Freitag, 14. Juli 2023

Sommerloch: Völkerballerei


Wie jedes Jahr um diese Zeit erleichtere ich mir auch heuer die Bloggerei, indem hier ein paar Wiederholungen erscheinen. Warum sollen das nur Fernsehsender dürfen? Passend zum Beitrag über die Bundesjugendspiele letztens folgt ein Klassiker aus der Reihe 'Opa erzählt vom Schulsport' aus dem letzten Jahrhundert.

'Scharfschützen', so und ähnlich wurden G. und O. damals genannt. Ihren schusswaffenhaften Würfen entkam nichts und niemand. Weil unsere Sportlehrer das bald raus hatten, sorgten sie dafür, dass G. und O. beim Völkerball nie in der selben Mannschaft waren. Sonst wäre die Sache nämlich nach wenigen Minuten vorbei gewesen. Völkerball erschien mir damals vor allem hochgradig entlastend für Sportlehrer zu sein. Keine große Vorbereitung, kein Geräteaufbauen, einfach einen Ball gegriffen und gesagt: So, wählt mal eben zwei Mannschaften, wir spielen ne Runde Völkerball! Was sollten sie auch groß machen? Zu meiner Zeit gab es noch einzelne Sportstunden von 45 Minuten Länge. Zog man das Umziehen ab, blieben da netto vielleicht noch zwanzig Minuten übrig.

Außerdem ist das Regelwerk so simpel, dass man es dem ärgsten Bildungsallergiker normalerweise in zirka fünf Minuten erklären kann. Was denjenigen, die binomische Formeln für eine ansteckende Krankheit halten oder immer vergeblich ein Lob erwarten, wenn im Deutschunterricht von einem Prädikat die Rede ist, eine echte Chance verschafft, auch mal zu glänzen. Clever wie ein Strohsack, aber werfen, das kann er! Umgekehrt vermag das höchst überschaubare Völkerball-Reglement auch mäßig begabten Pädagogen unter den Sportlehrern das Erfolgserlebnis zu verschaffen, einer Klasse mal etwas beigebracht zu haben.

Obwohl ich nie gut darin war, fand ich Völkerball immer noch um Längen besser als von einem verkappten Stabsunteroffizier, der offenbar seine Uniform gegen einen Trainingsanzug getauscht hatte, mit Trillerpfeife im Schweinsgalopp um den Sportplatz gejagt zu und dabei in einer Tour angebrüllt zu werden. Oder von dieser Referendarin, die zweifellos ein Vorleben als verkrachte Wuppertaler Ausdruckstänzerin hatte, zu expressiver rhythmischer Sportgymnastik genötigt zu werden als sei ich ein Mädchen.

Weil meine Reflexe schon damals eher mau waren, wurde ich beim Völkerball eh meist als einer der ersten getroffen und konnte den Rest der Partie am Spielfeldrand herumstehend verbringen. Wobei ich aber das Glück hatte, nie der Allerschlechteste im Fangen und Werfen gewesen zu sein. Zwei bis drei stellten sich immer noch dümmer an als ich und bekamen den Spott ("Schwuli!", "Qualle!") ab. Und weil jedes Mal sowieso G. und O. als letzte übrig blieben, die beide nicht nur wurfgewaltig, sondern auch sehr reaktionsschnell und flink auf den Beinen waren, konnte so ein Match sich durchaus ein wenig hinziehen.

Wenn nun kanadische (immerhin keine amerikanischen) Wissenschaftler herausgefunden haben wollen, beim Völkerball handele es sich im Prinzip um nichts anderes als "organisiertes Mobbing", dann würde ich darauf gern mit folgender Gegenfrage antworten: Bei welcher sportlichen Disziplin außer Yoga denn bitte nicht? So ziemlich jede Sportart hat in entsprechendem Setting Mobbing- oder Demütigungspotenzial. Voll lustig, wie entsprechend tickende Sportlehrer, die außer Muckis und einem zweiten Staatsexamen nicht viel hatten im Leben, sich damals beim Geräteturnen gezielt die Bewegungslegastheniker und Übergewichtigen rauspickten, um sie zur allgemeinen Erheiterung vor der ganzen Klasse lächerlich zu machen ("Tja, das kommt davon, wenn man sich jeden Tag in der Pommesbude fettfrisst!", "Ich habe noch nie im Leben so einen unsportlichen Sitzsack wie dich gesehen! Hau bloß ab, bevor mir noch schlecht wird!"). Kommt deswegen jemand auf die Idee, Turnen aus dem Sportunterricht zu verbannen?

Natürlich ist es nicht schön, beim Fußball ein ums andere Mal die Erfahrung zu machen, von Dribbelkönigen getunnelt und umspielt zu werden wie eine Slalomstange. Nein, es ist kein Spaß, bei den Bundesjugendspielen immer haarscharf an einer Urkunde vorbeizuschrammen. Das muss aber nicht zwingend ein Problem sein. Das wird es erst, wenn man dem übermäßigen Wert beimisst und Menschen deswegen für minderwertig erklärt. Oder aus der trivialen Tatsache, dass es überall Begabtere und weniger Begabte gibt, ein Riesendrama macht. Etwa, weil überspannte Eltern glauben, weniger als Topnoten in ausnahmslos allen Fächern gefährde bereits das spätere Einbiegen des Thronfolgers in die Karriereüberholspur des Lebens.


