Samstag, 31. Oktober 2015

Alibikirgisen


Der Geschichtslehrer, den man mir in der Oberstufe zugeteilt hatte, war schon älter und riss sich keine zwei Beine mehr aus für seinen Job. Das wurde ihm aber von den meisten nachgesehen, weil er ein prima Kerl war. Dem konservativen Bürgertum jedoch, aus dem die Mehrheit der Schülerschaft sich rekrutierte, war er ein Dorn im Auge. Er war Ende der Sechziger als Junglehrer einer der ersten gewesen, der es gewagt hatte, ohne Krawatte zum Dienst zu erscheinen und er war wohl einmal von einem Lokalreporter auf einer Veranstaltung der DKP, deren Mitglied er nie war, fotografiert worden. Daher hatte er seinen Ruf als eisenharter Kommunist weg, als fünfte Kolonne Moskaus, der unschuldige Kinderseelen mit seinen gottlosen Lehren zu indoktrinieren trachtete. Als der Mann auch noch Schulleiter wurde, sahen sie endgültig den Untergang des christlichen Abendlandes gekommen. Gab es also damals auch schon, so ein hysterisches Gehuste und es war damals schon Blödsinn.

Weil er meist nicht vorbereitet war, habe ich über das historische Wissen, das ich bei ihm gelernt hatte, nach dem ersten Semester Geschichte nur müde lächeln können. Ich war ihm nicht böse deswegen, denn ich fand, ich hatte anderes, nicht minder wichtiges gelernt bei ihm. Oft gerieten wir im Kurs einfach miteinander ins Reden über aktuelle Ereignisse. Das war manchmal langweilig, manchmal aber auch sehr spannend. Zum Beispiel zu Zeiten der Barschel-Affäre. Er ließ den Leuten ihre Meinung. Es war ihm wichtiger, dass wir lernten, einen eigenen fundierten Standpunkt zu entwickeln und zu vertreten als einen bestimmten zu haben. Gefiel mir und gefällt mir noch heute. Da heißt aber nicht, dass er alles hätte durchgehen lassen. Extremisten aller Art gab er gnadenlos der Lächerlichkeit preis. Dazu hatte er eine ganz bestimmte Methode.

Ein Halbjahr lang saß jemand von einer anderen Schule im Kurs. Ein scharf gescheiteltes Bürschchen aus arriviertem Hause, dem es gefiel, mit revisionistischen Sprüchen zu provozieren. Er war der Meinung, Hitler gölte unangefochten als größter Staatsmann aller Zeiten, wäre ihm bloß dieser dumme kleine Ausrutscher mit den Juden nicht unterlaufen, und überhaupt müsse doch endlich einmal ein Schlussstrich her. Er hatte für damalige Verhältnisse – es waren die Hochzeiten des Vokuhila – ungewöhnlich kurze Haare, trug gelegentlich einen schwarzen Ledermantel, auf dem Schulhof zeigte er stolz seinen HJ-Dolch und das Eiserne Kreuz, das sein Opa angeblich aus der Hand von Feldmarschall Rommel persönlich erhalten hatte. Damals vor dem Mauerfall war so jemand noch ein völliger Exot auf dem Gelände eines satten westdeutschen Bildungsbürgergymnasiums.

Vorherzusehen, dass der Typ irgendwann mit besagtem Geschichtslehrer aneinandergeraten würde. Spätestens, wenn die NS-Zeit drankommen würde. Passierte auch. Oder besser, es passierte nicht. Der Lehrer ließ ihn einfach reden. Bot ihm ein Forum. Unterbrach nicht, sagte kein Wort, hörte interessiert zu, unterband unsere Wortmeldungen. Das stachelte Jung-Siegfried erst recht auf. Er wähnte sich auf der Siegerstraße und steigerte sich rein. Irgendwann kam er ganz von selbst zu dem Punkt, dass es selbstverständlich höher- und minderwertige Rassen gäbe, das sei doch wohl nicht weiter der Debatte wert, und dass den Juden doch ein Stück weit auch recht geschehen sei, wenn man mal ganz ehrlich sei.

