Mittwoch, 23. November 2022

WM-Katarrh (2) - Hinter der Binde


Was mir so auffällt: Die hiesige Nationalmannschaft hat gar keinen Spitznamen mehr. Einst gab es ja 'Bertis Buben' und danach 'Jogis Jungs'. Und nun? 'Hansis Honks'? 'Hansis Hosenscheißer'? Hier und da ist ja medial zu lesen, die feigen, rückgratlosen deutschen Spieler sollten sich doch bitte mal ein Beispiel an den mutigen Iranern nehmen. Deren Protest richtete sich zwar an das Mullah-Regime daheim, während es sich bei der Sache mit der Binde vor allem um eine Machtprobe mit der FIFA handelt, aber wer wird schon so pingelig sein.

Ohne Zweifel war die Aktion der Iraner mutig und ist die Reaktion des DFB auf das Bindenverbot windelweich. Nur ist das aber so, dass die FIFA und die katarischen Organisatoren bei dieser Veranstaltung eine ganz bestimmte Linie fahren: Verbote erst dann verhängen, wenn die Betreffenden quasi nicht mehr zurückkönnen. Das weitgehende Alkoholverbot in und um die Stadien wurde erst ausgesprochen als alle Flugtickets und Hotels bereits gebucht waren und das Turnier begonnen hatte. Die Aktion mit der bösen Globohomo-Binde war von den beteiligten Verbänden vor Monaten angekündigt worden, das Verbot hingegen wurde erst nach Turnierbeginn verkündet. Das muss dieses berühmte 'Fair Play' sein, von dem die FIFA so gern faselt.


Bei der Binde geht es um die klitzekleine zivilisatorische Selbstverständlichkeit, dass es gaga ist, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, die sie sich nicht ausgesucht haben, staatlicherseits das Leben zur Hölle zu machen. Sei es, weil sie von diesem gegenaufklärerischen Quark wirklich überzeugt sind oder bloß auf Stimmenfang gehen damit, labern seit einiger Zeit Arschgeigen wie Viktor Orbán, Patriarch Kyrill und eben auch der Emir von Katar in schöner Täter-Opfer-Umkehr davon, der Westen wolle der Welt diktatorisch allgemeines Schwulsein aufzwingen, woran deutlich zu erkennen sei, wo die eigentlichen Diktatoren säßen. You bet.

Bei allem Debattieren sollte man die gute Nachricht daran nicht übersehen. Parolen wie: "Jetzt vergessen wir das alles mal und widmen uns vier Wochen einfach mal nur dem Fußball und haben alle zusammen eine tolle Zeit!" verfangen offenbar nicht mehr.

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Was mir auch ohne die tätige Mithilfe von Hansis Hühnerhaufen und seinem sauberen Fehlstart gegen Japan noch so auffällt: Die überaus erholsame, völlige Abwesenheit von partypatriotischer Deko und Fanartikeln in Schwarzrotsenf im hiesigen Straßenbild. Keine Autofahnen, keine albern dekorierten Häuser und Menschen, nix. Das wird den Schand-Scheichs eine Lehre sein!

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FIFA-Supremo Gianni Infantino ist aus der heimischen Schweiz, wo es ihm zu heiß wurde, weil die Staatsanwaltschaft in mehreren Verfahren gegen ihn ermittelt, nach Katar gezogen, wo er jetzt brav den Willen der Herrscherfamilie exekutiert. Können wir bitte mit dem Hirngespinst aufhören, dass so jemand irgendwie für moralische Argumente empfänglich sein könnte? Einem Laden wie der FIFA kommt man exakt mit einem bei: Man redet in der einzigen Sprache mit ihm, die er versteht. Die mit den Dollarzeichen.

Obwohl sie sonst noch das eine oder andere tut, steht und fällt die FIFA mit ihrem wichtigsten Produkt: Der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer alle vier Jahre bzw. deren Attraktivität für Sponsoren, Werbetreibende und Regierungen bzw. Regimes aller Art. Größer sind nur die Olympischen Spiele. Die WM funktioniert aber nur, wenn die nationalen Verbände mitmachen. Was, wenn nun, sagen wir, sieben der größten (Brasilien, Argentinien, Frankreich, Deutschland, England, Spanien, USA) sagten: "Hey, FIFA, entweder ihr hört auf, uns in alles reinzuregieren und andauernd den Mund verbieten zu wollen oder wir treten einfach nicht mehr an."? Dann stünde Infantino plötzlich mit einem Rumpfturnier da, das schlagartig deutlich weniger wert wäre. Das, und nur das versteht er.

Erpressung? Utopisch? Bei der UEFA ist es meines Wissens mehr als ein Mal vorgekommen, dass die größten Clubs gesagt haben: "Hey, UEFA, entweder die Champions League findet so statt wie wir uns das vorstellen, oder wir machen unsere eigene europäische Superliga. Champions League ohne Real, Barca, City, Bayern et al. ist halt nur noch half the fun. Also, ihr habt die Wahl."

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Haltung. So important. Mr. Lineker und die BBC machen's vor.

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Übrigens: Wenn Westeuropa, wenn der DFB jene Paradiese der Diversity und der Toleranz sind, als die sie sich so gern inszenieren -- warum hat sich dann eigentlich noch kein queerer aktiver deutscher Fußballprofi geoutet, hä?  Das ist gewiss misslich und wer das scheinheilig nennt, kann das gern tun. Sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, dass in bindentragenden Ländern Drangsalieren, Verfolgen und Bestrafen von LGBTQs immerhin kein offizieller Teil der Staatsraison ist.







1 Kommentar :

  1. ... guten Tag zusammen,
    man stelle sich vor, die Mannschaft reist einfach ab (keine Binde — kein Auflaufen). Wie hoch wäre der zukünftige Einkommensverlust (zukünftiges Einkommens-Verlustrisiko) jedes Einzelnen der Mannschaft.
    Es sollte doch möglich sein mit Hilfe von ein zwei Spielerberatern oder Fussball-Managern dies auszurechnen ...

    Gruß
    Jens

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