Mittwoch, 30. Dezember 2015

Was noch war


So denn, das wär's beinahe schon wieder mit 2015. Und, war noch was? Weihnachten war. Das bedeutet für mich, wie für viele andere, sich mit der lieben Verwandtschaft auseinandersetzen zu müssen bzw. mit zusammensitzen müssen. Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal klar, dass ich es mit meiner bzw. mit dem Teil, mit dem ich Teile des ersten Weihnachtstages verbracht habe, vergleichsweise wirklich gut getroffen habe und mich nicht beklagen darf. Andere haben diesbezüglich weit tiefer ins Klo gegriffen und hatten an den Feiertagen daher echte Prüfungen durchzustehen. Ich bewundere deren Gelassenheit.

Wäre ich nämlich mit einer Verwandtschaft wie dieser geschlagen, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass ich, obgleich seit langem agnostisch unterwegs, in etwa folgendes Gebet gen Himmel gesandt hätte: "Okay, Mâitre, du hast lang nix mehr gehört von mir, ich weiß. Aber könntest du dem Elend bitte jetzt mit so einem sauber platzierten 16-Tonnen-Gewicht wie damals bei Monty Python ein Ende bereiten? Ach, und würdest du bitte freundlichst das Kind verschonen? Danke. Zur Not, täte es auch ein professionell arbeitender Auftragskiller, der mich aus diesem Jammertal befreite. Mit Schalldämpfer wäre nett. Ach so, amen sagt man in eurer Firma, glaube ich."

Apropos Gnosis. Es gab weitere Zeichen der Hoffnung. Da war zum Beispiel dieser glühende Helene-Fischer-Fan, der mir seit Jahren mit seiner unreflektierten Schwärmerei für die singende Sagrotanflasche in den geschundenen Ohren liegt. Am zweiten Feiertag bekannte er mir gegenüber erstmals, mit der allgegenwärtigen Weihnachts-CD und den entsprechenden Fernsehsendungen stelle sich auch bei ihm langsam ein gewisser Überdruss ein und der Hype begänne auch ihm allmählich auf die Nüsse zu gehen. Ehrlich: Gibt es am Ende doch einen Gott? Zumindest scheint es so was wie Gerechtigkeit zu geben.

Dann war da wieder was, das mich jedes Jahr mehr nervt. Die Verdichtung von Terminen in der Zeit, die gemeinhin 'zwischen den Jahren' genannt wird. Zur Einstimmung aufs Thema vielleicht eine kleine Abschweifung:

Zwischen Heiligabend und Dreikönig liegen die so genannten Rauhnächte, eine Zeit, der guten und der bösen Geister. Alter Volksglaube wollte es, dass man früher in diesen Nächten das Haus nicht verließ, sich still verhielt und vor allem keine weiße Wäsche sichtbar auf der Leine hängen hatte, denn das konnte die 'Wilde Jagd' anlocken. Die fegte in den Rauhnächten über den Himmel und wer nicht muksch war, den kam sie holen. Vor allem Frischfleisch in Form jungfräulicher Töchter des Hauses war begehrt. Allein mit Böllern und Peitschenknall, etwa in der Silvesternacht, hatte man eine Chance, die Geister zu vertreiben oder wenigstens auf Distanz zu halten.

Eine Folge davon war, dass das Leben in ländlichen Gegenden, in denen Reste heidnischen Brauchtums zum Teil noch heute nachwirken, bis ins 20. Jahrhundert in der Zeit 'zwischen den Jahren' quasi zum Stillstand kam und nur das Allernötigste erledigt wurde. Daher hat sich vermutlich der Brauch erhalten, diese Zeit vor allem damit zu verbringen, auszuruhen, das Jahr still ausklingen zu lassen und insgesamt einen Gang herunterzuschalten. Zu dem Geisterglauben kann man ja stehen wie man will, aber im Ergebnis ist das eine nette Idee.

