Samstag, 6. Januar 2024

Schätzelein

 
In Essen habe ich von 1990 bis 1996 studiert. Wiewohl die Stadt mit nie Heimat geworden ist, hängen doch einige Erinnerungen dort. Außerdem fiel mir ein, dass ich den zu recht berühmten Domschatz bloß ein Mal und sehr flüchtig in Augenschein genommen habe. Da ich ein paar Tage frei hatte, und es am Freitag zur Abwechslung mal nicht pausenlos schüttete wie aus Eimern, bot sich eine kleine Reise in die Vergangenheit an. Drei liebe Menschen, mit denen ich schon lange zu tun habe, wollten sich anschließen. Die Vorzeichen für einen netten, anregenden Tag standen also gut.

Domschatz. Um 850 wurde das Stift Essen aus dem Umfeld des Hildesheimer Bischofs Altfrid gegründet. Das war kein Kloster, sondern eine Art Internat für adlige Töchter, das von einer Äbtissin geleitet wurde, die als einzige ein Keuschheitsgelübde abzulegen hatte. Die auf der umgebenden Flur namens Astnidhi gelegenen Gehöfte zur Versorgung des Stifts bildeten die Keimzelle der späteren Stadt Essen. Die Äbtissinnen von Essen, die sich bald nach der Gründung als höchstem Adel rekrutierten, darunter Mathilde, Enkelin von Otto I., oder Theophanu, Enkelin Ottos II., waren ab 1216 offiziell Reichsfürstinnen.

Zentrum des Stifts war die Stiftskirche. Das ottonische Westwerk stammt aus dem 10. Jahrhundert und nimmt die Architektur der Aachener Pfalzkapelle auf. Nach einem verheerenden Brand im 13. Jahrhundert fügte man im Osten einen gotischen Hallenbau an. Nachdem das Stift 1803 im Zuge der Säkularisierung aufgelöst worden war, wurde es als Pfarrkirche genutzt. 1958 wurde das 'Ruhrbistum' Essen gegründet und die Münsterkirche wurde zur Kathedralkirche des Bistums. 



Das berühmteste einzelne Stück des Domschatzes ist die Goldene Madonna, die älteste vollplastische Holzfigur nördlich der Alpen. Die ist aber nicht in der Schatzkammer ausgestellt, sondern im linken Seitenschiff des Münsters. Auch der von Äbtissin Mathilde Ende des 10. Jahrhunderts in Auftrag gegebene siebenarmige Leuchter steht in der Kirche. In der Schatzkammer erwartet den (kunst-)historisch Interessierten eine in Europa ziemlich einmalige Sammlung hochmittelalterlicher Kunst. Darunter vier ottonische Vortragekreuze, das Theophanu-Evangeliar, ein karolingisches Evangeliar, Das Zeremonialschwert aus dem 10. Jahrhundert (heute noch Teil des Essener Stadtwappens) und etliches mehr.





(Tiefergehende Analysen finden sich beim Kollegen Burks, der auch die besseren Bilder hat.)

Weiter Richtung Norden gen Viehofer Platz. Die Viehofer Straße, die dorthin führt, war schon in den Neunzigern ein hartes Pflaster. Vergitterte, verrammelte Fenster, viel Halbseidenes. Waffenläden, Pornokinos ("Opa, was ist ein 'Pornokino'?"), Sexshops ("Opa, was ist ein 'Sexshop'?"). Heute bekommt man eher den Eindruck, die Viehofer läge in Damaskus. Dahinter die Uni. Die Fläche hat sich inzwischen verdoppelt, der alte Güterbahnhof, der einst beim Blick aus Seminarräumen entscheidend zum verranzten Panorama beitrug, wurde längst abgeräumt und durch ein schickes modernes Wohnquartier ersetzt.

Auch sonst hat sich einiges verändert: Der Riesenkomplex der Filiale der Deutschen Bank, wo ich einst in den Ferien als Bürobote jobbte, ist inzwischen zu 90 Prozent fremdvermietet, das Café Overbeck am Hauptbahnhof, über 80 Jahre lang ein Denkmal plüschiger Kaffeehauskultur, ist schon seit 2014 Geschichte. Für Musikfans war Essen bis in die Nuller ein Wallfahrtsort. Nicht weniger als vier große, gut sortierte Plattenläden ("Opa, was ist ein 'Plattenladen'?") gab es allein in der Innenstadt: Karstadt hören und lesen, genannt 'Höle', und Radio Fern an der Kettwiger, Schossau am Kopstadtplatz, Müller for Music an der Limbecker Straße, später noch Saturn am Porscheplatz. Übrig: Nichts. Was Amazon übrig ließ, wurde von Streaming abgeräumt. Auch die Heinrich-Heine-Buchhandlung am besagten Viehofer Platz, seit 1978 Nahversorger der Uni, hat Mitte 2023 aufgegeben. 



Außer Andrä hält nur Sascha mit seinem Second Hand-Plattenladen 'Yeah Music' an der Ecke noch tapfer durch. Aber wohl auch nicht mehr lange, wie man munkelt. 



Ist bestimmt auch die Ampel dran schuld.








5 Kommentare :

  1. "Ist bestimmt auch die Ampel dran schuld."

    Wie zynisch ist das denn? Millionen von Menschen kämpfen um ihre Existenz, als Folge der Politik der letzten Jahre und Sie machen sich darüber lapidar lustig? Sry, kein Like von mir.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Das ist nicht zynisch, das ist sarkastisch gemeint.
      Denn es ist vermutlich so, dass die gleichen Leute, die alles günstiger im Internet kaufen, diejenigen sind, dessen Städte immer mehr veröden. Es ist einfach so, dass diese Leute aber nicht bei ihnen selbst die Ursache suchen.

      Löschen
    2. Endlich jemand, der den Unterschied zwischen Zynismus und Sarkasmus kennt.

      Löschen
  2. Mit Essen verbindet mich mein einziger Marathon rund um den Baldeneysee, von dessen Attraktivität hier nicht die Rede ist. Zieleinlauf bei 3:26 Std. Heute noch Läufer- und Bikermekka.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Es ist wohl ein typisches Problem der 55 bis 65-jährigen. "Ihre" Innenstädte sind noch da, aber der Inhalt ist weg.

      Gruß
      Jens

      Löschen

Mit dem Absenden eines Kommentars stimmen Sie der Speicherung Ihrer Daten zu. Zu statistischen Zwecken und um Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar sowie IP-Adresse und Timestamp des Kommentars. Der Kommentar lässt sich später jederzeit wieder löschen. Näheres dazu ist unter 'Datenschutzerklärung' nachzulesen. Darüber hinaus gelten die Datenschutzbestimmungen von Google LLC.