Sonntag, 26. Februar 2023

Jenseits der Blogroll - 02/2023


Fast pünktlich zum traurigen Jubiläum des Ukraine-Krieges haben sich gestern zirka zehntausend wackere Friedensbewegte am Brandenburger Tor versammelt. Warum eigentlich nicht 350 Meter weiter an der russischen Botschaft? Egal. Frau Wagenknecht lud ja alle ein, die, so wörtlich, "reinen Herzens" seien. Erteilte also allen anwesenden Nazis und Rechten Absolution. Und unterstellte allen, die anderer Ansicht sind als sie, ein unreines Herz. (Die Spaltung! Die Spaltung!) Was letztlich bloß ein neuer Twist ihrer Strategie ist, alle, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht auf ihrer "Verhandlungen, sofort!"-Linie liegen, infamerweise zu "Bellizisten" und "Kriegstreibern" zu stempeln. Man kann es mal wieder auch mit Herfried Münkler sagen: Wenn Politiker anfangen, pietistisch daherzureden, ist das ein sicheres Zeichen, dass etwas gewaltig faul ist.

Politik/Ukraine. Timothy Snyder über Russlands atomaren Bluff. Eine Einladung zum strategischen Denken.

Es gibt Anzeichen, dass Russland die Doktrin aus dem Großen Vaterländischen Krieg 1941ff. einfach weiterführt: Soldaten sind Kanonenfutter, das man wie Dreck behandelt, Strategie und Taktik sind überbewertet, die Masse macht's, man spekuliert bloß darauf, dass der Ukraine die Munition ausgeht. Russland hat allerdings nur noch halb so viele Einwohner wie die Sowjetunion.

Interview mit Slavoj Žižek zur Ukraine.

Adam Tooze zur Ukraine-Hilfe.

Hannes Stein über die Verlogenheit der Pseudo-Pazifisten.

Ein Blick zu den Nachbarn. Franz Schandl über den FPÖ-Vorsitzenden Herbert Kickl: Der Rechtshegelianer.

Noch ein Jubiläum. Zu dem des Elysée-Vertrages eine charmante kleine deutsch-französische, oder besser berlinisch-pariserische Meditation von Aline v. Drateln.

„Wo die Franzosen Theatralik erwarten und honorieren, feiern die Deutschen Ehrlichkeit. Durchschnittlichkeit ist bei uns ein Beleg für Authentizität. In Frankreich ist es eine Beleidigung. Sie nennen es savoir-vivre. Die Arroganz, für den Moment zu leben. So viel Geld für einen Kaffee auszugeben wie in Berlin für ein komplettes Mittagessen. […] Dass Deutschland gerade ernsthaft darüber diskutiert, ob ein junger Moderator einer der bekanntesten Polit-Sendungen und die landesweit bekannteste Klima-Aktivistin »ein Paar sein dürfen«, versteht hier niemand. Pardon, es ist ja nicht mal Ehebruch.“ (v. Drateln, a.a.O.)

Kultur/Gesellschaft/Medien/Gedöns. Thomas Knüwer zur Causa Gruner + Jahr: Sagt nicht, ihr hättet nichts gewusst!

Leo Fischer über KI und Journalisten.

"Die nicht anders als erstaunlich zu nennenden Leistungen der Künstlichen Intelligenz wecken bei berufsmäßig oder habituell Schreibenden eine Mischung aus Staunen, Arroganz – und kaum verhohlener Existenzangst: Penibel werden dann die Fehler der Schreib-Maschine aufgezeigt; aus ihnen wird voll Inbrunst die Unersetzlichkeit menschlicher Autor*innenleistung abgeleitet. [...] Es ist dieselbe Inbrunst, die einst Stummfilmorchester oder Telegrafist*innen zur Verteidigung ihrer Unabkömmlichkeit aufbrachten. Vornehm gruselt man sich vor »seelenlosen« Texten, als wäre das, was der Durchschnittsjournalist aus Pressemitteilungen und Agenturmeldungen zusammenstümpert, innerlichkeitsentrungene Poesie." (Fischer, a.a.O.)


Marcus über die Phasen des Dunning-Kruger-Effektes.

Johannes Franzen mit einigen Notizen zum Hundekot-Eklat.

