Donnerstag, 20. Oktober 2022

Kipppunkte

 
Damals, 1979, hat niemand ahnen können, dass der Epochenumbruch, der da losging, im Jahr 2022 noch immer andauern und kein Ende absehbar sein würde. Momentan knabbern wir nach wie vor am Zerfall der bipolaren Welt ab 1989/91. Eine USA als stärkste Militärmacht konkurriert mit China als stärkster Wirtschaftsmacht. Dahinter die Regionalmacht EU mit der meisten 'Soft power' in Form der weltweit höchsten Kaufkraft und Rechtssicherheit. Dahinter wiederum die Regionalmächte Russland mit dem (nominell) stärksten Atomwaffenarsenal sowie den meisten fossilen Ressourcen und Indien, das ebenfalls über Atomwaffen verfügt, aber zehnmal mehr Einwohner hat als Russland.

Zwischen diesen Akteuren wird die Machtbalance der Welt gerade ausgehandelt, Russland hat als erstes gezuckt.

Anderswo hingegen ist sehr wohl sichtbar, dass einige Entwicklungen, die damals ihren Anfang genommen haben, an ihre Grenzen stoßen bzw. ihren Zenit überschritten haben. Möglicherweise sehen wir da gerade gewisse Kipppunkte:

Großbritannien
1979 wurde mit der Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin der neoliberale Turnaround eingeleitet, an dem wir noch heute tragen. Austerität, Steuersenkungen, Sozialabbau. Jetzt wollte Liz Truss sich als eisenharte Wiedergängerin Thatchers inszenieren. Das ist gründlich danebengegangen. Nicht einmal die Finanzmärkte, scheint’s, goutieren so was mehr. Bevor die entsprechenden Gesetze in Kraft traten, musste Truss als Notbremse ihren Schatzkanzler feuern und die Bank Of England musste das Britische Pfund retten. Sie selbst war politisch so angeschlagen, dass ihr Rücktritt nicht mehr zu vermeiden war. Die Rezepte, die 1979ff. noch durchsetzbar waren, scheinen nicht mehr zu funktionieren.

USA
Vor seiner Wahl zum Präsidenten 1980 hatte Ronald Reagan die bis dahin eher apolitischen evangelikalen Christen als Wählerpotenzial für die Republikaner aktiviert. Trump verdankte seine Wahl 2016 unter anderem dem Versprechen, Abtreibung zu verbieten. Als der Supreme Court das Urteil Roe vs. Wade gekippt und damit vielen Bundesstaaten sehr repressive Abtreibungsgesetze ermöglicht hatte, sah alles danach aus, als seien die konservativen Frömmler am Ziel. Dann stellte sich heraus, dass sie wohl überzogen hatten. Der Protest gegen dieses Urteil erfasste auch viele Wechselwähler, sodass der als sicher geltende Sieg der Republikaner bei den Kongresswahlen ernsthaft in Gefahr ist.

Iran
1979 trat mit der Iranischen Revolution der politische Islam auf die Bühne der Weltpolitik. Der Schah floh ins Exil, der aus selbigem zurück gekehrte Ayatollah Khomeini errichtete einen schiitischen Gottesstaat, in dem unter anderem die Frauen nur vollverschleiert in die Öffentlichkeit dürfen. Die aktuellen Entwicklungen seit dem Tod von Mahsa Amani im September sind nicht völlig überraschend. Schon länger waren Videos in 'sozialen' Netzen im Umlauf, in denen junge Frauen, assistiert von jungen Männern, Sittenpolizisten tätlich angreifen, die den Frauen richtiges Kopftuchtragen befehlen wollen. Überraschend für Außenstehende ist allenfalls, wie weit der Protest auch in konservative Kreise reicht. Zwar weiß noch niemand, wie lange die Protestierenden letztlich durchhalten und ob sie das Mullah-Regime letztlich zum Einknicken bewegen werden, doch ist es gut vorstellbar, dass die Vorgänge in anderen islamischen Staaten mit Absolutheitsanspruch sehr genau beobachtet werden.