Nicht Völkerball ist das Problem, sondern die herrschenden Verhältnisse

Mögen Eltern ihre Kinder früher eingeschult haben mit den Worten: "So, das ist jetzt deine Schule. Wir sehen uns dann in sechs bzw. neun Jahren wieder. Ach ja, versuche bitte, nicht andauernd verprügelt zu werden, ich kann hier schließlich nicht jeden Tag auf der Matte, du verstehst. Halt dich gerade, Junge.", so scheint das heute zum Teil ins glatte Gegenteil umzuschlagen. So sehr ich gegen Sprüche bin wie, was einen nicht umbringe, mache einen härter, finde ich es schon problematisch, Kindern jegliche, noch so kleine Zumutung ersparen zu wollen. Weniger um des Härterwerdens willen, sondern, um überhaupt so was wie Selbstbewusstsein entwickeln zu können. Das setzt nämlich voraus, auch seine Schwächen zu erkennen und zu akzeptieren. 

Schwer fällt es zuweilen, angesichts der Verbissenheit, mit der diverse Pädagogen und Eltern für ihre Sprösslinge einen einzigen Safe Space von Welt herbeiverfügen und -verbieten wollen, nicht in jenen doofen Kulturpessimismus zu verfallen, mit dem man sich eigentlich nie hat gemein machen wollen. Wenig Peinlicheres gibt es als alternde Schreiberlinge, die, munter ihre Vergangenheit idealisierend, aufzählen, was ihnen alles auch nicht geschadet habe. Daher nur zwei bescheidene Beobachtungen meinerseits:

Abgesehen davon, dass halbwegs gesunde Kinder im Zweifel viel mehr aushalten als diverse Pädagogen und Eltern zu glauben pflegen, sind selbstbewusste Kinder, also Kinder, deren Wohlbefinden nicht allein davon abhängt, immer nur bestätigt zu werden, viel eher in der Lage, sich auch mal zu wehren. Als uns die Völkerballerei irgendwann auf den Zwirn ging, haben wir uns einfach nicht mehr bewegt und und freiwillig abwerfen lassen. Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei und der Sportlehrer sauer. Wohl weniger ob unseres Ungehorsams, sondern weil er wieder Unterricht vorbereiten musste. Nur braucht‘s für so was Solidarität und einen gewissen Zusammenhalt. Könnte sein, dass es eher damit hapert in diesen Zeiten.

Übrigens: Es stellt angeblich, wie jetzt beklagt wird, ein nicht hinzunehmendes Trauma dar, wenn ein Kind einen Schaumstoffball an den Kopf bekommt. Seltsam, wer bei uns einst einem Mitschüler mutwillig einen Ball an den Kopf pfefferte, wurde sofort des Feldes verwiesen und durfte sich umziehen gehen. Es kommt halt auch ein wenig auf das beteiligte Personal an. Und auf die Idee, Völkerball mit einem Softball zu spielen statt mit einem Volleyball, wäre auch niemand gekommen. Keine Flug- und Abpralleigenschaften, die wabbligen Dinger.

Hätten Sie‘s gewusst? Während Völkerball für Turnvater Jahn, wie so vieles, wehrertüchtigenden Charakter hatte, wird die angelsächsische Variante der Übung dort schlicht als 'Dodgeball' bezeichnet. Was der Sache gleich einen anderen Spin verleiht.


Dieser Artikel ist hier zuerst am 3. Juli 2019 erschienen und wurde nicht geändert.






3 Kommentare :

  1. Völkerball mit Schaumstoffball?
    In meiner Schulzeit, so Gymnasium 5. bis 7. Klasse Anfang bis Mitte 70er, haben wir Völkerball mit Medizinbällen (und zwar den großen, schweren) gespielt.

    Das hat nicht nur Riesenspaß gemacht und Kondition gegeben, sondern war auch nicht verletzungsanfällig. Die schweren Lederkugeln haben einen bestenfalls umgeschmissen, aber eben auf dem gefederten Turnhallenboden. Am Kopf wurde da nie jemand getroffen, so hoch konnten wir die Medizinbälle gar nicht wuchten.

    AntwortenLöschen
  2. "wenn ein Kind einen Schaumstoffball an den Kopf bekommt"
    Boris vollkommen recht. 1963 bis 1969 wurde das bei uns genauso gemacht. Wegen des hohen Gewichts und der daraus folgenden geringen Energie des Balles gabs halt auch keine schweren Verletzungen — außer bei den Doofen, die das Teil in die Fresse bekamen ... die wurden dadurch andererseits aber auch für regelmäßigen Prügeleien hinter den Toiletten ertüchtigt.

    Schlimmer waren eigentlich die Sprungübungen über diese gepolsterten Hindernisse mit Hilfe eines kleinen Holz-Federbretts. Ich sage nur "Handstandüberschlag" wenn da links und rechts vom Hinderniß die "Falschen" Helfer standen — Auweia, da gab es oft Tränen. Aber in dem Alter waren wir Kleinen ja noch elastisch, da ist nicht sofort was dran kaputt gegangen. So eine Prellung wegen einer Bruchlandung hatte ja auch einen akustischen und optischen Effekt, der dann sogar in der nächsten Pause ein gewisses Renomee sicherte — falls man das mit den Tränen im Griff hatte.
    Kurzer Nachtrag: Prügeleien wurden immer 1 zu 1 ausgetragen, auch wenn man Verwandschaft auf der Schule hatte (Haltung, Ethik, Moral)

    Gruß
    Der Dicke mit dem Bart

    AntwortenLöschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.