Musik. Oben war vom Elysée-Vertrag die Rede. Dazu passt das Chanson 'Göttingen', das die französische Sängerin Barbara 1964 ebendort geschrieben und zum ersten Mal aufgeführt hat (die charmante Hintergrundgeschichte gibt es hier). Das Lied ist in Frankreich sehr bekannt, in Deutschland eher weniger, was sich ändern sollte, wie ich finde. Hier eine aktuelle, orchestral aufgerüschte Version der Sängerin Pomme.


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Sport. Fällt aus.

Essen/trinken/gut leben. Sebastian Erb über den fashionablen Unfug mit den Bowls.

"Bowls sollen der Speisekarte Weltgewandtheit verleihen und sind in Wahrheit doch nur Ausdruck einer exotisierenden Spießigkeit. Und eines zeigt sich bei den Bowls besonders perfide: der Siegeszug des Kapitalismus. Denn Bowls sind grundsätzlich teuer, und die Hälfte des Preises geht offenbar schon für die Entwicklung der Namen drauf. […] Bowls sind schön bunt, sehen oft ganz hübsch aus. Weil es ja kein Essen ist, sondern healthy food, sind die Zutaten tendenziell ungekocht, sorry, raw, und tendenziell kaum gewürzt. Wir sind hier aber nicht bei Instagram und auch nicht auf dem Weg zum Yoga, wir haben Hunger!" (Erb, a.a.O.)

Wer kennt sie nicht, die Böhme Fruchtkaramellen? Die wurden einst in Mülheim an der Ruhr bei Wissoll hergestellt. Wissoll kaufte um 1991ff. die Delitzscher Schokoladenfabrik in Sachsen und verlagerte irgendwann die Produktion dorthin. Zu Karneval haben die auch säckeweise zu beziehenden kleinen viereckigen Dinger Hochkonjunktur als Wurfgeschosse. Ein amüsantes Interview mit dem Geschäftsführer Darren Ehlert.

Jörn Kabisch über Bradwoorschd. Woran man eine gute erkennt? Daran, dass man beim Essen nicht einmal auf die Idee kommt, sie in Sempf zu stupfen.

Das Rezept. Auf Olymp-Niveau, wo die Michelin-Sterne funkeln, die Toques deckenhoch sind und die Tradition wabert, kann französisches Gekoche ungeheuer dogmatisch sein. Irgendwo las ich, wie der amerikanische Journalist Bill Buford, der auf eigene Kosten ein einjähriges Praktikum in einem Lyoner Restaurant machte, einmal vom Grand chef einen gewaltigen Anschiss kassierte, weil seine säuberlichst geschnittenen Steinbutt-Portionen nicht jede exakt 62,5 Gramm wogen. Als der arglose Ami meinte, bei aller Liebe zur Präzision und zur Kochkunst, aber auf ein halbes Gramm käme es doch wirklich nicht an, bekam der Maître erst recht einen Rappel und der aufmüpfige Praktikant wurde von Teilen der Brigade bis zum nächsten Tag aus der Küche verbracht, bevor noch Schlimmeres passierte. (Unklar ist, ob der Wutanfall der schlampigen Arbeit geschuldet war oder der Tatsache, dass ein vorwitziges Köchlein mit weniger als zehn Jahren Berufserfahrung, zudem aus einem barbarischen Land, es überhaupt gewagt hatte, mit dem Küchenbullen diskutieren zu wollen.)

Am anderen Ende herrscht zuweilen erfrischendes Laissez-faire. Vor allem im Bereich der daubes, der langsam in Wein gesimmerten Schmortöpfe, deren berühmteste Bœuf Bourgignon und Coq au vin sind. Hier gilt: Hat man Zutaten von ordentlicher Qualität, dann wird das schon. Baguette dazu und den Wein, den man zum Kochen verwendet hat und fertig. Über die Unmöglichkeit, in hiesigen Breiten ein richtiges Coq au vin zu machen, wurde hier schon an anderer Stelle berichtet: Ein alter Hahn ist hierzulande im freien Verkauf kaum zu kriegen. Am besten, man hilft sich hier mit einer Poularde von einem ordentlichen Erzeuger (ich ziehe Coq au riesling vor, da ich die fruchtig-säuerliche Weißweinsauce besser passend zu Geflügel finde).

