Freitag, 18. November 2022

WM-Katarrh

 
"Are you ready for a FIFA World Cup like no other?" (Offizielle Werbung. Immer wieder schön, wenn welchen die Ironie nicht auffällt. Dieses sprechende Bettlaken ist auch ganz allerliebst.)

Morgen beginnt ja die WM der Schande im Arbeiterparadies. Versuchen wir das Ganze also, wie das an dieser Stelle gelegentlich geschieht, möglichst rational zu betrachten, einen Schritt zurück zu treten und das größere Bild anzuschauen.

Professioneller Fußball war auch schon lange vorher ein Riesengeschäft. Bis vor einigen Jahrzehnten allerdings, obwohl schon damals Riesensummen bewegt wurden, noch ein vergleichsweise überschaubares, das im Wesentlichen Europäer und Südamerikaner untereinander ausmachten. Ab den Achtzigern immer stärker nach dem Prinzip: In Europa ist das Geld, Südamerika ist ein schier unerschöpfliches Reservoir für Talente. Vielleicht ist die ablehnende Haltung in westlichen Ländern daher auch nicht nur evidenten Menschenrechtsverletzungen geschuldet, sondern auch Zeichen einer Überforderung.

Kurzer Themenwechsel: Es gab Zeiten, so Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, da war der Eurovision Song Contest hierzulande eine Sache unter ferner liefen. Wer das schaute, war entweder schwul, pardon, Mitglied der queeren Community, oder über sechzig. Kaum einer jedenfalls nahm das irgendwie noch ernst. Dann aber traten nach 1991 zunehmend mittel- und osteuropäische Länder auf den Plan und nahmen das zu allgemeiner Überraschung bitter ernst. Der Gewinn des ESC wurde dort zu einer nationalen Anstrengung zur Hebung des Nationalstolzes, für die einiges unternommen wurde, darunter auch halbnackte Sängerinnen und Tricksereien. Solch heiliger Ernst überforderte hier viele, für die irgendwie alles ironisch und meta war. Moment mal, so geht das aber nicht jetzt!

(Apropos queere Community: Ich las jetzt das schöne Bonmot, wenn im Herrenfußball ähnlich offen und entspannt mit queeren Aktiven umgegangen würde wie das beim Frauenfußball schon lange selbstverständlich ist, wäre Katar niemals auf die Idee gekommen, sich um die WM zu bewerben.)

Zurück zum Thema. Dass ein Land wie Katar mal eben eine WM kaufen kann, liegt schlicht daran, dass das große Geld im internationalen Fußball zunehmend aus Asien und den Golfstaaten kommt. Wer die WM in Katar boykottiert, müsste konsequenterweise mit gleicher Vehemenz dem FC Bayern München und der halben Premier League, wo das Emirat finanziell auch ziemlich tief drinsteckt, die kalte Schulter zeigen.

Und wenn diese Gegenden der Welt auch mitmachen beim großen Spiel, und zwar auf Augenhöhe, dann trachten die auch danach, ihre Wertvorstellungen da reinzutragen, und dann ist das nun einmal kein exklusives Vergnügen vornehmlich von Europäern und Südamerikanern mehr. Erst recht keines mehr, bei dem noch proletarische Wurzelreste erkennbar sind. Wer zahlt, schafft an. Erinnert sich noch einer an die pikierten Proteste von Europäern, als südafrikanische Fans 2010 sich erdreisteten, die Stadien mit ihren Vuvuzelas vollzututen? Genau.

Wiewohl man fairerweise sagen muss, dass hiesige Medien die Wüsten-WM immer kritisch gesehen haben, erweckt die Häufung irre kritischer Berichterstattung in den letzten Wochen, wiewohl sicher nicht beabsichtigt, jetzt, kurz vor dem Anstoß, den Eindruck von Blitzmerkertum. Dass die FIFA ein im Kern korrupter Haufen ist, wissen wir nicht erst seit gestern. Die Fehler, darunter die WM nach Katar zu vergeben, sind vor 12 Jahren gemacht worden. Damals hätte sich mit massiven Protesten vielleicht noch was reißen lassen. Vielleicht. Heute? Kind längst im Brunnen.

"Nein! Doch! Ohhh!" (de Funès)

Kein einziger Mensch, der auf einer der Baustellen ums Leben gekommen ist, wird von symbolischen Gesten wieder lebendig. Selbst wenn es gelänge, dass große Fußballverbände sich zusammentäten und einen Entschädigungsfonds für die Opfer auf die Beine stellten, wäre das sicher eine schöne Sache, die Gewinnler und Veranstalter hätten einen Grund mehr, über westliches Überheblichkeits- und Moralgehabe zu lästern. Denn der Westen ist schließlich das Böse. Mindestens aber dekadent. Auf dem absteigenden Ast.

Umso wichtiger daher, die Proteste im Iran nach Kräften zu unterstützen. Denn die zeigen, dass eine westliche Idee wie die, dass Menschen zumindest ihren privaten Scheiß gefälligst selbst entscheiden sollen, vielleicht doch attraktiver ist als gedacht. Die indifferente Haltung dazu, sei es aus wirtschaftlichen Interessen heraus oder weil man findet, 'der Westen' sei doch auch nicht besser und habe kein Recht, irgendwen zu kritisieren, ist hochgradig armselig.

