Samstag, 1. Juli 2023

Verführerisches


"Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat." (Erich Kästner)

Nicht zufällig war in der Nachkriegszeit 1945ff. das Narrativ von den 'verführten Deutschen' vor allem in bürgerlichen Kreisen beliebt. Die Deutschen seien insgesamt ein total super friedliches Kulturvölkchen gewesen -- ja gut, das hatte sich wegen eines in jeder Hinsicht überforderten Staatsoberhauptes, der aber leider Monarch und somit unabsetzbar war, in diesen Krieg hineinziehen lassen, aber wir wollen nicht kleinlich sein --, dann aber sei wie Kai aus der Kiste, quasi aus dem Nichts, der diabolische, charismatische Superbösewicht Hitler über sie gekommen und habe sie mit seinen unwiderstehlichen, schwarzmagischen Kräften zum Nazitum verführt. (Dass zum Verführen immer zwei gehören, wie jede*r Paartherapeut*in weiß -- nun ja.)

1945 sei dann für die Deutschen das böse Erwachen gekommen. Voller Entsetzen mussten sie sehen, zu was für schlimmen Dingen der Übercharismat Hitler mit seinen teuflischen Superkräften sie hypnotisiert hatte, ohne dass sie das bemerkt hatten. Und ganz traurig waren sie da, die armen verführten Deutschen, weil der Rest der Welt jetzt so sauer auf sie war. Kollektivschuld, buhu, voll gemein! Wir sind doch alle Individuen und man hat das doch gar nicht alles mitbekommen. Und wenn doch, dann war man im Widerstand. Also in dem Sinne, dass man ja schon vor 33 geahnt hat, dass das kein gutes Ende nehmen wird mit diesem Hitler. Und? Schnöde bombardiert und vertrieben ist man worden, schluchz!

(Die abgeschwächte Variante ist übrigens die von Hitler als 'Betriebsunfall der deutschen Geschichte'. Da ist es zum Vogelschiss nicht mehr allzu weit.)

Tja, und jetzt, keine 100 Jahre später, stellt sich raus: Fuck, es braucht überhaupt keinen diabolischen, charismatischen Superbösewicht mit übernatürlichen Verführungskünsten, um ausreichend Deutsche dazu zu bewegen, Faschisten an die Macht zu bringen. Ein Haufen mittelmäßiger Funktionärsgesichter, die deren  Ängste und Ressentiments bedienen, reicht völlig aus. Was es damals wie heute braucht, sind Bürgerlich-Konservative, die sich einbilden, die Faschisten kontrollieren zu können und in ihrer Hybris nicht merken, wie sie sich zu Steigbügelhaltern machen.

"Die grundlegende Erzählung ist seit jeher, dass es eine kulturelle Bedrohung gebe. Die kam lange Zeit von außen durch Migranten. Jetzt kommt sie auch von innen, durch den Umbau der Gesellschaft zur Klimaneutralität -- ein zentrales Projekt der Ampel und der Grünen. Der Mechanismus ist bei Migration und Klima derselbe: Die AfD nimmt ökonomische Ängste auf und verwandelt sie in eine kulturelle Gefahr, in der es nicht mehr allein um das Portemonnaie, sondern die Lebensweise und Identität von Menschen geht, die »asylgeflutet« oder »ökodiktatorisch« ausgetauscht werden sollen. Wer dann wie Markus Söder oder Hubert Aiwanger mit seinem Fleischpopulismus genau diese Erzählung aufgreift -- auch wenn es nur in Stichworten passiert --, legitimiert damit das Szenario der vermeintlichen Ökodiktatur." (Johannes Hillje)

Haben Sie schon gehört? CDU und CSU blasen jetzt mit einem Programm, das sie allen Ernstes 'Agenda für Deutschland' sich nicht entblöden zu nennen, zum "Angriff auf die Ampel". Na also! Da schlafen wir doch alle gleich viel ruhiger. Weil, nicht vergessen: Die Grünen sind schuld, Habeck ist das Böse in Menschengestalt, Linksextremismus ist viel schlimmer, Regenbogenfahnen machen schwul, Klimakleber und Antifaschisten sind Terroristen und eine Erbschaftssteuer öffnet die Pforten der Hölle.

Schlaf gut, Michel! Dieses Mal wirst du hinterher leider nicht sagen können, so was hätte ja niemand ahnen können.



P.S.: Es tut mir aufrichtig leid, dass Klaus Baum verstorben ist. RIP.










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