In diesem Moment musste ihm gedämmert haben, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Eine unangenehme Stille war entstanden. Und der Lehrer? Jeder andere hätte vermutlich zu einer geschliffenen Gegenrede angesetzt. Er nicht. Er saß einfach nur da und schaute seinen Schüler an. Er schaute ihn an mit einer einzigartigen, nie wieder gesehenen, nicht kopierbaren Mischung aus Gelangweilt- und Angeekeltsein. Dann sah er ein paar Sekunden aus dem Fenster, als erwarte er Hilfe von draußen, danach wandte er sich wieder dem Schüler zu. Jetzt war sein Blick mitleidig geworden, wie als wenn er sagen wollte: "Und diese gequirle Gülle meinen Sie jetzt ernst, oder was?" Sagte er aber nicht. Statt dessen nur: "Ja. Lassen wir das einfach mal so stehen." Und machte weiter mit dem Unterricht als sei nichts geschehen.

Wie bin ich eigentlich darauf gekommen? Ach so, ja, Geschichtslehrer. Dieser Geschichtslehrer schwiff, wie gesagt, gern mal ab vom Thema. (Lesern dieses Blogs nicht völlig unvertraut. Los, Rose, laber nicht rum! Fokus, Fokus, Fokus! Immer dran denken: Maximal ein Gedanke pro Artikel und dann zack, zack, zack! Mehr rafft das dumme Volk nicht. tl:dr, schon mal gehört? So wird nie ein echter Schreiberling aus dir!). Einmal erzählte er vom so genannten Alibikirgisen. Der Alibikirgise war ein Phänomen der stalinistischen Sowjetunion. Der musste, exotisch gewandet und aussehehend, immer mit aufs Foto, um zu demonstrieren, dass die brutal zentralistisch von Moskau aus geführte UdSSR ein toleranter, multikultureller Vielvölkerstaat war, in dem alle freiwillig und in Harmonie miteinander lebten.

An den Alibikirgisen musste ich denken, als ich sah, dass bei den Pegida-Latschern nicht nur Alibitürken reden, sondern auch Alibimigranten Transparente halten dürfen. Wie um zu demonstrieren, dass man ja nichts gegen Migranten habe, sofern sie brav Männchen machen und man auch entgegen anderslautender, von Lügenmedien böswillig aus dem Zusammenhang gerissener Sprüche, bloß aus besorgten Bürgern bestünde.

Und hinterher wieder schön zurück in den Busch, Bimbo! (via Tangsir 2569)
Was den Herrn auf dem Foto umtreibt, ist unbekannt. Was Akif Pirinçci umtreibt, hingegen weniger. Gut, es ist nicht ganz einfach, aus seinen Äußerungen schlau zu werden, aber er hat einen Namen, äußert sich, redet, kommt in der Öffentlichkeit vor. Und da stellt sich mir immer eine Frage: Ist dem Mann wirklich nicht klar, dass er da vorgeschoben wird und zum nützlichen Deppen sich machen lässt von Leuten, unter denen welche sind, die ihn unter anderen Umständen vermutlich sofort zum Teufel jagen würden? Ist ihm nicht bewusst, wie er da den Hausneger macht, den Kapo, für welche, die es am allerliebsten reindeutsch haben und einen wie ihn allenfalls tolerieren, niemals jedoch wirklich akzeptieren werden? Dann ist er entweder wirklich so wenig zur Selbstreflexion fähig wie zu befürchten ist oder er hat tatsächlich einen Schlag schräg und er braucht Hilfe.

