Samstag, 24. Dezember 2022

Jenseits der Blogroll - 12/2022

 
"Als junger Mann war ich meistens zu aufgeregt, um irgendwie cool zu wirken. Mittlerweile fühle ich mich zu alt und zu müde, um mich über jeden Scheiß aufzuregen. Ich würde mich sehr freuen, wenn jemand das mit Coolness verwechseln sollte." (Kurbjuhn)

Die letzten Links und Fundstücke dieses verrückten Jahres. Vor zwölf Monaten hätte wohl noch niemand für möglich gehalten, in welchem Ausmaß wir über Krieg debattieren würden. Klar, es gab ein paar, die warnten, in der Ukraine braue sich etwas zusammen, aber das waren bloß Putin dämonisierende Kriegstreiber, die offenkundig Lack gesoffen hatten. Aber der Krieg in der Ukraine ist bloß ein Element unserer tiefgreifenden Verunsicherung. Peter Unfried hat das, wie ich meine, ziemlich gut auf den Punkt gebracht:

"Nichts auf der Welt ist mächtiger als eine gute Geschichte. Unser bundesrepublikanisches Problem ist: Wir sind eine gute Geschichte gewesen, haben aber keine gute Geschichte unserer Zukunft mehr zu erzählen. Keine gemeinsame, keine mehrheitsfähige, während die alte vor unseren Augen zerbröselt. Was speziell wir Möchtegern-Weltretter gut draufhaben, sind schlechte Geschichten." (Unfried, a.a.O.)

Man kann es daher auch so sehen: Die Welt nach immer absurderen Maßstäben schwarzweiß in woke und unwoke zu kategorisieren, sich (wieder) in den furzbequemen Schoß des Patriotismus zu begeben, wahlweise Putin zum großen Weltbösewicht zu erklären (wofür es ihm m.E. an einigem fehlt, wiewohl sein Body Count inzwischen beachtlich ist) oder einen US-geführten Westen zum verlogenen ('Wertewesten' - ha-haaa!) Weltunterdrücker zu stilisieren, ist letztlich auch nichts anderes als ein Versuch, inmitten der grassierenden Irritation irgendeine Gewissheit zum Festklammern zu finden. Wird nur nicht funktionieren. 

Robert Misik  über Verschwörungstheorien als Systemkritik für Paranoiker.

"Es gibt in den Kreisen, die für Verschwörungstheorien ansprechbar sind, sowohl antiautoritäre Grundempfindungen als auch einen Hang zum Autoritarismus. Beide können authentisch, also echt empfunden sein. Ein ferner Autokrat kann zum Widerstandskämpfer gegen eine Weltherrschaft verklärt werden, während man daheim jeder kleinen Amtsperson misstraut. Man kann sich sogar im Widerstand gegen die Macht wähnen und einen Autokraten gross machen." (Misik, a.a.O.)

Franziska Davies über Gabriele Krone-Schmalz.

Bernd Rheinberg: Gegen das Drumherumgerede. Ins Stammbuch.

"Zu viele sehr kluge Leute sind in den dreißiger Jahren nach drüben gegangen, abgehauen, haben Deutschland geschwächt. Warum noch mal? Das Hauptproblem: Der deutsche Kampf gegen den Minderwertigkeitskomplex führt immer wieder dazu, sich selbst für politisch wichtiger und einflussreicher zu nehmen, als man in Wirklichkeit ist. Es ist aber auch einfach bequem, mithilfe einer penibel kultivierten Äquidistanz zwischen Russland und den USA den Antiamerikanismus hinter einer scheinbaren moralischen Hochkultur des »braven Geschäftemachers« und »fairen Vermittlers« zu tarnen" (Rheinberg, a.a.O.)

Michel Friedman sagt im Interview, was Jude sein in Deutschland heißt. Wenn man das liest, kann man Jüdinnen und Juden verstehen, die auch 2022 noch sagen, sie lebten hier auf gepackten Koffern.

Interview mit Adam Tooze über dies und das.

Und noch eines mit Sarah Pohl über die Welt der Reichsbürger-Möchtegernputschisten.

Leo Fischer über den momentanen Zustand des Gesundheitssystems.

"Die aktuelle Medikamentenknappheit, die nicht nur Hustensaft, sondern auch Krebsmedizin betrifft, hat bezeichnende Dokumente der Selbstaufgabe hervorgebracht. Etwa die Empfehlung des Präsidenten der Bundesärztekammer an die Bürger*innen, sich auf Medikamentenflohmärkten selbst zu organisieren. [...] Währenddessen verhökern die Krankenkassen Globuli, Wellness-Angebote und Ernährungsratgeber, denn am besten ist die Medizin, die nichts kostet. Man hätte Verdacht schöpfen sollen, als sie »Gesundheitskassen« wurden, also schon dem Namen nach mit Kranken nichts mehr zu tun haben wollten. Jahrzehnte der Deregulierung sorgten dafür, dass im ländlichen Raum ganze Regionen nur noch mit dem Hubschrauber versorgt werden." (Fischer, a.a.O.)

Kultur/Gesellschaft/Gedöns. Warum geben Leute eigentlich hunderte Dollar aus für, sagen wir, eine Sonnenbrille, die in der Herstellung vielleicht drei Dollar kostet? Dr. Olson weiß Rat.

