […] Andrea Berg spricht offensichtlich mehr Menschen in unserer Gesellschaft aus dem Herzen als Lady Gaga, Robbie Williams und Justin Bieber zusammen. Nur wird ihr Erfolg, im Gegensatz zu den letztgenannten, nicht beschrieben oder diskutiert." (Georg Seeßlen)

Meine bisherigen Begegnungen mit dem Wirken der Dame waren rar aber eindrücklich. Einmal beschallte mich eine ehemalige Kollegin auf einer Dienstfahrt im Auto damit, wobei sie sich fortlaufend bei mir für ihre Musikauswahl entschuldigte, obwohl ich gar nichts gesagt hatte, außer einem freundlichen "Nicht so meins, aber kein Problem". Ich hatte die Lady bis dahin eigentlich für einigermaßen vif und taff gehalten, um einmal zwei entsetzlichen Modewörtern die Ehre zu geben, und finde zu seinen Vorlieben zu stehen, gleich wie abgefahren diese anderen erscheinen mögen, weitaus eher eine respektable Haltung als dieses vorauseilende, verhustet schuldbewusste Getue, wie man es auch unter Käufern der Springerschen und Guckern von RTL mitunter antrifft.

Das zweite Mal geriet ich während eines größeren Tanzvergnügens, auf das ich mich hatte mitschleppen lassen, in die Abteilung 'Schlager', als ich vom Klo kam. Dort lief gerade was mit Gefühlen, die Schweigepflicht hätten oder so. Ich ließ die Szenerie halb erschrocken, halb fasziniert eine Weile auf mich wirken. Den gnadenlos geraden, in die Magengrube zielenden Marschtritt-Viervierteltakt. Die lustlos Discofox schiebenden Leiber, die leidenschaftslosen Gesichter. Kaum jemand lachte, war ausgelassen oder ging mal ein bisschen ab. Ein Schlaglicht bloß, sicher, eine punktuelle Impression. Vielleicht war es zu früh am Abend, vielleicht hatte ich einen schlechten Tag erwischt, ich will da nicht generalisieren. Gefühle schienen mir dort jedenfalls, wenn sie schon nicht völlig schwiegen, ziemlich gedimmt stattzufinden. Von der Musik bekam ich Kopfschmerzen, aber nicht der Lautstärke wegen. Hinterher jedenfalls fühlte ich mich, erlöst vom akustischen Umf!-Umf!-Umf!-Korsett, wie einem Stahlbad entstiegen.

Inhaltlich taucht, Kennern ihres Oeuvres zufolge, in Bergs Schaffen häufig, ja fast monothematisch der Topos von der verlassenen bzw. betrogenen Frau auf, die von Männe trotz allem einfach nicht loskommt ("Bin ich von allen guten Geistern verlassen, fall ich schon wieder auf dich rein?"). Will man dazu etwas anmerken, dann kann es durchaus passieren, dass man zu hören bekommt: Warum beschäftigst du dich überhaupt mit so was? Ignoriere es halt und lass denen, die drauf abfahren, doch ihren Spaß. Und die, die drauf abfahren, sind schnell mit dem Vorwurf, arrogant zu sein bei der Hand. Natürlich ist es billig, sich über den Musikgeschmack anderer zu erheben. Anders gesagt:

"Über Geschmack kann man nicht streiten, schon gar nicht ohne Klassismus; wer etwas wie das Gesamtkunstwerk Andrea Berg zum Kotzen findet, der handelt sich schnell den Vorwurf der kulturellen Überheblichkeit ein, wer sich ihrem Publikum (wie dem der Bild-Zeitung) mit Sympathie zu nähern versucht, unterstützt womöglich eine Unterdrückungs- und Verblödungsmaschinerie, wie sie Adorno sich in seinen schrecklichsten Albträumen nicht hätte ausmalen können." (Ebd.)