Natürlich ist 'der Westen' keine Insel der Seligen und mitnichten perfekt (was auch kein vernünftiger Mensch ernsthaft behaupten würde). Aber man sollte sich schon überlegen, wo berechtigte Kritik am 'Westen', gern auch 'Wertewesten' genannt, bzw. dessen Verstrickungen umschlägt ins Nachplappern von Propaganda und in welches Horn man gerade tutet. In entsprechenden Gegenden der Welt hat man inzwischen Routine darin, entsprechende Kritik aus dem Westen mit dem Billigstanwurf der Arroganz zu kontern und mit dem Hinweis, man solle lieber mal vor der eigenen Türe kehren. Pardon, aber damit lässt sich im Zweifel jede Sauerei rechtfertigen.

Und schließlich ist es nicht minder armselig, nunmehr den Spielern die Verantwortung aufbürden zu wollen. Ihnen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ein Mikro hinzuhalten und ihnen jene Statements über Menschenrechte und Gleichstellung abpressen zu wollen, die man selbst seit Jahren versäumt hat. Was soll das bringen? Die Fehler wurden, siehe oben, lange zuvor von anderen gemacht. Gewiss, nichts geschieht im luftleeren Raum, aber kann man den Spielern jetzt wirklich verübeln, wenn sie begehren, nicht dran schuld zu sein und sich vor allem darauf konzentrieren wollen, möglichst gut zu spielen?

Man kann dergleichen verlogen nennen, gratismutig oder virtue signalling, aber wenn einer wie Goretzka eine Geste raushaut wie bei der letzten EM und damit ein paar der richtigen ärgert, fein, soll mir recht sein, auch wenn’s die Welt nicht rettet. Ich glaube schon, wir werden so was auch von anderen erleben. Jede Form von Zwang oder Druck aber würde genau das konterkarieren, wofür der Westen zu stehen für sich den Anspruch erhebt. Mit dem Dilemma muss man leben.

Und ich so? Seit 1986 habe ich einiges darangesetzt, nach Möglichkeit kein WM- oder EM-Spiel zu verpassen. Zumindest kein wichtiges. Mein Vater hat sich 1970 beim Halbfinale die Fingernägel weggekaut. 1982 hat er extra immer früher Feierabend gemacht. Um sich dann Grottenkicks wie gegen Algerien und gegen Österreich anzusehen. In den Neunzigern schwänzte ich an der Uni Vorlesungen, wenn die FIFA kicken ließ. Jede Vorrundenbegegnung war ein Event bei Bier, Pizza vom Lieferdienst oder Grillwurst.

Dann der Kipppunkt 2006, als nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien die fröhliche Feierstimmung in nackte Aggression umzuschlagen drohte und zumindest der italienische Teil der Welt auf einmal nicht mehr zu Gast bei Freunden war. Den Titel 2014 fand ich erfreulich, aber das Fußballfieber hatte schon spürbar nachgelassen bei mir. Inzwischen bin ich in einem Stadium angekommen, in dem mich das Gekicke so wenig interessiert, dass ich mir nicht einmal mehr was verkneifen muss. Kann trotzdem sein, dass ich mir das eine oder andere Spiel ansehe. Auf dem Sofa. Mit heißem Tee und Lebkuchen. Rock'n'roll! Wahrlich, weit ist's gekommen. Mein jüngeres Ich würde wohl heftigere Kämpfe ausfechten mit sich.






6 Kommentare :

  1. ... guten Tag, endlich wird dem (Normalo-)Fußballfan mal offen gezeigt, wo der Hammer hängt.

    "Dutzende von roten Bierzelten mit dem Budweiser-Branding waren da an diskretere Orte in den acht Stadien der Weltmeisterschaft zu verlegen, weg von dem Ort, an dem sich die meisten Besucher der Spiele aufhalten würden. [...] Dort werden Fans dann wohl nur die Möglichkeit haben, alkoholfreies Bier zu kaufen. Laut "New York Times" wird alkoholhaltiges Bier weiterhin in den Luxuslogen für FIFA-Offizielle und andere wohlhabende Gäste erhältlich sein.

    Gruß
    Jens

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    1. Und wenns doch noch irgendwo was mit Alk gibt, dann dieses amerikanische leicht alkoholische Erfrischungsgetränk mit dezentem Bieraroma *kicher*.

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    2. In einem Sketch von Monty Python hieß es mal in etwa: "your american beer is like making love in a canoe - it's fxxxing close to water!"

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  2. An den Stimmungsumschlag 2006 kann ich mich noch gut erinnern, da war in meiner ost- bzw. mitteldeutschen Heimatstadt ein niederlagentrunkener Mob kurz davor eine Pizzeria zu stürmen oder (weil schon geschlossen) wenigstens zu entglasen ... als Ersatzhandlung wurden dann italienische Flaggen verbrannt oder zertrampelt. Zu Gast bei Freunden am Arsch.

    Das Alkoholverbot in Qatar ist eine relative Farce, in jedem Hotel für Abendländer kann selbiger in die Minibar greifen und zu Apothekenpreisen vorglühen. Die restliche Stimmung erzeugt dann der erste Schritt aus der gut gekühlten Lobby in die klimatische Wirklichkeit dieses Landes, da trennt sich dann die Spreu vom Weizen. Der klischeehaft durchschnittliche Fan mit Schmerbauch und B-Cup unterm Nazionalmannschaftshemd könnte das als Chance auffassen, dann verbrennt er nämlich keine Flaggen, verliert nicht sein Artikulationsvermögen und hat wahrhafte weil nüchterne Freude im wahabitischen Disneyland am Persischen Golf.

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  3. "dann verbrennt er nämlich keine Flaggen, verliert nicht sein Artikulationsvermögen und hat wahrhafte weil nüchterne Freude im wahabitischen Disneyland am Persischen Golf."
    Das hast du sehr schön formuliert!

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