Dienstag, 2. Februar 2021

Kopfkino, verhartzt

 
Wussten Sie schon? Hartz IV-Empfänger, wie Bezieher von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch gemeinhin genannt werden, sind faul, dreist, unverschämt und verlogen! 1.300 Schleifen pro Monat hauen so welche mal eben zu zweit auffen Kopp. Einfach so. Von unsern Steuergeldern! Ehrlich! Stand in der Zeitung. Wenn ich so was lese, dann frage ich mich oft: Wie kommt das in die Welt? Was denken sich die, die so was schreiben? Was geht in ihnen vor, was bewegt sie, was treibt sie an? Tja, und dann rattert das Kopfkino los bei mir. Ich sehe vor mir eine Lokalredaktion im Ruhrgebiet. Es ist früher Nachmittag, der Spaß beginnt.

Der Ressortleiter Panorama ist ein ganz alter Hase. Ewig im Geschäft. Ist um die 60, hat zig Rationalisierungsrunden überstanden. Und Bluthochdruck. Und Diabetes. Hat den Job von der Pike auf gelernt, noch ohne Studium. Beim Sport angefangen und noch mit dem späten Stan Libuda zusammen gesoffen. Irgendwann ist er er zum Lokalen gewechselt. In den Achtzigern hat er mal mit einer Reihe von Artikeln einen korrupten Bürgermeister zum Rücktritt gezwungen. In der Branche nannte man ihn damals eine Weile den 'Woodward von Wattenscheid'. Darauf ist er noch heute stolz und erzählt immer gern davon.

Die Ausbildung des journalistischen Nachwuchses hat ihm immer sehr am Herzen gelegen. Also hat er einen Volontär beauftragt, eine halbseitige Hartz-IV-Reportage, genauer: einen Artikel über eine RTL2-Sendung über Hartz-IV-Bezieher zu schreiben, die er mit ihm besprechen möchte. Noch anwesend ist ein Redakteur, der seit Jahren ein Alkoholproblem hat, von dem der Ressortleiter als einziger weiß, aber die Klappe hält. Und damit sie nicht immer nur Kaffee kocht und mal sieht, wie das hier so abläuft, hat er zur Besprechung noch die junge Praktikantin gebeten, die im dritten Semester Was mit Medien studiert.