(Ceterum censeo: Ich habe kein Problem, wenn erwachsene Frauen bzw. Frauen, die zumindest alt genug sind, Reli in der Schule abzuwählen, sich aus freien Stücken dafür entscheiden, ihre Haare zu verhüllen. Zwar bleibt mir ein Rätsel, wieso Männer in Zeiten von YouPorn et al. sich beim Anblick unbedeckter weiblicher Haare in unkontrollierbare Sexmonster verwandeln sollen, aber ich muss das nicht verstehen und habe das nicht zu beurteilen. Jede Form von Zwang hingegen ist abzulehnen und nicht etwa als knuffige kulturelle Differenz zu verniedlichen. Jeder Mensch auf der Welt, dem es irgendwie um rechtliche Gleichstellung geht und dem es daran liegt, dass Menschen ihren eigenen Kram weitgehend selbst entscheiden können, sollte die Protestierenden im Iran irgendwie unterstützen, und sei es bloß dadurch, sie ganz spottbillig seiner Solidarität zu versichern. Das dröhnende Schweigen vieler Linker, vielleicht weil sie die Iranische Revolution insgeheim immer noch als antiimperialistischen Triumph über den großen Satan USA feiern, ist nichts weniger als schandbar.)

Fußball

Mit der aktuellen Ausgabe 23 endet die enorm erfolgreiche FIFA-Reihe von Electronic Arts und wird unter anderem Namen weitergeführt. Man habe sich nicht mehr mit der FIFA einigen können, wie es heißt. Damit endet nach knapp 30 Jahren eine Ära. Mir ist das ja egal, ich habe, wenn ich mal Lust hatte, ne Runde Fuppes am PC zu zocken, zu PES gegriffen. Vielleicht aber ist das ein weiteres Indiz, dass das Multimilliardengeschäft Profifußball kein Selbstläufer mehr ist. Auch in der Premier League, die immer damit geworben hat, spannender als andere Ligen zu sein, beginnt sich ob der Dauerdominanz von Manchester City Langeweile breitzumachen.

Beim letzten bin ich mir mit Abstand am wenigsten sicher. Freuen würde es mich trotzdem. Und vom Klimawandel war auch gar nicht erst die Rede.







7 Kommentare :

  1. ... das hat der Kollege Rose sehr fein hinbekommen — nicht zu lang, evtl. an der einen oder anderen Stelle vernachlässigbar zu kurz.
    (Großbritannien — extrem unübersichtliche, sich selbst und den Arbeitgeber zerstörende Gewerkschaftssituation), (USA — Vietnamkriegsende, Gerald Ford, Carter), (Iran — Komplette jahrzehntelange Ablehnung der Weißen Revolution — man lese sich gerne deren Ziele durch ...) Fußball interessiert mich nicht!

    Gruß
    Jens

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  2. DasKleineTeilchen21. Oktober 2022 um 14:38

    Die Rezepte, die 1979ff. noch durchsetzbar waren, scheinen nicht mehr zu funktionieren

    der Guardian unkte vor 2 tagen;

    For one thing, in those short few weeks, Truss may well have killed off an ideological project that has animated sections of the right, in Britain and across the democratic world, for the best part of half a century. The vision was of a low tax, low regulation society where the richest are freed to unleash their awesome talents and make themselves even richer.

    According to this vision – whether you call it Hayekism, ultra-Thatcherism, Reaganism or economic libertarianism – when the fortunate few at the top soar ever upwards, some of their wealth trickles down to those at the bottom. Versions of it have held sway at different periods in Britain, the United States and beyond.

    Now, though, such dreams will be branded as Trussonomics – and that label will be the kiss of death. In six short weeks Truss has discredited high-octane, free-market economics, perhaps for ever

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    1. Wenn das so wäre, dann wären das sehr gute Nachrichten indeed (hier der Link zum Artikel)..
      @Jens: Thanks.

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  3. Es waren die großen Krisen der letzten 15 Jahre (Bankenkrise, Griechenlandkrise, Klimakrise, Pandemie, Energiekrise), die den starken Staat zurückgebracht haben. Jeder hat in diesen Krisenzeiten gesehen, dass der Markt es nicht regelt bzw. nichts geregelt kriegt. Das hat man 1932 schon mal begriffen (Stichworte: New Deal, Keynes), 2022 hat man es wieder begriffen. Hoffentlich.

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  4. Antworten
    1. Mais pourquoi? "Kipppunkte" schreibt man mit drei p und eine ppp-Ligatur gibt es sicher bei Notenschrift.

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