Mittwoch, 22. April 2020

Jenseits der Blogroll - 04/2020


"Die Friseure werden nun ebenfalls geschlossen. Bald sehen alle derart scheiße aus, da fällt dann wenigstens das Abstandhalten leichter. […] Ich warte schon auf die Namen der nach der Wiedereröffnung umbenannten Frisiersalons: »Hairzweiflung«, »Locke down«, »Corona Haarpfusch« – da einen Termin zu bekommen wird nicht leicht." (Ulli Hannemann)

Zeit wieder für den monatlichen Blick durchs Netz. Ich habe es versucht. Mich bemüht. Ernsthaft. Hat aber nicht geklappt. Ganz ohne Corona geht es nicht. Pardong.

Politik/Wirtschaft/Gesellschaft. Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze zur Corona-Krise. Und noch eines auf deutsch, in dem die Bundesregierung alles andere als gut wegkommt.

Stefan Sasse sieht mit der Krise das Ende der liberalen Weltordnung gekommen. Wiewohl man, wie auch eingangs dieses lesenswerten Beitrags angemerkt, mit historischen Vergleichen höchst vorsichtig sein sollte, eine interessante Überlegung. In Kürze: Die mit dem Ende des ersten Weltkriegs etablierte erste liberale Weltordnung war in den 1930ern bereits am Ende. Der zweite Weltkrieg beschleunigte ihr Ende bloß. Jetzt stehen wir endgültig am Ende der zweiten liberalen Weltordnung, die 1947 in Bretton Woods begonnen hatte, die Corona-Krise wirkt hier als Beschleuniger. "[Auf] den Untergang der ersten liberalen Weltordnung folgte kein Utopia, weder das, das sich die Rechten, noch das, das sich die Linken erhofften. Es folgten Chaos, Krieg, Zerstörung, Tod -- und eine zweite liberale Weltordnung. Hoffen wir, dass wir wenigstens aus diesen Fehlern lernen werden." (Ebd.) Jawohl.

Michael Miersch erinnert an Zeiten, in denen Sport uncool war, es rebellischen Freidenkern niemals eingefallen wäre, zu laufen, ein Fitnessstudio aufzusuchen, sonstwie zu sporteln oder sich gar für gesunde Ernährung zu interessieren. 

Der Ökonom David G. Blanchflower über den Selbstbetrug mit der Vollbeschäftigung. Eine niedrige Arbeitslosenquote bringt überhaupt nichts, wenn viele unterbeschäftigt sind (bis hin zu Null-Stunden-Verträgen, die nichts anderes sind als eine moderne Form der Sklaverei, wie Blanchflower richtigerweise anmerkt).

Frédéric Valin findet: Diejenigen, die jetzt Pflegekräfte beklatschen, beklatschen in erster Linie sich selbst.

Arno Frank über den Meinungskrieg in den (vornehmlich digitalen) Medien, der vor allem eines ist: ein für die Teilnehmer funktionierendes Geschäftsmodell.

Es sah nach einer guten Idee aus. Im Netz sollte eine 'Gegenöffentlichkeit' aus 'alternativen' Medien entstehen, die den 'etablierten' Medien auf die Finger schauen und ihr Beine machen sollte. Inzwischen ist das vielerorts (leider) zu einer eigenen Filterblase geworden, in der ziemlich genau das passiert, was man den 'etablierten' vorwirft: Meinungsmache, Abschottung gegen Kritik, Selbstgerechtigkeit, Selbstüberschätzung, Lagerdenken. So formuliert es auch der ehemalige 'Rubikon'-Mitbegründer Florian Kirner alias Prinz Pi in seiner Kritik an der Berichterstattung seines ehemaligen Projekts in der Corona-Krise. Die unprofessionelle, verschnupfte und patzige Reaktion der Kritisierten scheint ihm recht zu geben.

Kultur. Die Historikerin Elife Biçer-Deveci über das Alkoholverbot im Islam am Beispiel der Türkei. Spoiler: Im Osmanischen Reich wurde ursprünglich durchaus fröhlich gezecht, bis man sich westliche Temperenzler zum Vorbild nahm.

"Feuilletonisten erinnern Konsumenten an ihre quasi-moralische Pflicht, Indie-Buchläden zu unterstützen, die jetzt in die Knie gehen, weil sie eben nur zu Schuljahresbeginn und zu Weihnachten mehr als zehn Kunden am Tag gesehen haben. […] Klar, der nächste Berlinroman oder die nächste nachdenkliche Provinzheimkehr junger Hipster würden uns jetzt als Gesellschaft weiterbringen!" (Dana Buchzik)

-- so Dana Buchzik in einer Polemik über den Literaturbetrieb, wo man zur Zeit offenbar aus der Tatsache, dass eine (bildungsbürgerliche) Minderheit der Bevölkerung gern über Gedrucktes parliert und den kleinen Buchladen an der Ecke unverzichtbar findet, Systemrelevanz ableiten will. Vollends verräterisch, aber ins Bild passend, auch die unfassbar dünkelhafte Erklärung des Verbandes deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (Facebook!) zum Unterschied von Künstlern und gewöhnlichen Hartz IV-Beziehern. Man verbittet sich, Künstler ins ALG II zu drängen mit der Begründung, das sei schließlich nur für Nichtstuer. Aha.