RESSORTLEITER: So, dann lass mal sehen, mein Junge, was hast du denn? Aha, aha, soso, sehr schön. Wie heißen die? Frank und Yvonne? Nee, Frank ist okay, Allerweltsname. Aber Yvonne ist mir zu wenig, zu wenig... Unterschicht… Das müsste… Müsste…
REDAKTEUR: Wie wärs mit Chantall? Harr harr. Chantall! Bruahahaharr!
RESSORTLEITER: Nee, komm, zu aufdringlich. Warte mal, warte mal…  Babsi? Nee, zu niedlich. Kriegen die Leute Mitleid. Oder Romina! Romina ist gut. Könnte sogar Migrationshintergrund haben. Aber nicht so dolle wie Ayshe, ne? Sonst simmer hier wieder die bösen Rassisten und heul, heul und so. Nee, Romina passt. Könnte auch ne Italienerin sein. Oder ne Spanierin. Wisst ihr noch? Eurokrise damals? Wollen an unser sauer verdientes Geld, die Pleite-Itacker! Bäm! Ahhh, Kinders, ich bin heute auch wieder so was von genial, ich könnte… Was ist mit dem Aufmacherbild? Zeig mal her!“
VOLONTÄR: Hier, Chef.
RESSORTLEITER: Super, gefällt mir. Kucken auch beide so, als wären sie nicht die hellsten Kerzen auf der Torte. Und auch schon bisschen angefettet, die zwei. Klar, wenn man den ganzen Tag nur auf dem Arsch sitzt und Chips frisst und Cola säuft anstatt zu malochen. Das mit den Scheinchen ist auch genial. Dann kriegt das so was, so was Haptisches. Was haben wir noch, mein Junge?
VOLONTÄR: Kucken sie mal hier (zeigt auf ein Foto)
RESSORTLEITER: Ahh, Schalke-Fan! Passt ja wie Arsch auf Eimer. Loser zu Loser gesellt sich gern. Harr harr!
REDAKTEUR: Aber die Schalke-Fans sind doch ne wichtige Zielgruppe. Da müssen wir aufpassen.
RESSORTLEITER: Ja, stimmt auch wieder. Warte mal…
REDAKTEUR: In der Sendung heißt es doch, Frank gibt pro Monat 300 Euro für seinen Lieblingsverein aus. Das geht doch, oder?
RESSORTLEITER: Hey, das ist brillant. Gute Arbeit
PRAKTIKANTIN: Ähhh,... Chef?
RESSORTLEITER: Ah, unser Küken! Was gibt’s?“
PRAKTIKANTIN: Ist 300 Euro ausgeben für Schalke im Moment nicht ziemlich schwierig? Ich mein, wegen Lockdown sind ja keine Zuschauer im Stadion, die Fanshops sind zu und…
RESSORTLEITER: Sehr gut, Mädchen! Immer alles hinterfragen. Nachrecherchieren. Dranbleiben. Aber wir nehmen das trotzdem rein.
PRAKTIKANTIN: Ja, aber…
RESSORTLEITER: Nix aber!
PRAKTIKANTIN: … die Fakten…
RESSORTLEITER: Aaaach, Fackten, Schmackten! Wen interessiert das?
REDAKTEUR: Genau!
PRAKTIKANTIN: Äh, aber wir machen doch Journalismus hier und...
RESSORTLEITER: Und was ist Journalismus? Richtig, Journalismus ist ein Geschäft. Ein Business. Und was heißt das? Das heißt: Wir wissen, wer unsere Zielgruppe ist und verkaufen der, was sie will. Kapiert, Mäuschen?
PRAKTIKANTIN: Nennen Sie mich bitte nicht Mäuschen!
REDAKTEUR: Hicks!
RESSORTLEITER: Hömma, Schätzken, datt iss hier nicht dein Gender-Streichelzoo anne Unni, datt hier iss datt Leben. Also komma klar! Wo war ich? Richtig, Zielgruppe. Lernfrage, Euer Hoheit: Wie viele Hartzies, glaubst du, lesen uns? Also jetzt nicht für umme in der Stadtbücherei, sondern so, dass wir auch Umsatz machen.
PRAKTIKANTIN: (schnippisch) Na ja, bei 1.300 im Monat für zwei sitzt wohl kein Zeitungsabo drin.
RESSORTLEITER: Eben! Verdienen wir was an denen? Eben. Die, die uns lesen, wollen sich gut fühlen, wenn sie die Zeitung aufschlagen. Zum Beispiel, wenn sie so ne Story lesen und sich denken: Boah, kuck dir die da mal an! Wie gut, dass ich da ganz anders bin.
PRAKTIKANTIN: Glauben Sie wirklich, zwei angebliche Sozialbetrüger wären so blöde, ihre Betrugsmaschen noch im Fernsehen und unter Klarnamen vorzuführen? Das ist doch Verarsche.
RESSORTLEITER: Hey, das ist kein Intellektuellenblatt hier! Wir sind nicht schuld daran, dass es so ist wie es ist. Wir begleiten das und müssen damit halt irgendwie Geld verdienen, sonst steht mir mein Chef auf den Füßen. Schätze mal, ich und der Kollege machen hier eh irgendwann das Licht aus. Wäre gut, wenn das erst passieren würde, wenn wir in Rente gehen.

Das Gespräch ging dann noch ein wenig weiter, aber das Wesentliche ist hier gesagt.

Beim Obigen handelt es sich übrigens um einen rein fiktionalen Text, der einzig und allein meiner Phantasie entsprungen ist. Jedwede Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären der pure Zufall.

War noch was? Die junge Praktikantin sollte sich bald entschließen, ihre journalistische Karriere nicht weiterzuverfolgen. Sie studiert jetzt Soziale Arbeit. 


Arbeitslosengeld 2 alias 'Hartz IV' wurde einst unter anderem implementiert, indem man einen wie 'Florida-Rolf' durch die Gazetten und einen wie Arno Dübel als Parade-'Sozialschmarotzer' durch die Talkshows schleifte und somit 'hart arbeitenden Menschen' vermittelte: "Schau mal, du stehst jeden Morgen in der Frühe auf für deine paar Kröten und der da macht sich auf deine Kosten einen lauen Lenz!" Und gleichzeitig diskret bemäntelte, dass es die Finanzmärkte waren, die sich auf Kosten der Allgemeinheit so richtig einen Lenz machten.

Jetzt ließ Sozialminister Heil verkünden, einen Gesetzentwurf für das SGB II einbringen zu wollen, der einige der ärgsten Zumutungen ein wenig abmildern soll. Abgesehen davon, dass es nunmehr der Job des größeren GroKo-Partners sein wird, dieses Vorhaben so lange abzubremsen, zu zerreden und abzuschleifen, bis nix mehr übrig sein wird, könnte man ja fast meinen: Hoppala, sollte der Absturz der Alten Tante von bis zu 46 % (1998) auf nunmehr 15 % tatsächlich erste Einsichten zutage fördern? Oder ist das das übliche Linksblinken vor einer Bundestagswahl? Bevor dann wieder Gevatter Sachzwang seine dürre Hand ausstrecken wird. Ich bin schon sooo gespannt.