Stopp! Es wäre eine nette Idee, wenn, ja wenn wie üblich Gevatter Mitmensch nicht wäre. Vor allem im Aggregatzustand des Gestressten Alten FreundesTM. Der Gestresste Alte Freund hat das gesamte restliche Jahr über, 51,5 Wochen, 360 Tage plus/minus x so gewaltig zu tun, ist beruflich wie privat so eingespannt und so irre wichtig, dass es ihm völlig unmöglich ist, auch nur für ein Stündchen mal einen Kaffee oder ein Bier trinken zu gehen. Du, ist grad' ganz schlecht, musst du verstehen, du. Nur 'zwischen den Jahren', wenn auch einige der ärgsten Ausbeuterklitschen, die ausschließlich klinische Workaholics und prekäre Selbstausbeuter beschäftigen, ihre Leibeigenen doch mal ein paar Tage auf Urlaub schicken, da kommen sie angeschissen, und zwar alle wie sie da sind. Vermutlich ob des Horror vacui, der sich einstellt bei ihnen, wenn sie mal einen Tag lang nicht am Rad drehen. Und jedes Jahr werden es mehr.

Listen, Love: Freunde sind was Tolles, echt. Rangieren auf meiner persönlichen Liste wirklich wichtiger Dinge im Leben im unteren einstelligen Bereich. Aber, liebe Gestresste Alte Freunde: Würde ich allen zusagen, die mich fragen, ob man 'zwischen den Jahren' mal wieder was unternehmen könnte, so wie in alten Zeiten, weil ihr ja nur noch dann Zeit habt, und würde ich auf jeder dieser Veranstaltungen jeweils nur ein kleines Bier trinken, dann müsste ich nicht nur vorübergehend eine Sekretärin anstellen, die meine Termine organisiert, sondern müsste mir hinterher auch ernsthafte Sorgen um meine Leberwerte machen. Bitte also, eventuelle Absagen nicht persönlich zu nehmen. Bitte auch, folgendes zu bedenken:

Ihr vergesst Geburtstage, ihr ruft nicht an und auch nicht zurück, ihr beantwortet weder Mails noch andere Nachrichten und habt auch sonst nichts mehr am Hut mit einem. Weil ihr so im Stress seid. Weil ihr Häuser abbezahlen, Autos finanzieren, Familien ernähren, Kinder unterhalten, Ex-Frauen alimentieren müsst und was weiß ich. Und weil ihr auch eure spärliche Freizeit noch bis zum Anschlag mit dem übertakten müsst, was ihr sinnvolle Aktivitäten nennt. Biken. Walken. Trekking. Trainieren für Marathon oder Triathlon. Yoga. Tai Chi (Gesundheit!). Daran, euch zu bitten, einem bei was zur Hand zu gehen, so wie früher, sollte man gar nicht erst denken. Damals kannte man sich und half sich, heute habt ihr Rücken. Oder Kreislauf. Oder die Erbtante zu Besuch. Ist okay, kann man machen. Alles kann, nichts muss. Auch ich bin da nicht immer ein Engel. Wir werden eben alle älter, Prioritäten verschieben sich und die Welt dreht sich unaufhaltsam weiter, machste nix. 

Es ist halt nur ein klein bisschen nervig, dass euch immer nach Weihnachten, wenn die Gans noch schwer im Magen liegt, der Lichterglanz verloschen ist, fahles Tageslicht die festliche Stube trist erhellt und ihr einmal im Jahr ein wenig runterkommt, ganz plötzlich einfällt, wie wichtig Freunde doch sind. Und dass ihr dann meint, die hätten gefälligst Gewehr bei Fuß zu stehen, mit euch etwas zu unternehmen. Und dass ihr dann menschlich schwer enttäuscht seid von einem, wenn man euch abzusagen wagt und Vorträge haltet darüber, dass man Freundschaften auch mal pflegen müsste und überhaupt, man sähe sich doch so selten. Na, findet ihr den Fehler auf dem Bild?

Sonst noch was? Ach ja, nun hat es Lemmy also doch erwischt. Den scheinbar Unverwüstlichen, der zum Frühstück gern eine halbe Flasche Jack Daniel's und eine Schachtel Marlboro nahm, dessen Lunge und Leber daher aus rostfreiem Stahl zu bestehen schienen. Jetzt ist der Krebs, Freund Heins schärfste Waffe, doch stärker gewesen. Nee, kein Geschwalle mehr, hätt er nicht gewollt. Nur so viel: Mit Lemmy als letztem Mohikaner hat am 28. Dezember 2015 wohl auch die Rockmusik als Gegenkultur nach langem Siechtum endgültig die Bühne verlassen. Traurig.

