Montag, 27. Juni 2022

Separatoren-Sauerei

 
Mein längst verstorbener bayerischer Urgroßonkel verdiente seine Semmeln einst als Viehhändler. Einmal nahm er meinen Vater, der gerade zu Besuch war, mit in die Schlachthofkantine. Da gab es für kleines Geld ein Stammessen. Lüngerl mit Knödeln, Bruckfleisch, Herzragout oder saure Nierndl. Mitunter auch Stierbeutel. Oder man bediente sich für ein paar Groschen aus dem riesigen Schlachtkessel, der in der Ecke vor sich hin simmerte. Darin schwammen neben Innereien wie Lebern auch Rüssel, Pfötchen, Schwänzchen und Ohren. Vatern wandte sich mit Grausen, die versammelten Fleischer- und Viecherer-Gesellen lachten sich eins über den Saupreiß', den damischen, und hatten eine klare Meinung: Da hat einer absolut keine Ahnung, was für Leckerbissen so a Schweinderl, a Kaibi, a Kuah oder a Ochs’ so alles bereithält.

Gegenden mit entwickelter Esskultur erkennt man übrigens daran, dass man sich dort vor dergleichen nicht bange macht. So was wie 'Schlachtabfälle' jedenfalls gibt es so gut wie nicht. Von einem Schlachttier wird alles verwertet, restlos. Nur was kraft der BSE-Verordnung verboten ist, muss vernichtet werden. Was für den menschlichen Verzehr absolut nicht geeignet ist, wird zu Tierfutter, Leim, Leder oder Dünger verarbeitet. Alles andere wäre Verschwendung. Auch der Magen- und Darminhalt wandert in die Biogasanlage oder wird als grüner Pansen an Tiere verfüttert.

Daher ist es auch Unfug zu behaupten, in die Wurst käme 'Müll' hinein. Wurst war immer eine Methode, jene Teile vom Tier, die keinen Braten abgeben und nicht anderweitig veredelt werden können, genieß- und vor allem haltbar zu machen. In Blut- und Leberwurst etwa kommt von jeher ein Anteil weich gekochte und zerkleinerte Schwarten. Das ist nicht ekelig, sondern eine hochwertige, weil nahrhafte Zutat, die Kalorien liefert und ganz ohne dubiose Pülverchen für Bindung sorgt. Jeder Koch weiß, dass Knorpel und Sehnen nichts Schlimmes sind, sondern in einer Sauce wahre Wunder vollbringen, von denen der durchschnittliche Tütenaufreißer nicht einmal was ahnt. Apropos: Glaubt ernsthaft jemand, für Hühnerbrühe oder Geflügelfond im Glas oder den allgegenwärtigen Hühnernudeltopf aus der Dose würden teure Suppenhühner ausgekocht? Hand hoch!

Zurück ins Bayern der Nachkriegszeit: Ein beliebter Trick der Bauern war es, die Kälber einen Tag vor dem Verkauf dursten und kurz vor dem Verkauf dann saufen zu lassen. So brachten sie gleich ein paar Kilo mehr auf die Waage und mehr Geld ein. Und, wurde da rumdiskutiert? Nein, wenn der Kaibi-Luck, wie mein Urgroßonkel genannt wurde, das vermutete, dann trat er dem Viecherl in den Bauch, dass es kotzte. Ich will solche Praktiken weder rechtfertigen noch gutheißen, aber gewerbliche Tierhaltung war noch nie ein Streichelzoo. Das muss um Himmels Willen nicht so bleiben, aber: Könnten wir bitte davon aufhören, wie viel mehr im Einklang mit der Natur die Menschen früher angeblich gelebt haben? Danke.

Gegen Anflüge von Nostalgie nach dem Motto "Früher, in der juten alten Zeit, da gab es noch gute, natürliche, hochwertige Lebensmittel", empfiehlt sich übrigens die Lektüre alter Kochbücher. In welchen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert finden sich meist ausführliche Kapitel darüber, wie man gestreckte, gepanschte und geschönte Ware erkennt und auf dem Markt nicht übers Ohr gehauen wird.

Bis 1995 gab es in meiner bescheidenen Heimatstadt eine Freibank. Dort wurde Fleisch, das nicht den höchsten Qualitätskriterien entsprach, etwa aus Notschlachtungen, aber noch als Lebensmittel taugte, billiger abgegeben. So konnten sich auch die, die haushalten mussten mit ihrem Geld, Fleisch leisten. Keine Freibank hat die Industrialisierung der Fleischverarbeitung, die Dumping-Praktiken und den damit einhergehenden Preisverfall bei Fleisch- und Wurstwaren überlebt. Krank geworden von Freibankfleisch ist niemand, weil das sogar strenger kontrolliert wurde als Fleisch im normalen Handel. Dennoch haftete ihm bis zuletzt der Ruch des Minderwertigen an. Merke: Wenn etwas nach allgemeiner Wahrnehmung als minderwertig gilt, muss das nicht unbedingt so sein. Es kann auch einfach bourgeoises Ressentiment sein gegen schlechter Gestellte, die sich Fleisch leisten.