Portrait dreier lebenskluger Damen in Frankfurt, die schon länger glückliche Singles sind. Die sagen viele schlaue Dinge. Zum Beispiel: "Viele Menschen, die sich einsam fühlen, rennen vor sich selber davon und suchen das Glück in Äußerlichkeiten oder einem Partner." Oder: "Ich bin offen, aber aus Verzweiflung würde ich keine Partnerschaft beginnen." Bingo!

Ein interessantes Lehrstück, was einem passieren kann, wenn man in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wird. Im Naumburger Dom haben sie es jetzt gewagt, einen um ein zeitgenössisches Altarbild ergänzten Cranach-Flügelaltar aufzustellen, der zwei der berühmten Stifterfiguren ein wenig verdeckt. Wie schön, dass es noch Menschen gibt, die echte Probleme haben, dachte ich da.

Reinhard Lauterbach über die bürgerliche Oper als Hochleistungssport und die Parallelen zur kapitalistischen Arbeitswelt. Anregend.

"Viereinhalb Oktaven Stimmumfang -- das ist so inhaltsleer wie soundso viel Muskelkraft. Das Bürgertum, das daran gewöhnt war, seinen Proleten das physisch gerade noch Erträgliche abzuverlangen, tat dasselbe mit seinen Sängerinnen und Sängern. Der Unterschied zwischen dem Mailänder Tenor und dem schlesischen Weber bestand darin, dass jener wesentlich besser bezahlt wurde." (Lauterbach, a.a.O.)

Apropos Musik. Nein, dieses Mal lieber was Besinnliches. Warten aufs Christkind.


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Sport. Nach der WM erinnert uns Louis Richter daran, wo Fußball am schönsten ist. Bei den sechstklassigen Amateuren der SpVgg Erkenschwick zum Beispiel.

Essen/trinken/gut leben. Sie haben also gedacht, Sie könnten mit Stäbchen essen? Netter Versuch!


Vermutlich war es der Küchenchef Renato Gualandi, der 1944 im von der US Army befreiten Riccione die erste Carbonara der Welt kredenzte. Dazu verwendete er amerikanische Armeerationen, darunter Eipulver und nicht näher spezifizierten Käse (Armeerationen eben), und er pries angeblich den "bacon fantastico". Heute würde Gualandi vermutlich einen Shitstorm kassieren, weil er nicht, wie sich's geziemt, Guanciale, handgekästen Pecorino und Biohühnern unter dem Bürzel weggeklaute Supereier verwendet hat. Gudrun Harrer hält das Gesummse um das vermeintlich 'echte', 'authentische' Gericht für neumodischen Tüdelkram. So ist in Wien, wo man mit Gulasch weiß Gott pingelig ist, das Anzengruber-Gulasch, das - shock and horror! - nicht aus Wadschunken ist und noch dazu das Balkan-Universalwürzpulver Vegeta enthält (eine Art Fondor, bei dem authentizitätsversessene Foondies normalerweise hektisch Polizei und/oder Inquisition verständigen), eine durchaus akzeptierte Variante. 

Was ein Schokoladenhersteller sich so einfallen lässt, um Rabattaktionen zu verhindern. 

Das Rezept. Für Weihnachtsessen ist es ja jetzt zu spät. Außerdem ist seit November eh alles voll mit prätentiösem Krimskrams für jene, deren Weihnachtsmahl nicht traditionell überwölbt ist und auf Deubel komm raus originell sein muss (96,5 Stunden geschmorte Ochsenbäckchen auf Topinambur-Espuma mit Kürbischips an Tonkabohnen-Gremolata oder so). Will natürlich niemandem den Spaß am aufwändigen Kochen und Bewirten vermiesen, aber halt nur feststellen, dass ich nicht auch noch ein origi- oder traditionelles Weihnachtsrezept beisteuern muss und plädiere daher für gebackenen Blumenkohl auf asiatische Art. Das verlinkte Rezept hat zudem den Vorteil, dass das im Backofen gemacht wird und man sich nicht die ganze Küche mit rumspratzelndem Frittierfett einsaut. (Wer dennoch frittieren will, wird hier fündig, muss aber Englisch können.)

Schöne Feiertage allen!






4 Kommentare :

  1. "ist letztlich auch nichts anderes als ein Versuch, inmitten der grassierenden Irritation irgendeine Gewissheit zum Festklammern zu finden" — ja aber wollen wir das denn nicht alle? Die Alternative wäre doch eine "mir ist alles scheißegal"-Mentalität?
    Gruß
    Jens

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    1. Mitnichten. Etwas weniger Schwarzweißdenken würde für den Anfang doch schon reichen.

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  2. "Schwarzweißdenken" — aktuell schwer in Mode: Gegen Krieg / für Krieg — Coronamasken — Rot-Gelb-Grün ist doof und für alle Preissteigerungen im Lebensmittelhandel verantwortlich.
    Selbst beim letzten Punkt wird es in der Diskussion schon schwierig ...
    Gruß
    Jens

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  3. Der Röper hat schon recht.
    Der Rest ist westliche Propaganda.
    Ich war nämlich ganz zufällig 2 Mal vor Ort in dieser Region

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