Immerhin: Es scheint sich bis auf Regierungsebene herumgesprochen zu haben, dass es eher weniger eine Bombenidee ist, Menschen, für die schon der Kauf einer Busfahrkarte wohlüberlegt sein will, noch die Kosten für die neuerdings vorgeschriebenen FFP2-Masken aufzubrummen. Ansonsten bleibt's  beim alten Catch-22: Eine solide kleinbürgerliche Mehrheit ist weitgehend einverstanden damit, wie es ist und findet, ein jeder bekomme im Wesentlichen das, was er verdiene, und die davon Betroffenen gehen eher selten wählen





6 Kommentare :

  1. "Hoppala, sollte der Absturz der Alten Tante von bis zu 46 % (1998) auf nunmehr 15 % tatsächlich erste Einsichten zutage fördern?"

    Nein, es ist schlichtweg die Sorge, dass im Zuge der Coronafolgen nicht unbedeutende Teile eben der kleinbürgerlichen Mehrheit, die mit HatzIV bislang weitgehend einverstanden waren, jetzt eigene Erfahrungen damit machen könnten.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Guten Tag,
      "… nicht unbedeutende Teile der kleinbürgerlichen Mehrheit …"
      Ein interessanter Ansatz zum Thema "klassische SPD Wähler".

      Gruß
      Jens

      Löschen
    2. Die kleinbürgerliche Mehrheit, die mit Hartz IV einverstanden gewesen sein soll, setzt mich in Erstaunen. Gibts eine seriöse Umfrage?

      Löschen
  2. Der Text erinnert mich an die Serie "Gnadenlos gerecht" auf Sat 1, in der die Sozialfahnderin Helena Fürst als Sachbearbeiterin der Kreisverwaltung Offenbach mit der Kamera beim Aufspüren von "Sozialbetrügern" begleitete wurde. Das Format basierte ebenfalls auf der Aneinanderreihung von Klischees und Vorurteilen in Bezug auf Hartz 4 Empfänger.

    https://www.youtube.com/watch?v=onT3zdpSJfQ

    Aber auch der öffentl.-rechtl. WDR steht dem Geschäftsmodell "Proletenbashing" in nichts nach. Auf 1Life darf der selbsternannte Kümmerer Domian den Gullideckel zu den Abgründen der menschlichen Seele öffnen und ein Podium für Voyeuristen, Perverse und Fehlgeleitete bieten. Dabei ist mir aufgefallen, wie gelassen, sachlich, aufmerksam und geduldig er mit einem jungen Mann diskutiert, der sich sexuell mit seinem Hund vergnügt. (Wird nicht verlinkt.) Ganz anders dagegen, nämlich moralisch empört, schuldzuweisend und aufgeregt die Anruferin abwertend, kündigt er am Ende des Gesprächs eine Strafanzeige gegen die Hartz-4-Bezieherin an, weil diese noch nebenbei arbeitet.

    https://www.youtube.com/watch?v=XAKnQyqRqZ0

    AntwortenLöschen
  3. Nein, es handelt sich hier mit nichten um einen fiktionalen Text. Da hast Du schon ganz gut Mäuschen gespielt auf der Redaktionssitzung. Wenn Du diese Serie weiterklickst, landet man irgendwann auf Jackey aus Bremerhaven (woher auch sonst).

    -Jacky hat in ihrem Leben noch nie gearbeitet, dafür jedoch schon zwei Kinder bekommen. Wo die jedoch genau sind, weiß sie nicht. Das Jugendamt hat sie in Obhut genommen. Vor einigen Monaten hatte sie ihre beiden Töchter in Bremerhaven zurückgelassen, um in Berlin ungestört Party machen zu können. Bei ihren Kindern verabschiedete sie sich mit den Worten „Mama fährt jetzt in den Urlaub.“-

    m( Blöder kann man Leser nicht foppen.

    -
    Wie es mit Jacky weitergeht und ob ihr das Amt doch noch auch die Schliche kommt, siehst du immer montags um 20.15 Uhr bei RTL2.-

    Na wieviel wohl RTL2 für diese billige Werbung gezahlt hat?

    Fred


    AntwortenLöschen
  4. .....bei "Romina" assoziiert man doch eher auf eine Zigeunerin....

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.