Ich mag mich gar nicht über jemanden erheben. Ich gestehe, ganz im Gegenteil, jedem jederzeit gern das Recht zu, meinen unmaßgeblichen Musikgeschmack doof, elitär, rückständig und insgesamt nicht absolut nachvollziehbar bzw. nicht satisfaktionsfähig zu finden. Kann ich mit leben. Viele Fans von Andrea Berg, Helene Fischer et al. ihrerseits nicht immer, wie mir scheinen will. Ich finde es übrigens keineswegs in Ordnung, wenn Kulturkritiker mit leicht herablassendem Unterton darauf hinweisen, dass es sich bei Frau Berg um eine gelernte Arzthelferin handelt, die im Krefelder Karneval einst das Funkenmariechen gegeben hat. Was soll das? Abgesehen davon, dass ich mit organisierter Narretey nichts anfangen kann und dass das vielleicht nicht der Standard-Lebenslauf einer ihre Jugend verschwendenden Bohème-Künstlerin sein mag, bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als dass Frau Berg einmal einen ehrbaren, durchaus anspruchsvollen Beruf erlernt und in jungen Jahren vermutlich einiges an Bühnenerfahrung gesammelt hat. Was daran so falsch sein soll oder schlecht, erschließt sich mir nicht.

Es ist halt auch so unfassbar einfach, über Andrea Berg, ihre Musik und ihre Fans herzuziehen. Kulturelles Welpentreten.

"Der Rhythmus: Stumpfa-stumpfa-stumpfa. Ein Ballermann-Disco-Rhythmus. Die Melodie: Das alte Schlager-Modell, skelettiert zur Modern-Talking-Schlichtheit. Die Produktion: Zu viel ist nie genug. Der Sound: Wie in der volkstümlichen Musik werden kindliche Instrumente elektronisch aufgepimpt, irgendein Klavier oder eine Harfe schmiert Bedeutung über das gnadenlose Geschunkel." (Ebd.)

Sollte man vielleicht wirklich lassen. Oder für sich tun. Was ich gelegentlich aber sehr wohl tue, ist, verstehen zu wollen. Ich kann nicht anders. Dann will mich die Frage, warum so was so sagenhaft erfolgreich ist, einfach nicht loslassen. Welche Knöpfe drückt Frau Berg da bei ihrer vorwiegend weiblichen Fangemeinde? Was sagt das eventuell aus über die Conditio Humana im Deutschland des Jahres 2016? Nichts gutes, will mir scheinen.

"Doch wie ist das möglich, dass jemand, der (angeblich) von den intimsten Gefühlen singt, von einem solch gefühllos alles niederwalzenden Gestampfe begleitet wird? Wie verträgt sich dieses von Trennungsängsten gebeutelte Ich mit der besoffenen Massenstimulation? Niemand heult bei Andrea Berg. Die Botschaft von der Frau, die nichts anderes als den Mann will, wird uns buchstäblich eingehämmert. Und an solchen Punkten pflegt Unterhaltung in Ideologie umzuschlagen. […] Andrea Berg konstruiert die sexuelle Ökonomie des unteren Mittelstandes in den Zeiten des Finanzkapitalismus. Sie macht aus dem unangenehmen Umstand, dass die sexuelle Ökonomie in der Krise wieder mal zuungunsten der Frauen im unteren Mittelstand ausgeht, ein pathetisches Programm. Sie tröstet die Frauen mit der Aussicht aufs Weiterträumen und damit, wie man an ihr sieht, auch mit 47 noch „sexy“ (Andrea Berg) wirken zu können, und die Männer damit, dass sie vielleicht sozial absteigen, aber immer noch eine Frau wie Andrea Berg finden, der es am Ende nichts ausmacht, wenn die betrunkenen Vollspacken mal mit der Nachbarin rummachen. Nicht Alleinsein, das ist die einzige, gewaltige Botschaft der Marke Andrea Berg." (Ebd.)

Natürlich ist es absolut nichts Neues, dass musikalisch eher Schlichtes sich gut verkauft. Der Charterfolg solcher Mucke aber ist wohl das, was übrig bleibt von einer Gesellschaft, der man so ziemlich alles Miteinander erfolgreich ausgetrieben und auf bloßen Konsum getrimmt hat. Daher sollte man sich vielleicht doch ernsthaft damit befassen, auch wenn's weh tun mag.