Wie die Geschichte mit dem Geschichtslehrer weitergegangen ist? Nun, der kleine Nazi war danach weitaus ruhiger. Am Ende des Jahres verschwand er und niemand hat seitdem wieder etwas gehört von ihm. Unmittelbar nach der denkwürdigen Geschichtsstunde gab es wohl wieder einmal ein paar Beschwerden von besorgten Eltern über den Lehrer, von wegen kommunistische Umtriebe, aber das juckte ihn nicht, weil er's gewohnt war. Auf der Abiturfeier sprach ich ihn auf die Episode an und fragte ihn, wie und wo er gelernt habe, so zu gucken. Ich bekam zur Antwort: "Wissen Sie, ich war auch mal jung. Im richtigen Moment richtig zu gucken, habe ich mir damals von Marlon Brando, Franco Nero und Leonard Cohen abgeschaut. Echte Könner auf dem Gebiet. War eine Menge Arbeit, aber es lohnt sich. Sie müssen nicht alles diskutieren und die Frauen fahren drauf ab. Also üben Sie." Sprach's und ging sich noch ein Bier holen.

Keine Ahnung, ob ein Vorgehen wie das des Geschichtslehrers auch heute noch im Großen funktionieren würde. Er hat uns vorgemacht, wie wirksam es sein kann, wenn man Idioten sich einfach selbst um Kopf und Kragen reden lässt. Allerdings war der einsame Neonazi damals sich vermutlich bewusst, dass er krass in der Minderheit war. Das ist in Zeiten, in denen Minderheiten sich in ihren sozialen Filterbubbles versichern, die eigentliche Mehrheit zu sein, natürlich anders. Und wenn die Klügeren immer nur nachgeben, regieren am Ende die Dummen. Trotzdem muss ich in letzter Zeit häufiger an diese Geschichte denken.

Apropos Pirinçci: Nach dem Abitur habe ich übrigens, ich gestehe es, freiwillig 'Felidae' gelesen. Wie es dazu kam, das ist eine andere Geschichte. Und jetzt raus vor die Tür, in den Indian Summer. Ich liebe es!





(Der erste, der rumnölt, was für eine doofe Erfindung Handykameras seien, fängt eine.)



6 Kommentare :

  1. Die Geschichte mit dem Geschichtslehrer gefällt mir ja sehr gut, denn mein Geschichtslehrer war das exakte Gegenteil und ich hatte immer das Gefühl, alle Geschichtslehrer wären im Grunde so. Bei meinem hatte ich gelernt, man könne ruhig "Hitler sei ein großer Staatsmann gewesen" sagen, in indirekter Rede könne einem da keiner was. Und daß "Nazis haben KZs gebaut" in einer Prüfung als falsch zu gelten hat, denn nicht alle Nazis haben KZs gebaut, sondern nur manche, da müsse man schon differenzieren, nur "die Roten" täten das nie. Und wir haben gelernt, daß Danzig eine deutsche Stadt ist (nicht "sei"), die gerade nur in Polen liegt. Die gutbürgerlichen Eltern hat's, anders als ein Kommunistenlehrer, nie gestört. Sicher, so richtig gut fanden die das alles auch wieder nicht. Aber es war nun mal eine Kleinstadt und da will man keinen Ärger, also laß ihn mal reden... Nur einmal schlug er über die Stränge, als er eine neue Klasse übernommen hatte, die Namensliste vorlas und bei einem undeutschen Namen laut vor der Klasse sagte "Ah, da haben wir wieder jemanden, der so tut, als könne er Deutsch". Da gab es etwas Gemurre, aber nach einer zerknirschten Entschuldigung war auch diese Sache wieder erledigt.
    Doch, ich in wirklich froh, daß es auch andere Geschichtslehrer gibt. Manchmal habe ich sogar den Verdacht, daß einzelne Autoren von Blogs, die ich gerne lese, einen lehrenden Hintergrund haben! Vielleicht mache ich irgendwann im Alter doch noch meinen Frieden mit der lehrenden Zunft! ;)

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    1. Insgesamt hatte ich wochl damals ziemliches Glück mit meiner Schule und den Lehrern. Son richtig alten Nazi gabs nicht, so weit ich mich erinnere. Der Direx hatte Ende der Sechziger mit einem ganzen Rutsch von Kollegen dort angefangen, die eine volle Ladung Reformpädagogik inhaliert hatten und zogen die reformierte Oberstufe als eine Art Work in Progress auf. Hatte sich wohl bis in die Achtziger gehalten. Ich selbst habe übrigens keinen Grund und kein beruflich begründetes Interesse, das Image der deutschen Lehrerschaft aufzupolieren.