Noch was? Der Klimawandel scheint so langsam Fahrt aufzunehmen und die FIFA ist offenbar doch nicht ganz so doof wie sie im Moment dasteht. Irgendwie muss der korrupte Gerontenclub geahnt haben, dass es absolut kein Problem werden wird, im tiefsten Winter zur besten Weihnachtsmarkt-Saison eine Fußball-WM zu veranstalten. Respekt!

Und zu guter Letzt mein persönliches Wort des Jahres 2015, ganz frisch eingetroffen:

Mampfkramkette mit Design

Schöner lässt das ganze Elend gegenwärtigen Gastronomieunwesens sich nicht auf den Punkt bringen. Ein Hoch auf den namenlosen Frankforter, der keine Wurst ist und daher auch nicht wegmuss.

In diesem Sinne allen einen guten Rutsch!



4 Kommentare :

  1. "Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal klar, dass ich es mit meiner bzw. mit dem Teil, mit dem ich Teile des ersten Weihnachtstages verbracht habe, vergleichsweise wirklich gut getroffen habe und mich nicht beklagen darf. Andere haben diesbezüglich weit tiefer ins Klo gegriffen und hatten an den Feiertagen daher echte Prüfungen durchzustehen. Ich bewundere deren Gelassenheit."

    Nachdem ich jahrelang es ähnlich ertragen musste, wie der werte Charlie, habe ich mich von meiner "Herkunfsfamilie" im weitestgehenden Sinne weihnachtlich getrennt. Hinzu kamen weitere Sachverhalte. Seit einigen Jahren lebt es sich nun in der eigenen Familie deutlich menschenfreundlicher, wärmer und empathischer. Darüber bin ich sehr froh. Frohes Fest...ach nein...einen guten Rutsch! Mööp.

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  2. Kann mich nur anschließen,Charlie muss auf unserer Familienweihnachtsfeier gewesen sein.Jedes Jahr der selbe Sch.....Heilig Abend habe ich mich schon vor Jahren ausgeklinkt(früher mit Arbeit,dann mit Weihnachtsparty mit Freunden,heutzutage nur noch mit netten Essen bei der Familie meines Patenkindes)"Verlockungen" seitens der Familie (Du bist doch so allein) auch Heilig Abend mit denen zu feiern blocke ich gerne mit brutaler Ehrlichkeit ab.Es reicht 1 Weihnachten das obligatorische Fressen mit Patchworkfamilie meines Vaters durchzustehen.Dank des neuen Thema´s Flüchtlingspolitik frage ich mich,ob ich nächstes Jahr nicht lieber mit ein paar Flüchtlingen feier.Das käme dem Thema Christus ist geboren näher.

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  3. Noch ein kleiner Nachtrag zum betroffenen Mittelstand.Ich habe einigen meiner "Freunde"(denen es jaaaa soooo schlecht geht....und denen ja Flüchtlinge die Butter vom Brot nimmt) ein kleines Buch geschenkt:Krieg: Stell dir vor, er wäre hier.
    Ob es was bringt,ich weiß es nicht.Aber wenn von den 15 Beschenkten nur 2-3 ans umdenken kommen,empfinde ich es schon als schönen Erfolg.Meine beiden Elternteile sind schon mal nicht drunter.Als Generation,die als kleine Kinder selbst Kriegsgreuel miterlebt haben ,finde ich es besonders traurig.
    Stefan Rose,Sie haben es auch mit "Freunden",die nur 1x im Jahr angeschissen(ja das Wort muss heute ausgeschrieben werden)kommen auf den Punkt gebracht.Ich lese Ihren Blog,und es meldet sich eine "Freundin" per Whatsapp.Sie wäre gerade ein paar km von mir entfernt,will mal vorbeischauen,meine neue Wohnung sehen(in der ich seid 10!!!!! Jahren schon wohne)und ein Käffchen trinken.Kuchen wollte sie mitbringen^^An meiner doch recht kühlen Reaktion muss sie wohl gemerkt haben,dass sie sich wohl für nachmittags woanders einzecken durfte.
    So jetzt aber Schluss mit jammern^^
    Herr Rose,ich wünsche Ihnen ein phantastisches Jahr 2016.Mögen Ihnen nie die Themen ausgehen,sie immer weiterhin so gut dem Leben einen Spiegel vorhalten.Vor allem wünsche ich Ihnen viele,viele Leser.

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    1. Vielen Dank. Ich sollte aber erwähnen, dass ich das Phänomen natürlich auch ein wenig zugespitzt habe.

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