Eine Variante, die ich noch nicht kannte, ist Poulet a'la Normandie. Aus der Normandie kommt angeblich die beste Sahne der Welt, aus der Bretagne die beste Butter. Die Normandie ist berühmt für ihre Äpfel und Erzeugnisse daraus wie Cidre und Calvados. Da weiß man bereits, wo bei diesem Rezept der Gockel langläuft. Gebraten in Butter, flambiert mit Calvados, geschmort in Cidre, dazu karamellisierter Apfel und viel Sahne. Ein einziger Anschlag auf die Arterien, aber geil. Nur bei einem gilt auch an diesem Ende der französischen Küche kein Laissez-faire: Bei der Qualität der Zutaten. Wer ein mickriges Folterhähnchen nimmt, zu mildgesäuerter deutscher Markenbutter, H-Schlagsahne und picksüßen Wasseräpfeln greift, kommt hier nicht weit.

(Eigentlich wollte ich nur Herrn Westerhausens Blog ein wenig bekannter machen.)






10 Kommentare :

  1. Am Ende ihres lebenslangen "linken Kampfes" stehen Lafontaine, Wagenknecht und Schwarzer zusammen mit einem Ex-Merkel-Militär auf einer Bühne und lassen sich von einer Menschenmenge bejubeln, der man verbieten musste, faschistische Symbole zu tragen. Einer Menschenmenge, die auf dieses Verbot mit Hohngelächter und Buhrufen reagierte. Und der Nähe baumelte ein Nachdenkseiten-Banner von einer Stange. Diether Dehm war auch dort, er will über 50'000 Teilnehmer gesehen haben...

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  2. Mag ja sein, dass die Antikriegsler alles Querschaben sind (Wetter war auch Scheisse), wenn die Prokrieg Antifa aber von der Springerpresse gefeiert wird, sollte das nicht auch zu denken geben?

    Wenn das Kapital, wie zb Bosch, sich die Hände reibt, dann geht es wohl kaum um Menschen- oder Völkerrecht, sindern eher um Profitzuwachs.
    Und Profit der einen ist meist das Joch der anderen.

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    1. Ich verrate Ihren mal was: Es kannt theoretisch passieren, dass ich nicht umhin kann, 1-2 Punkte aus dem AfD-Wahlprogramm ganz okay zu finden. Das ist aber etwas anderes, als gemeinsam mit denen auf einer Demo rumzulatschen. Wenn eine Demo von einer nennensweren Anzahl Rechten und Nazis gekapert wird, ist das nicht meine Veranstaltung und ich gehe da nicht hin. Da mag der Zweck noch so edel sein.
      In der Springerpresse steht auch geschrieben, dass Wasser nass ist. Bin ich jetzt Fan?
      Jaja, und das böse Kapital reibt sich die Hände. Kann man voll unmoralisch finden. Glauben Sie, russische Rüstungsfirmen arbeiten umsonst oder Gazprom ist eine karitative Einrichtung?
      Werden Sie bitte erwachsen.

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    2. Rose kann seinen Fetten als Kampfdrohne einsetzen

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  3. Vielen Dank für diese Erleuchtung.
    Da wurde ich wohl falsch sozialisiert.

    Deshalb streikt man ja auch nicht mehr für höhere Löhne, könnten doch Rechte von profitieren oder gar mitstreiken. (bei einem Bevölkerungsanteil von mindestens 10-20% unvermeidbar)

    Und kleine Gewerkschaften hat der holde Gesetzgeber ja in weiser Voraussicht verboten.

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    1. Und wenn Sie mich freundlicherweise erleuchten würden, was das mir dem Ukrainekrieg und der gestrigen Geisterbahn in Berlin zu tun hat...

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  4. Der Beitrag von Slavoj Žižek fasst in etwa zusammen, was mir bei Querfront et al schon länger auffällt. Die Rechte nutzt wie am Ende der Weimarer Republik explizit linke Themen, um sich als Versteher und Hanler für das "Volk" darzustellen. Das Unterwandern verschiedener Strukturen wie auch Justiz usw. hat dabei System. Ich denke, nicht nur Frau Wagenknecht hat sich jetzt und schon vorher während der Pandemie in etwas verrannt und kommt nicht mehr so wirklich aus der Sache heraus. Je mehr sie an Kontra erfährt, umso verbissener wird die Argumentation geführt und dabei ist doch dieses Kritisieren und Diskutieren statt Basta-Politik ein Kern linken Denkens.