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  2. »Sie müssen nicht alles diskutieren und die Frauen fahren drauf ab. Also üben Sie!«
    Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Die Reaktion, dieser Typus und solche Situationen. Aber ich glaube, das war früher. Nicht, daß der Pauker nicht vollkommen recht hätte, aber das funktioniert heute vermutlich nicht mehr.
    Warum nicht? Es gab einmal eine Zeit, in der ein Sebastian Haffner im Fernsehen sprach, sogar eine eigene Sendung hatte. Oder ein Heinrich Böll in den Nachrichten zitiert wurde. Da hörte man erst einmal zu und das hatte nicht den Status eines »Experten«, den die Tagesschau einfliegen läßt und von dem niemand etwas weder zuvor noch danach gehört hat.
    Eine Macht des Wortes, die sich unter anderem auch dadurch auszeichnet, mit jemandem nicht zu reden oder über das, was jener behauptet.

    Da hat es eine Verschiebung der Aufmerksamkeitsschwelle gegeben, in der Kommunikation nur noch dann zu funktionieren scheint, wenn das Geräusch oberhalb eines bestimmten Pegels liegt.

    Experte? Eine Kunstfigur, die jeden noch so komplizierten Sachverhalt in 45 Sekunden knackig auflösen kann. Ein schönes Beispiel lieferte der Historiker Norbert Frei in seinem Blitzauftritt als Experte, als er die Pegida-Mitläufer als »Problembürger« titulierte.
    Hätte er doch lieber nichts gesagt!

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    1. Interessanter Hinweis darauf, welche Kaliber damals medial präsent waren, da hat die Einführung des Privatfernsehens ganze Arbeit geleistet. Die, die heute wirklich was zu sagen hätten, sind vermutlich nicht telegen genug oder weigern sich, komplizierte Sachverhalte in 45 Sekunden knackig aufzulösen, also finden sie nicht statt.
      Interessant aber doch auch, wie Butz Lachmann, der sicher kein Nazi bzw. Faschist ist, wenngleich er ein auffälliges Faible für entsprechende Rhetorik hegt, sich offenbar motiviert fühlt, seinen Mitlatschern jedes Mal heftigere verbale Kicks zu liefern und er sich dabei tatsächlich ohne fremdes Zutun langsam in Richtung StGB zu bewegen scheint. Mal gucken, wen er als nächstes mit wem vergleicht.

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  3. Schreib bitte nicht "Butz Lachmann". Da könnte man an Käthe Lachmann denken. Die aber hat mit dem Typen nichts, aber sowas von überhaupt gar nichts gemein, und verdient es nicht, daß man an sie denkt, wenn doch dieser Haufen Pegidiotenkotze gemeint ist.

    Ich weiß nicht, wie man den Typen besser nennen soll, vielleicht den "Pirincci-Ausredenlasser"? Denn das hat er ja fast 'ne halbe Stunde lang getan, obwohl bereits nach drei Minuten klar war, was abgeht.
    Den Chef-Pegidioten vielleicht?

    Buchstabenspielereien jedenfalls sind viel zu nett, als daß es dieser - ja, dieser Haufen Pegidiotenkotze verdient hätte. Deshalb auch nicht "Batz Luchmann". Wäre viel zu freundlich.

    Oh, ich hatte übrigens auch anständige Lehrer. Aber das dürfte einfach an der Zeit gelegen haben - Kreuzberg, vor über dreißig Jahren.

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  4. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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