Zurück zu den kalifornischen Schwermetall-Buben. Denen kommt ja das Verdienst zu, Metal dereinst in den Mainstream gewuchtet zu haben, wie es heißt. Im Moment sind ja alle gegen den Mainstream. Weil der ganz doll abweichende Meinungen unterdrückt. Weswegen er seinerseits unbedingt bekämpft werden muss. Ich gestehe, 'Load', obzwar vielleicht kein Meilenstein des Rock, damals ziemlich amtlich gefunden zu haben, und der Opener 'Ain't My Bitch' ist bei angemessener Lautstärke immer noch ein echtes Brett. Nettes Riffing, paar Rhythmuswechsel, ordentliches Handwerk. Gab ich mir gestern. Aus alter Verbundenheit. Nimm dies, Metal-Mainstream!



10 Kommentare :

  1. Metallicas Debüt-Album "Kill 'Em All" gefällt mir retrospektiv immer noch am besten. Das Instrumental darauf, 'Wiplash' ist wirklich ein ewig geltendes Trash-Brett vom Feinsten.
    Zeitlos.
    https://www.youtube.com/watch?v=PJv8sY2CxZA

    https://www.youtube.com/watch?v=PJv8sY2CxZA

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    1. Nochmal Upps. Das Instrumental war 'The call of Ktullu'. Hab ich verwechselt.
      Na ja, beide hörenswert.
      So, jetzt höre ich auf Dich zuzuspammen und alte Zeiten heraufzubeschwören. :-)

      https://www.youtube.com/watch?v=t1RTgznup5c

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    2. Danke. Ist übrigens ganz einfach, Links als klickbare Links einzubauen. Wie das geht, habe ich am Ende der FAQ kurz beschrieben.

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    3. Danke! Werds mir beizeiten mal zu Gemüte führen.

      Schade übrigens, dass man seine Kommentare nicht editieren kann. Wären mir Peinlichkeiten erspart geblieben. :-)

      Die neue Metallica habe ich noch nicht gehört. Muss ich mal nachholen. Meine Erwartungen halten sich aber in Grenzen.

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    4. Stimmt. 'Call Of Ktulhu' ist in der Tat genial. Aber auf 'Ride The Lightning'... ;-)

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  2. Tema Funkenmariechen: Also als ich mich mal bei einer Kollegin über die Funkenmariechen lustig machte, gab sie zur Anwort, ich könne ihr auch das letzte bißchen Spaß nehmen.

    Sie war in früheren Jahren Jazz-Tänzerin gewesen, konnte immer noch ihre Beine hoch hinter den Hals schwenken (ich hab es auch versucht: aua.)

    Da bin ich ehrlich gesagt etwas in mich gegangen, habe gesagt: stimmt, und mich etwas geschämt.

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    1. Zum Teufel, auch den letzten, der es noch nicht weiß: die Mädels bei den Funkenmariechen, denen macht es Spaß, die Beine hoch zu werfen! Und den Herren der Schöpfung den Kopf zu verdrehen!

      (Wir Männer sind außer zivilisiert auch urtümlich ... aber die Weiber dito.)

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    2. Funkenmariechen gehören für mich eh zu den weniger unangenehmen Symptomen des Karnevals.

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  3. Vielleicht liegt der Erfolg solcher Musik auch darin, daß es ihre Kritiker schaffen, die Engstirnigkeit des Schlagers noch zu toppen. Meine vor allem das, was im Freitag verlinkt ist, das paßt so richtig schön rein in die Spaßverachtung der heutigen Linken.
    Klar, Berg ist musikalisch hochgradig seicht, aber ist das wirklich schlimmer als frühere Schlager?
    Und muß da immer gleich das große Rad gedreht werden, mit sexueller Ökonomie und sowas?
    Im direkten Vergleich sind es halt oft die Heimattümler, die als lockerer dastehen, und das nicht nur in diesem Bereich.
    Natürlich ist das kultureller Abstiegskampf, auf beiden Seiten, die echten Alternativen liegen woanders.

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