    Hannes Steins Kommentar dagegen ist für mich eher ein ziemlich konfuser Rant mit allerlei Herleitungen, die nicht immer zusammenpassen. Fatalerweise habe ich bei den Waffenlieferungen auch Bauchschmerzen und lehne sie ab, mir ist aber sehr bewusst, dass die anderen Optionen aus ukrainischer Sicht keine sind, die u.a. auch auf der Demo angeführt werden, solange sich Russland nicht auf wirkliche Gespräche einlässt. Mir schwant allerdings, dass wir im Windschatten des Krieges eine nahezu endlose und abgeschottet von jeglicher Kritik expandierende Rüstungsindustrie aufbauen, wie auch die jetzt schon nachgelegtenForderungen an das 100-Milliarden-Paket zeigen.

    Es bewirkt wahrscheinlich nichts beim Ausgang des Krieges, aber in Bezug auf Žižeks Kommentar schliesst sich da ein Kreis. Gelangt dieses Arsenal in die Hände offensichtlich erstarkender Rechter, dann könnte das Szenario geeinter Rechter rund um die Welt real werden. Der letzte Absatz bringt es auf den Punkt.

    Was den Beitrag zu den Gewerkschaften betrifft, so wurden die nicht verboten, sondern mittels TEG versucht, in ihrer Wirkmacht einzuschränken. Ganz fertig ist das vor dem Hintergrund der Tarifautonomieimmer noch nicht. Und Ideologie und politische Sichtweisen sind meines Wissens für eine reine Mitgliedschaft unerheblich, denn im Gegensatz zu anderen Ländern sind Gewerkschaften in D in erster Linie Arbeitnehmervertreter und deren organisierter Gegenpol zu den Konzernen. Arbeitervertreter sind sie leider oft schon lange nicht mehr.

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  5. ... ich bin mal gespannt, was demnächst aus den Ostermärschen wird.
    Da habe ich schon ein paarmal dran teilgenommen und fand den Grundtenor immer korrekt.
    Allerdings — man war ja maximal im Kalten Krieg — aber immer unter "seinesgleichen" (Gewerkschaft, SPD).
    Bei Wikipedia findet man folgende Zitate: Wolfgang Thierse (SPD) sprach im Hinblick auf die oft bemühte Parole "Frieden schaffen ohne Waffen" von einer "Arroganz unerträglicher Art" gegenüber den Menschen in der Ukraine.
    Alexander Graf Lambsdorff, bezeichnete die Ostermärsche in einer "Zeit"-Kolumne als "fünfte Kolonne Putins.

    Anscheinend scheint der der Wunsch nach Frieden etwas aus der Mode zu kommen.

    Gruß
    Jens

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  6. Es ist schon sehr aufschlussreich, dass es Wagenknecht und Schwarzer nach der Veranstaltung nur darum geht, das Märchen von den 50.000 Teilnehmern in die Welt zu blasen. Erinnert mich an eine Querdenker-Demo an gleichem Ort, zu der angeblich (laut Veranstalter) 8,5 Millionen Leute gekommen sind.

    Viel wichtiger: Gab es in Moskau und Kiew Reaktionen auf die Vorschläge? Sind wir Verhandlungen ein Stück näher gekommen? Oder ging es nur um narzisstische Selbstdarstellung und die Aufmerksamkeit der Medien?

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    1. Roberto de Lapuente meint auf dem Neulandrebellen-Blog: "Lieber Rechte, die für Frieden sind, als Linke, die den Krieg wollen". Als ob Linke den Krieg wollten.
      A propos Neulandrebellen: Gemäss eigenen Angaben wurde der Presseausweis 2023 dem Neulandrebell und NachDenkSeiten-Mitarbeiter Jörg "Tom" Wellbrock verweigert.
      Am 14. Januar 2022 hatte Jörg Wellbrock noch stolz erwähnt, wie er seinen Presseausweis an einer Corona-Demo zücken konnte. Der Presseausweis gilt nur für das aufgedruckte Kalenderjahr. Ab Oktober des laufenden Kalenderjahres kann ein Folgeantrag für das folgende Jahr gestellt werden. Die Verbände legen an die Ausgabe von Presseausweisen einen strengen Massstab an, damit der Presseausweis als Arbeitsmittel für hauptberufliche Journalisten und Journalistinnen nicht seinen Wert verliert, wie der dju/ver.di in seinem Merkblatt schreibt.

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