Wolfgang Sandner gratuliert Chris Barber zum Neunzigsten. Ice cream, You scream...

Sina Doering ist trotz ihres jugendlichen Alters eine versierte Schlagzeugerin. Sie ist unter anderem Drummerin bei 'The Gäs' und betreibt den YouTube-Kanal 'sina-drums', der nicht nur Freunden der Rockmusik viel Freude bereiten dürfte. Gelegentlich spielt sie auch mit hoffnungsvollen Nachwuchskräften zusammen, zum Beispiel einem gewissen Brian May.


(Video im erweiterten Datenschutzmodus. Anklicken generiert keine Cookies.)

Schon älter. Eine schöne Erinnerung von John Walsh an seine Zeiten als 'Airfix Boy'. Auf Englisch. Walsh war einer von den Jungs, die zwischen Kindheit und Pubertät die Streitkräfte aller Länder und Epochen friedlich vereint als Plastikmodelle im Kinderzimmer hatten. Bringt irgendwie eine Saite zum Klingen bei mir. Und auch er hatte immer diesen Plastikkleber an den Fingern. Und den Lösungsmittelgeruch von den Farben in der Bude und...

Sport. Interview mit dem früheren Eiskunstläufer Norbert Schramm. Der ist nach seinen Erfolgen zu Beginn der Achtziger ein wenig in der Versenkung verschwunden, während sein damaliger Kollege und Konkurrent Rudi Cerne Fernsehmoderator geworden ist. Lang nichts gehört von Schramm. Entspannter Typ.

Essen und Trinken. Jörn Kabisch und ich sind einer Meinung, was Dosenravioli angeht. Lieber das Virus!

Fast das Rezept des Monats: Sensation! Ikea veröffentlicht Rezept für Köttbullar. Steht aber nichts drin, was man als versierter Frikadellenwender nicht eh gewusst hätte.

Zum eigentlichen Rezept des Monats: Coq au vin ist ein Klassiker der französischen Bauernküche. Und quasi nicht zu machen. Ein Hahn ist nämlich kein Hähnchen (poulet), kein Masthähnchen (poularde) und erst recht kein Kapaun (chapon). Ein coq ist ein Hahn, der aus Altersgründen seinen Aufgaben - Befruchten und Beschützen der Hühner - nicht mehr gerecht wird und kurz vor Eintritt des natürlichen Todes zu was Essbarem gemacht wird. Da so ein Vieh aber normalerweise zäh wie Schuhsohle wäre, ist man darauf gekommen, es in kräftigem Wein zu marinieren und dann für mehrere Stunden darin weichzuschmoren.

Am ehesten ist ein coq das männliche Gegenstück zum Suppenhuhn (poule). Das ist eine Legehenne, die aus Altersgründen das Eierlegen eingestellt hat. Coq au vin ist also in gewisser Weise vergleichbar mit Omas Hühnerfrikassee, das es immer als Zweitverwertung der Festtagssuppe gab. Eine Möglichkeit, aus dem vom Suppekochen übriggebliebenen, eher geschmacksarmen Suppenhuhnfleisch noch etwas Genießbares zu machen und um nichts wegzuschmeißen.

Sind Suppenhühner problemlos erhältlich, ist ein Gockel im Rentenalter so gut wie nicht zu kriegen. Weil die Aufzucht männlicher Küken bei der industriellen Legehennenzucht nicht lohnt, werden sie immer noch sofort geschreddert. In der Fleischhähnchenmast werden beide Geschlechter zu turbogemästeten Kümmerlingen gedopt. Die einzige Chance liegt eigentlich darin, jemanden zu kennen, der privat Hühner hält und bereit wäre, einem so ein Exemplar beizeiten abzumurksen und zu überlassen. Was schön wäre, denn Geschmack und Konsistenz sollen eher an Wild- denn an Hausgeflügel erinnern.

Wer nicht in so einer glücklichen Lage ist, muss daher Kompromisse machen. Felicity Cloake macht den besten, wie ich finde.





1 Kommentar :

  1. Siewurdengelesen22. April 2020 um 20:06

    Der Artikel von Florian Kirner trifft es auf den Punkt.

    Leider ist derart dialektisches Denken viel zu selten.

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.