Das alles geht mir so durch den Kopf, wenn ich mir das alberne Bohei besehe, das momentan wieder einmal um das so genannte Separatorenfleisch gemacht wird. Das sind fein zerkleinerte Fleischreste, die im Schlachthof mechanisch von den Knochen gelöst werden. Das gibt es, weil man bis vor einigen Jahren noch nicht die technischen Möglichkeiten dazu hatte. Man kann das eklig finden, aber wenn das sachgemäß verarbeitet und die Kühlkette nicht unterbrochen wird, ist das ein unbedenkliches Lebensmittel. Es sollte halt nur als solches deklariert werden. Wenn nicht, dann ist das in der Tat eine Sauerei, und zwar die einzige. Alles andere ist Getue. (Merke: Auch Wurstbrät, das kein Separatorenfleisch enthält, ist normalerweise ein "rosafarbener Brei".)

Es ist doch keine Raketenwissenschaft: Wenn ein Wursterzeugnis, wie von mir beobachtet, beim Discounter etliche Jahre lang zum exakt gleichen Bruttopreis feilgehalten wird, wir aber jedes Jahr ein, zwei Prozent Inflation haben wie die letzten ca. 20 Jahre über, dann muss der Hersteller die Produktion jedes Jahr billiger hinkriegen, sonst macht er alsbald Miese. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten: weitere Mechanisierung (will heißen: investieren, was aber auch wieder reingeholt werden muss), weitere Rationalisierung (will heißen: die Arbeiter noch mehr auspressen), immer noch größere Zerlege- und Verarbeitungsbetriebe in die Landschaft setzen, die Erzeugerpreise noch weiter drücken (will heißen: Kleinbauern ruinieren). Oder eben bei den Zutaten tricksen. So einfach.






11 Kommentare :

  1. .... im Hintergund höre ich den Vincent Klink eifrig in die Hände klatschen ... und der muß es ja wissen.

    Gruß
    Jens

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  2. Matthias Eberling27. Juni 2022 um 22:45


    Mein Vater ist auf einem Bauernhof großgeworden. Wenn ein Schwein geschlachtet wurde, kam ein Schlachtermeister, der alles fachgerecht verarbeitet hat. Dann gab es Blutsuppe, die Schinken hingen von der Decke und der Meister hat statt Geld seinen Anteil mitgenommen. Ochsenzunge, Leber und Kalbsbäckchen sind noch heute absolute Delikatessen, die viele Leute nicht kennen. Bei authentischen China-Restaurants gibt es Pansen, Schweinedarm, Hühnerfüße und Schweineohren als Leckerei.

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    1. Jep, allerdings würde ich bei Hühnerfüßen auch ein wenig zögern. Ist schon ein ziemliches Geglibber und Geschnurpse. Interessant aber, dass etwa Soul Food, das viele Innereien und 'Unedles' enthält, weil das das war, das die Sklaven als Proviant bekamen, als superauthentische Küche durchgeht.
      @Jens: Nette Vorstellung, tät mich freuen.

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    2. So ähnlich war es bei meinem Vater auch -- wobei die keinen eigenen Hof hatten, sondern nur drei Schweine im Stall (ein Eber und zwei Sauen). Da die Familie meines Vaters recht arm war, hatten die Tiere eine ganz besondere Bedeutung: Wenn man die Schweine mühsam dick und fett füttert, käme man nie auf den Gedanken, davon etwas *nicht* zu verwerten.

      Im Laufe der Jahre habe ich solche Kost wie Blutwurst, Möpkenbrot und Panhas doch sehr zu schätzen gelernt. Auch weiß mein Vater immer, bei welchem Bauer in der Heimat es die beste Hausmacherwurst gibt.

      Jetzt kriege ich Hunger ... ;-)

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    3. "Bei authentischen China-Restaurants gibt es Pansen, Schweinedarm, Hühnerfüße und Schweineohren als Leckerei."
      Ich erinnere mich noch an den Diät-Tip in der MAD, das China-Restaurant durch die Hintertür der Küche zu betreten. :D

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  3. Zum Lebensmittelfälschungen in der ,,guten, alten Zeit'' empfehle ich diese Episode von ,,Geschichten aus der Geschichte'':
    https://www.geschichte.fm/podcast/gag284/

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  4. ....was soll die ganze Aufregung?...letzten Endes geht es doch um die fehlende Deklaration dieser Produkte......

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    1. Wieso? Auf Pfirsicheistee steht auch nicht Schimmelpilzkultur drauf.
      Könnte ja die Konsument¹ (¹ mwdx, in, enden, bla) verunsichern.

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  5. Danke für diesen Beitrag. Hast Du vielleicht ein paar dieser "Rezepte" zur Hand? Ich mach mir erst mal ein Wurstbrot (Malmsheimer-Style). Früher war eben doch nicht alles besser...

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    1. Bedaure, ich hätte nur das hier anzubieten. Und hier gibt es das eine oder andere Traditionelle.

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  6. Ich esse gerne Nieren, Leber, Blutwurst und Leberwurst. Der von Vegetariern und Veganern hochgekochte Skandal mit dem 'Separatorenfleisch' ist ideologisch bedingt.

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